Download PDF

Download Word

Materialien zum Ethikunterricht

Prof. Dr. Vallabhbhai J. Patel

Prof. Dr. Vallabhbhai J. Patel wurde 1934 in Indien geboren, hat Zoologie und Medizin studiert. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit in Deutschland operierte er Jahre lang kostenlos mittellose Patienten in Indien. In zahlreichen Vorträgen befasst sich Patel mit philosophischen Themen. Sein Buch

Das Glück liegt diesseits des Todes

(ISBN: 978-3-9813181-0-4, zu beziehen unter http://www.ute-patel-missfeldt.de/shop.html) widmet sich der Notwendigkeit einer  rational begründeten Ethik und dem Glück als Leitmotiv menschlichen Handelns. Der folgende Vortrag ist ein Auszug aus diesem Buch.

V.J. Patel, Schloss Grünau, 86633 Neuburg / Donau
Tel.: 08431/49250

Maßstäbe ethischer Orientierung

 

Die Notwendigkeit einer neuen Ethik

Ist eine neue Ethik und die darauf gegründete neue Morallehre überhaupt notwendig? Besteht ein Bedarf danach? Zur Beantwortung dieser Frage braucht man sich nur die gesellschaftlichen Mißstände anzuschauen. Wird die Gesellschaft und deren Mitglied - das Individuum - mit sich selbst und mit den existierenden Problemen fertig? Erfüllen die moralischen Gesetze, die das Verhalten des Individuums, und, im weiteren Sinne, auch das Verhalten einer kleineren Gruppe innerhalb einer größeren regeln, ihre Aufgabe.

Ein großer Teil der Menschheit lebt in unvorstellbarer Armut und unvorstellbarem Elend. Der andere Teil, der die materiellen Existenzängste überwunden hat, wird von Ängsten anderer Art überschüttet. Von Unsicherheitsgefühlen. bedingt durch die ständig zunehmende Vereinsamung des Einzelnen in einer Gesellschaft, die einem sehr schnellen Strukturwandel unterworfen ist; einem so schnellen Strukturwandel, daß die menschliche Psyche - durch Erziehung und Moral vom vergangenen Jahrtausend geprägt - nicht mithält. Ständig drohende Kriegsgefahr, berufliche Belastung einer Leistungsgesellschaft und sonstige Spannungen in einer Familie und ihrer Umgebung treiben den modernen Menschen an den Rand der Neurose. In der am höchsten entwickelten Industrienation, den USA, blüht das Geschäft der Psychiater und Psychoanalytiker. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß auch Deutschland nicht mehr weit von diesem Zustand entfernt ist. Auf dem Wege der Befreiung aus materiell­-existenziellen Nöten ist die Menschheit in geistigen Notstand geraten.

Und was ist aus der Trost spendenden Religion geworden, die außerdem noch das Monopol der Moral für sich in Anspruch nimmt? Wo ist der Glaube geblieben? Bei den meisten Menschen ist nur das Lippenbekenntnis übrig geblieben. Wer folgt in dieser Gesellschaft, wo derjenige, der die meisten Profite macht, das größte Ansehen genießt, wo die Bischöfe Kriegsgeräte segnen, wo der Papst Aktien in Las Vegas besitzt, noch der biblischen Moral? Es ist höchstens eine Art Sicherheitsglaube geblieben. Man glaubt an Gott, weil es ihn vielleicht doch gibt. Und da ist es nun einmal sicherer, an ihn zu glauben. Außerdem will man in dieser unsicheren Gesellschaft nicht auch noch diesen kleinen Halt verlieren. Eine Alternative dazu gibt es entweder nicht, oder man sieht sie nicht. Man ,,glaubt" nur oberflächlich, und wenn man mit der Frage nach seinem Glauben konfrontiert wird, gibt man dies nicht zu. Man will dann nicht konsequent weiterdenken, sonst könnte man den Glauben ganz verlieren. Nichtsdestoweniger beschäftigt sich das Unterbewußtsein weiter mit der Frage. Dieses zwiespältige Verhalten stürzt einen in die Schizophrenie.

