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Der Rabe, der anders war

Der bunte Rabe saß auf seinem gewohnten Ast und half der Sonne beim Untergehen. Da merkte er zum ersten Mal, daß die Raben links von ihm und rechts von ihm ein Stück weggerückt waren. "Was ist?" fragte er. "Riech´ ich aus dem Schnabel? Oder bin ich wem auf die Schwanzfedern getreten?" Die Raben schauten einander vielsagend an. Aber sie sagten nichts. Ein Schuß schreckte den Schwarm der Raben aus dem Mittagsschlaf. Verstört flatterten sie auf und suchten sich einen anderen Baum. Niemand war getroffen, aber sie erholten sich nur langsam von dem Schreck.

"Der Bunte war´s", sagte einer der Raben. "Ihm haben wir das zu verdanken. Er ist zu auffällig." Es dauerte nicht lange, da saß der bunte Rabe rabenseelenallein auf seinem Ast. Seine bunten Federn leuchteten im Grau des Novembertags. Das war ihm äußerst peinlich. Und er versuchte, wenigstens unauffällig dreinzuschaun. Da landete Romuald, der Oberrabe, neben ihm. "Ähem", räusperte er sich. Der bunte Rabe schreckte aus seinen trüben Gedanken. "Wir haben nichts gegen dich", sagte Romuald. "Nur - du paßt nicht zu uns." "Was soll ich tun?" fragte der bunte Rabe. "Ich bin bunt. Na und?" "Dann muß ich deutlicher werden", krächzte Romuald. "Du sollst die Federn schwingen. Zügig abschwirren. Den Flattermann machen." "Aber wohin?" fragte der bunte Rabe. "Das fällt unter alles", war die Antwort. "Und um alles kann man sich nicht kümmern." Wortlos breitete der bunte Rabe die Flügel aus und nahm Kurs auf irgendwo. Als er müde wurde, landete er auf einem Dach. "Grügrügrüß Sie", sagte eine Taube zu ihm. "Sie wollen doch hoffentlich nicht bleiben?"

"Ist es, weil ich anders bin als ihr?" fragte der bunte Rabe. "Aber wo denken Sie hin!" gurrte die Taube herzlich. "Keine Spururur! Nur leider - das Dach ist voll."

"Aber - - -", der bunte Rabe schaute sich um. "Da ist doch noch jede Menge Platz." "Das täuscht", sagte die Taube. Sie klang schon viel weniger herzlich. "An Ihrer Stelle wäre ich weg, wenn die Sicherheitstauben kommen."

Ist auch ganz ungesund, das Leben auf den Dächern, zwischen den qualmenden Schornsteinen, dachte der Rabe. Irgendwo wird man mich schon wollen. Er flog auf die dichten, grünen Wälder zu. So viele Bäume, dachte er. Da wird doch wohl auch einer für mich dabeisein. Er steuerte eine hohe, dichte Fichte an.

"Sind Sie eingeladen?" fragte eine seltsam schnarrende Stimme. "Ich - äh - wo - warum?" fragte der bunte Rabe.

Aus dem Dickicht der Fichtenzweige trat ein streng blickendes Federwesen. "Wer sind Sie?" fragte der bunte Rabe. "Ein Kauz", sagte das Federwesen. "Und Sie?" "Ein Rabe", sagte der bunte Rabe. "Treiben Sie´s nicht zu bunt", mahnte der Kauz. "Wie jeder weiß, sind Raben schwarz." "Drum bin ich ja da", seufzte der bunte Rabe. "Zu Hause will man mich nicht mehr. Kann ich vielleicht diesen schönen, geräumigen Baum mit Ihnen bewohnen?"

"Wissen Sie", sagte der Kauz. "Ich bin ein komischer Kauz. Ich liebe meine Mitvögel. Aber am liebsten liebe ich sie, wenn keiner von ihnen in der Nähe ist. Ausnahmsweise können Sie für eine Nacht bleiben. Vorausgesetzt, Sie knirschen nicht mit den Zähnen." "Ich hab gar keine Zähne", beteuerte der bunte Rabe. "Um so besser", meinte der Kauz.

Noch bevor der komische Kauz erwachte, flog der bunte Rabe weiter. Ein Zaun, voll besetzt mit brüllenden Spatzen, erregte seine Aufmerksamkeit. Spatzen! Das ist es! dachte der bunte Rabe. Die sind fröhlich und gesellig. Genau der richtige Umgang für mich. Er landete etwas abseits, um nicht aufdringlich zu wirken. Im nächsten Augenblick war er von Spatzen umringt. Der Rabe räusperte sich und setzte zu einer Rede an. Einer der Spatzen kam ihm zuvor. "Wann haben wir zuletzt so einen Bunten zerlegt?" fragte er. "Bunt ist Schund!" kreischten einige Spatzen im Chor. "Auf ihn mit Gebrüll!" rief ein anderer. Da zog es der bunte Rabe vor, gar nicht erst mit seiner Rede zu beginnen.

Der bunte Rabe verließ den ungastlichen Spatzenbrüll-Zaun und flog weiter. Immer weiter, bis er ans Meer kam. Schade, daß ich kein Fisch bin, dachte er. Bestimmt hätte das Meer Platz für mich. So groß wie es ist und tief und unendlich. Draußen auf dem Meer sah der Rabe ein Schiff. "Ahoi!" rief der Rabe begeistert. "Ich werde Seerabe." Dem Schiff folgte ein Schwarm silbriger Vögel mit heiseren Rufen. Einige saßen auf der Reling des Schiffes. Der bunte Rabe setzte sich zu ihnen. "Kann ich bei Euch bleiben?" fragte er. "Siehst Du nicht, daß wir der edlen Rasse der Silbrigen angehören?" fragte die Möwe empört. "Das seh´ ich", sagte der bunte Rabe. "Aber ich denke, edel ist man innen, nicht außen." "Typisch, dieses bunte Gesindel", sagte die Möwe. "Wird auch noch frech!"

Ein dichter Nebel senkte sich auf das Meer. Der bunte Rabe hatte keine Angst vor dem Nebel. Wer nicht weiß, wo er hingehört, der kann sich auch nicht verirren. Er breitete die Flügel aus und flog ins dichte Weiß, das ihn bereitwillig aufnahm.

Der bunte Rabe schreckte hoch. "Ich schwirr ja ab! Bin schon weg! Voll im Abflug!" "Und warum?" fragte ein schläfriger Rabe dicht neben ihm. "Wolltet Ihr mich nicht loswerden?" fragte der bunte Rabe verwirrt. Jetzt wachten auch die anderen rings um ihn auf. Er schaute in verständnislose, leicht verschlafene Rabengesichter. "Ächz!" sagte der bunte Rabe. "Wenn Ihr wüßtet, was ich geträumt habe!"

"Erzähl!" sagte einer aus dem Schwarm. "Wir hören gern Schauergeschichten. Besonders, wenn sie nur geträumt sind." Und der bunte Rabe erzählte.

"Jaja", sagte Romuald, der Oberrabe ernst. "So was soll tatsächlich vorkommen."

Betroffene Stille setzte ein. "Aber doch nicht bei uns Raben!" sagte Romuald.

Edith Schreiber-Wicke; Carola Holland


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