Während ältere Leute einigermaßen damit fertig werden, gelingt dies der Jugend und der Masse der denkenden, intellektuellen Menschen kaum. In der reißenden Strömung klammern sie sich nicht an den Strohhalm ,,Glauben", sondern suchen neue Wege - oder resignieren. Dies findet seinen Ausdruck in den Studentenrevolten und sonstigen Jugendbewegungen, oder auch im zunehmenden Alkohol- und Drogenkonsum.

Die Anzeichen dafür, daß sich zunehmend ein allgemeines Unbehagen ausbreitet, sind unübersehbar. Ebenso deutlich sind die Zeichen, daß man auf der Suche nach neuen Wegen ist.

Vor einigen Jahren schrieb der Soziologe Helmut Schelsky, daß es eine ,,neue Religiosität“ gebe. Sie bestünde aber keineswegs in einer Erneuerung traditioneller Glaubensvorstellungen, wie etwa des Christentums. Schelskys Religiositätsthese - als soziologischer Befund schon seit 1975 längst nicht mehr neu oder gar sensationell - hat inzwischen große Zustimmung erfahren - neuerdings auch in den Vereinigten Staaten. Der Psychoanalytiker Erich Fromm und der Soziologe Daniel Beil haben in ihren Büchern dazu Stellung genommen. Beide sind dann einer Meinung, daß es ohne neue Religiosität für die Menschheit kein Glück geben werde. Es breite sich zur Zeit eine „Genieße den Tag“ - Stimmung aus, ohne jedoch die Menschen glücklicher und die Gesellschaft sicherer oder beständiger zu machen. Obwohl heute mindestens für die Hälfte der Menschen in den Industrieländern die Befriedigung ihres Lustlebens ,,real möglich" sei, würden sie ,,eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen bilden: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig". Fromm schreibt am Ende seines Buches: ,,Unsere einzige Hoffnung ist die Energie spendende Kraft, die von einer neuen Vision ausgeht." Es soll dahingestellt sein, ob die Rettung aus der Misere unbedingt in einer neuen Religiosität liegt. Zusammen mit anderen, wie den Geisteswissenschaftlern Friedrich Heer und Ernst Topitsch, Soziologen wie Raymond Aron und Erwin Scheuch, Reportern wie Kai Hermann und Klaus Mehnert, bringen sie das allgemeine Unbehagen und die Suche nach neuen Wegen zum Ausdruck.

Wie kommt es, daß die moralischen Gesetze, die das gesellschaftliche Leben praktisch Jahrhunderte lang relativ erfolgreich geregelt haben, jetzt versagen? Seit ihrer Entstehung unterliegt die Gemeinschaft der Menschen strukturellen Veränderungen. Sie braucht also ständig neue Gesetze des Zusammenlebens (Verhaltensregeln, Morallehren), die zwangsläufig der Struktur der Gesellschaft angepaßt sein müssen. Die Morallehren sehen notwendigerweise in verschiedenen Gesellschaftsformen verschieden aus. So können nicht alle Morallehren der Steinzeitgesellschaft ihre Gültigkeit in der Eisenzeitgesellschaft und noch weniger 3000 Jahre später in einer Gesellschaft der Neuzeit behalten und umgekehrt. Die Morallehre muß sich der sich ständig verändernden Gesellschaft anpassen, wenn sie weiterhin Gültigkeit haben soll.

Seit der Morgenröte der Menschheit hat sich die Gesellschaft immer wieder geändert, und es bestand immer ein Bedarf für neue Morallehren. So entstanden fortlaufend neue Religionen, die sich mit ihren Morallehren Jahrtausende lang behaupten konnten und sehr viel dazu beitrugen, die Stabilität der Gesellschaft zu bewahren. Letztendlich jedoch machten sie dann wieder neuen Religionen Platz. In der Entwicklung der Menschheit ist in den letzten Jahrzehnten ein wesentlicher Faktor neu hinzugekommen, und zwar das Tempo der wissenschaftlichen Neuentdeckungen, sowie das damit verbundene Tempo des materiellen Fortschrittes, welches seinerseits mit zunehmender Geschwindigkeit strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft nach sich zieht. In der vorindustriellen Gesellschaft änderten sich die Produktionsverhältnisse und die damit verbundenen Lebensumstände kaum. Der Sohn des Schusters wurde Schuster, der eines Bauern wurde Bauer. Die Generationen blieben in einer Ortschaft, wo der Enkel nahezu unter den gleichen Bedingungen lebte wie

der Großvater. Heute ist dies anders. Der Sohn eines Bauern wird nicht unbedingt Bauer, und der Enkel hat nicht die gleichen Lebensbedingungen wie der Großvater. Sogar ein und derselbe Mensch lebt nach 20 Jahren nicht mehr unter den gleichen Bedingungen. So kam es vor, daß sich der Junge, der noch an den Mann im Mond glaubte, seine Illusionen durch die Landung der Menschen auf dem eiskalten, verwüsteten Erdtrabanten zerstören lassen mußte.

Die Gesetze des Zusammenlebens - die Morallehren, die bisher durch die religiösen Institutionen verbreitet und aufrecht erhalten wurden, waren auf die Gesellschaftsform gemünzt, die sich über Jahrtausende hinweg fast nicht änderte. Für eine im Grunde statische Gesellschaft sind weniger elastische Moralgesetze sicherlich geeigneter. So konnten sich die starren Dogmen verschiedener Religionen bisher gut behaupten. Aber die heutige Gesellschaft ist nicht dieselbe wie vor 1900 Jahren. Sie hat sich wesentlich geändert. Und so bröckeln manche dogmatische Moralgebäude der Religionen jetzt ab. In einer neuen Gesellschaft braucht man eine neue Ethik.

Zum Faktum der sich verändernden Gesellschaft sind zwei weitere Faktoren hinzugetreten, die bei der Suche nach einer neuen Ethik wichtig sind, wenn diese von länger anhaltendem Wert sein soll. Nicht nur, daß die Gesellschaft sich jetzt wesentlich geändert hat, sondern das Tempo der Veränderungen hat sich stetig beschleunigt und wird sich in Zukunft noch vervielfachen. Dementsprechend darf die jetzt zu postulierende Morallehre nicht mehr dogmatisch festgelegt sein; sie kann nicht länger Anspruch auf Gültigkeit in alle Ewigkeit erheben.

Der andere Faktor ist die Erkenntnis, daß der heutige Mensch, bedingt durch seine Erziehung in einer liberal-demokratischen Gesellschaft und durch seine ökonomische Unabhängigkeit von der älteren Generation, viel häufiger nach dem „Wieso“ und „Warum" fragt als vor ein paar tausend Jahren. Der Mensch von damals nahm die Antworten und Verordnungen der Autoritäten wie Vater, König, und Bischof hin und akzeptierte sie ohne viele Fragen. Worin man dem heutigen Menschen eine Morallehre vermitteln will, wird die Zuhilfenahme einer Autorität wie z.B. Gott nicht mehr genügen. Insbesondere, da es heutzutage nicht ganz so leicht ist, Wundertaten zu vollbringen, wie anno dazumal.

Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, verlangt die veränderte und sich mit zunehmendem Tempo verändernde Gesellschaft nach neuen Gesetzen, und diese dürfen nur auf einer erklärbaren - einer wissenschaftlichen - Ethik beruhen, nicht auf einer, die ihre Legitimation aus der Berufung auf eine höchste Autorität bezieht: also eine autonome und nicht eine heteronome Ethik.

Ich habe einen Versuch in diese Richtung unternommen und glaube, Antworten auf viele Fragen gefunden zu haben, die in unserem täglichen Leben zwangsläufig entstehen. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang angebracht, wenn ich kurz erzähle, wie ich zur Entwicklung meiner These gekommen bin, um dem Thema eine gewisse personengebundene Aktualität zu verleihen. Wie viele andere, stellte auch ich mir die Frage, was der Sinn des Lebens sei, ohne jedoch eine Antwort darauf zu erhalten. Erst später kam ich darauf, daß man eine richtige Frage stellen muß, wenn man eine richtige Antwort erhalten will. Erst durch die Antwort auf andere Fragen stellte sich heraus, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie ich sie mir stellte, keine richtig gestellte Frage war. Es mag zum jetzigen Zeitpunkt paradox klingen, aber erst durch diese Antworten bekam ich die Antwort auf die Frage nachdem Sinn des Lebens. Allerdings mußte ich vorher den Ursprung der Frage nach dem Sinn des Lebens, analysieren und erfassen.

Bevor ich Ihnen meine These vorstelle, möchte ich zwei Punkte nicht unerwähnt lassen. Ich werde sicherlich diejenigen enttäuschen, die - da ich aus Indien stamme - von mir etwas über indische Mystik und indische Philosophie zu hören erwarten. Zweitens habe ich meine Ausführungen in einer sehr einfachen - nicht philosophischen - Sprache gehalten, da ich der Meinung bin, daß der Wert einer Mitteilung darin besteht, daß sie verstanden wird, und nicht darin, daß sie bei den Zuhörern wegen der geschwollenen und unverständlichen Sprache Respekt gegenüber dem Vortragenden erzeugt. Lassen Sie mich bitte in diesem Zusammenhang ein Beispiel geben. In den für meine These relevanten Passagen bei Kant stieß ich u. a. auf folgenden Satz. Lesen Sie ihn bitte aufmerksam und fragen Sie sich anschließend, ob Sie ihn verstehen.

,,Der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch ein solches zum Versuche denken, gar nicht bestehen."

Damit meint er eigentlich: Gott belohnt irgendwann einmal einen Pflichtgetreuen, indem er ihn obendrein noch glücklich macht. Man versteht nur schwer, was er sagen will, beeindruckt durch den komplizierten Satz sagt man jedoch: ,,Hm, der hat etwas Schlaues gesagt.“ Man sagt; ,,Ich bin wahrscheinlich nicht gelehrt genug, um das zu verstehen."

Oft verbergen sich hinter unklarer und geschwollener Ausdrucksweise Unklarheiten im Denken des Betreffenden. In dem genannten Beispiel könnte durchaus unklares Denken eine Rolle gespielt haben, denn Kant und Hegel waren bekannt für ihre frostige Haltung zum Individuum und dessen Glück. Nach der Darlegung seines kategorischen Imperatives, der ja die Pflicht eines Menschen gegenüber der Gesellschaft betrifft, konnte er das Streben des Individuums nach Glück doch nicht ignorieren und mußte irgendwie Stellung dazu beziehen, wenn es ihm auch nicht paßte. Deshalb versteckte er seine Stellungnahme, die ja in diesem Fall nicht klar und eindeutig sein kann, in schwer zu verstehenden Sätzen. Diese Art der Ausdrucksweise werden Sie in meiner These vermissen. Ich bin mir dessen voll bewußt, daß durch das Fehlen komplizierter Sätze die These sehr einfach erscheint. Ist aber nicht die Wahrheit oft sehr einfach? Wird es nicht auch Zeit, daß die Philosophie, oder die Ethik in diesem Fall, von dem hohen Roß der Unverständlichkeit bzw. angeblicher Verständlichkeit bei wenigen Auserwählten herabsteigt und zum Wohle der Menschheit ein Allgemeingut wird?

Meiner persönlichen Ansicht nach beinhaltet die hier vorgestellte These, wenn sie auch sprachlich einfach erscheint, für denjenigen, der geneigt ist, sich ernsthaft damit zu beschäftigen, weitreichende praktische Konsequenzen.

Der Ausgangspunkt, für die von mir vorgestellte wissenschaftliche Ethik sind die folgenden zwei Fragen:

1. Was ist das Leitmotiv allen menschlichen Tuns?

2. Was ist der ethische Imperativ? Und vor allem warum? Anders ausgedrückt, warum sollte man sich
ethisch einwandfrei verhalten? Oder noch einfacher, warum muß man ,,gut“ sein?

Die Antwort auf die erste Frage liefen uns den Grundstein meiner empirischen Erkenntnis, auf der ein neues ethisches Gebäude - unter Zuhilfenahme der Antwort auf die zweite Frage -aufgebaut wird.

 

Die These

Meine These ist nun, daß die Antworten auf diese Fragen lauten:

1. Das Leitmotiv allen menschlichen Tuns ist der Wunsch, glücklich zu sein.

2. Um glücklich zu sein, muß man „gut“ sein.

Beweisführung für Punkt 2

1. Glücklich sein ist nur in einer gut funktionierenden Gesellschaft möglich.

2. a) Man muß ,,gut" sein, damit die Gesellschaft funktioniert, erhalten bleibt und gedeiht.

b) Alle Taten, die der Erhaltung bzw. dem Gedeihen der Gesellschaft dienen, werden als „gut" bezeichnet.
(Alle Taten, die sich negativ auf das Gedeihen bzw. Funktionieren der Gesellschaft auswirken, werden
als schlecht bezeichnet).

3. Also muß man, um glücklich zu sein, ,,gut“ sein.

 

Wir wollen jetzt die einzelnen Punkte ausführlich behandeln.

Punkt 1: Das Leitmotiv allen menschlichen Tuns ist der Wunsch, glücklich zu sein.

Niemand würde etwas tun wollen, was ihn selbst unglücklich machen würde. Genauer gesagt, niemand würde etwas tun, von dem er glaubt, daß es ihn unglücklich machen würde. Man kann genauso gut sagen, man würde das tun, was einen nach seiner eigenen Ansicht glücklich machen würde.

Es kann sein, daß die Erwartung dann nicht erfüllt wird, und daß man durch eine bestimmte Handlung anstatt glücklich zu sein, gerade Unglück heraufbeschwört. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß er zu dem Zeitpunkt, als er sich entschloß, die Handlung durchzuführen, glaubte, daß diese ihm zu mehr Glück verhelfen würde.

Es besteht keine absolute Grenze zwischen Glücklichsein und Unglücklichsein, vielmehr verhält es sich so, wie unten dargestellt:

Fig. 1

sehr unglücklich unglücklich glücklich sehr glücklich
   7 6 5 4 3 2 1    -0+ 1 2 3 4 5 6 7  
sehr unangenehm unangenehm angenehm sehr angenehm

 

Handlung

Die Handlung eines Menschen wird von dem Wunsch geleitet, sich von links nach rechts zu bewegen. Also wird er, wenn er sehr unglücklich ist, wünschen, weniger unglücklich zu sein.

Es besteht demnach der Wunsch, glücklicher zu werden. Man kann diese These folgendermaßen treffender ausdrücken:

Das Leitmotiv allen menschlichen Tuns ist der Wunsch, glücklicher zu sein. Dabei sind die Begriffe wie ,Glücklichsein", ,,sich wohl befinden" und ,,angenehmer Zustand", Synonyme.

Diese Erkenntnis kann man auch mit jeder beliebigen Handlung eines Menschen belegen:

Warum geht ein Mann ins Kino? Er hofft, dadurch sein Glücksgefühl zu vermehren.

Warum nimmt ein Jugendlicher Marihuana? Weil er damit für eine gewisse Zeitspanne für sich Glück erhofft.
Warum geht ein streng Gläubiger in die Kirche? Weil er durch seine Erziehung und durch seine Mentalität so geformt ist, daß er sich, wenn er dies nicht tun würde, unglücklich fühlt. Oder weil er sich freut, daß durch seine Kirchenbesuche und Gottesgebete seine Chancen auf ein glückliches Leben im Himmel nach seinem Tode steigen.

Es gibt auch paradoxe Beispiele: Ein Mensch spart Geld, um ein Auto kaufen zu können. Also muß er sich finanziell einschränken. Das macht ihn weniger glücklich, aber er hofft, daß er glücklicher sein wird, wenn er das Auto besitzt. Daher glaubt er, daß es sich lohnt, sich für eine überschaubare Zeitspanne kurz zu halten. Er glaubt, summa summarum. daß für ihn aus der ganzen Geschichte eine dauerhaft angenehmere Situation herausspringt.

Warum ,,opfert" eine Mutter so viel vom eigenen Komfort, um die Kinder großzuziehen?

Wenn sie es nicht tun würde, würde sie sich unglücklich fühlen. Ob dieses Tun durch Erziehung oder durch Hormone bedingt ist, ist ein anderer Punkt. Von ,,Opfer" sollte man da nicht viel reden. Allein dies würde schon viel Unglück ersparen.

Einmal wurde mir folgende Frage gestellt:

Das Leitmotiv allen menschlichen Tuns ist nicht immer nur der Wunsch, glücklich zu sein. Man tut zum Beispiel einmal etwas, weil man es für richtig hält. Oberflächlich gesehen kann zunächst der Eindruck entstehen, daß diese Motivation tatsächlich im Widerspruch zu dem ersten Punkt meiner These steht. Im Rahmen der sozialen Integration werden dem Individuum von Kindheit an moralische Verhaltenskodexe eingepaukt: welche Verhaltensweise richtig ist und welche nicht. Sie stehen jetzt vor einer Situation und tun nicht, was Sie für richtig halten. Wie fühlen Sie sich dann? Es ist doch ein unangenehmer Zustand. Und wie fühlen Sie sich, wenn Sie in einer solchen Situation etwas tun, was Sie für richtig halten? Das ist doch sicherlich angenehm. Dies ist genau das, was der erste Punkt der These besagt.

Hier ist ein anderes Beispiel, das zunächst ziemlich paradox erscheint. Warum fügt sich ein Masochist selbst Pein zu? Weil er seine Freude daran hat. Die meisten von uns werden diesen Zustand als ,,nicht normal" bezeichnen. Aber auch in diesem abnormalen Zustand bleibt die erwähnte Motivation bestehen. Außerdem ist der Masochismus in weniger krasser Form häufiger anzutreffen als man glaubt. Es gibt wehleidige Leute, die sich nur wohl fühlen, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Und wenn sie sich einmal wohl fühlen, dann fragen sie sich: ,,Nanu, was ist mit mir los? Irgend etwas stimmt mit mir wohl nicht'." Sie reden sich so lange ein, daß Sie krank sind, bis Sie sich schließlich nicht mehr wohl fühlen. Erst dann sind sie zufrieden.

Nehmen wir ein in der Philosophie oft erwähntes Motiv. Bertrand Russell, den ich als den größten Philosophen des 20. Jahrhunderts betrachte, und der mich auch sehr beeinflußt hat, meint, daß das Streben nach Macht das Leitmotiv des menschlichen Tuns sei. Andere Faktoren ordnete er dem Machtstreben unter. So meint er, daß man Macht durch politische oder wirtschaftliche Herrschaft, aber auch durch Liebe erreichen kann. Letzten Endes sei aber das Streben nach Macht das entscheidende Motiv menschlichen Handelns. Nun frage ich aber weiter: Warum strebt der Mensch die Macht an? Und antworte: Weil er glaubt, durch das Erreichen der Macht glücklicher zu werden.

 

Dies waren Beispiele für bewußtes Handeln. Ich glaube, daß auch das unbewußte Handeln auf Punkt 1 meiner These zurückzuführen ist. Es könnte zum Beispiel eingewandt werden: Wenn ich mit der Hand irgendwo anstoße, ziehe ich sie automatisch zurück. Dies ist eine durch einen bedingten Reflex hervorgerufene Reaktion. Wo paßt hier die Erklärung, diese Aktion sei bedingt durch den Wunsch, glücklicher zu sein? Die Reflexhandlung des Zurückziehens der Hand bewahrt den Betreffenden vor Schmerz, oder hätte ihn davor bewahren sollen.

Die These, das Leitmotiv jeglichen Handelns sei das Streben nach Glück, findet nicht nur beim Homo sapiens ihren Niederschlag, sondern auch bei anderen Lebewesen. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, der ,,Neuen These zur Evolution".

Denken wir anhand einiger Beispiele aus der Tier- und Pflanzenwelt über den ersten Punkt meiner Hauptthese nach.

Aus dem Biologieunterricht ist uns bekannt, wie sich der Pseudotüßler Amoeba, ein Einzellen unter verschiedenen Lebensbedingungen verhält. Das Einzelwesen Amoeba hat die Eigenschaft, sich mit Hilfe der Proturbationen aus dem Endoplasma in die eine oder andere Richtung fortzubewegen. Betrachtet man einen Tropfen Wasser, in dem sich einige Amöben befinden, unter dem Mikroskop, so kann man folgendes feststellen. Erhitzt man den Objektträger an einem Ende langsam, bewegt sich die Amöbe von diesem Ende fort. Gäbe man scharfe Chemikalien an einem Punkt ins Wasser, würde die Amöbe sich auch von diesem Punkt entfernen. Würde man hingegen an einer Stelle Nährstoffe zusetzen, die der Arnöbe zuträglich sind, würde sich das Tierchen in diese Richtung bewegen. Es reagiert so, daß es von einer unangenehmen Situation wie Hitze und Chemikalien wegkommt, aber auch so, daß es in Richtung angenehmer Zustände wandert. Was würde nun passieren, wenn eine Amöbe durch eine Mutation in ihrem Kernmaterial nicht länger vor der unangenehmen Situation flüchtet, sondern sie direkt sucht? Dann würden diese Tierchen aussterben und wären damit für die Evolution uninteressant. Solche Experimente und Beobachtungen lassen sich bei verschiedenen Tieren durchführen.

Nehmen wir ein anderes Beispiel, vielleicht eine Tierfamilie, die in freier Wildbahn lebt. Diese Tiere sind zufrieden und glücklich, wenn sie ausreichend zu Fressen und eine Wasserquelle als Tränke haben, sowie Schutz vor Kälte und Nässe, wo sie vor Raubtieren und Jägern sicher sind und sich fortpflanzen können. Sie werden deshalb, wenn ihr Weidegrund abgebrannt ist, zu einer anderen saftigen Wiese weiterziehen. Sie hüten sich vor Raubtieren und Jägern. Auch sie laufen also, genau wie die Amöbe, vor unangenehmen Situationen weg. Diejenigen, die nicht vor unangenehmen Situationen flohen und nicht angenehme Situationen anstrebten, starben zwangsläufig aus und waren folglich für die Evolution uninteressant. Mit anderen Worten: wer in der langen Geschichte der Evolution erfolgreich ist, sind die Arten, die ihr Handeln darauf ausrichteten, daß sie eine angenehme Situation vorzogen und überlebten. Es ist also eher ein Kampf um ein angenehmeres Leben als ein Kampf ums reine Überleben. Das Überleben ist nur das Ergebnis. Dies nur als kleine Korrektur der Evolutionstheorie.

Ähnliches gilt für das unbewegliche Pflanzenreich. Dabei sollte man nicht aus den Augen verlieren, daß die Unterscheidung zwischen Pflanzen und Tieren keine echte Trennung ist, sondern eine Kategorisierung, die den Menschen hilft, gedanklich einigermaßen Ordnung in die Vielfalt der Lebewesen auf dieser Erde zu bringen. Die Eigenschaften der Beweglichkeit und der Synthese von Nährstoffen mit Hilfe des Chlorophylls, etc. sind in beiden Bereichen vorhanden.

Biologisch gesehen gibt es also keine scharfe Trennung zwischen Pflanzen und Tieren. Nun, wie dem auch sei, auch die Pflanzen ziehen, genauso wie die Tiere, angenehme Situationen vor. Obwohl wir nicht objektiv feststellen können, ob die Pflanzen sich in angenehmeren Situationen ,,glücklichfühlen, wie es vielleicht bei manchen Tieren der Fall ist, weil uns dazu die Antenne fehlt, deutet doch manches darauf hin, daß sie angenehme Situationen bevorzugen. So strecken sich die Baumkronen in die Richtung, die den für Bäume so wichtigen Sonnenschein bringt. Desgleichen wachsen die Wurzeln der Bäume stärker in die Richtung der Wasserquelle. Die Gattungen, denen in der Millionen Jahre langen Evolutionsgeschichte diese Eigenschaften verloren gingen, mußten zwangsläufig, wie auch etliche Tierarten, aussterben. Die Evolution ist also auch bei den Pflanzen eher das Streben nach einem angenehmeren Leben als ein reiner Kampf ums Überleben.

 

Man könnte die Evolutionstheorie vom Standpunkt meiner These aus natürlich noch weiter ausbauen. Diese Betrachtung der Evolution hat auch praktische Bedeutung für manche Fragen, die hier gestellt wurden. So habe ich zum Beispiel die Frage angeschnitten, warum eine Mutter soviel vom eigenen Komfort opfert, um ihre Kinder großzuziehen. Täte sie es nicht, fühlte sie sich sicherlich unglücklich. Ob dieses Handeln durch Erziehung oder Hormone bedingt ist, sei dabei zur Seite gestellt. Komplementär zu diesen beiden Faktoren spielt auch die Evolution eine Rolle; Nehmen wir wieder die Wildtierfamilie als Beispiel. Es ist bekannt, wie rührend die Mutterliebe der Tiere ist, desgleichen bei den Menschen. Jetzt nehmen wir einmal an, daß aufgrund einer Mutation irgendeiner Art das Muttertier ihr Junges ablehnt. Damit wird die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Jungtier überlebt, ausgesprochen gering. Infolgedessen wird diese Art, die genetisch mutiert ist, zwangsläufig aussterben. Es kann nur die Art überleben, die für ihre Jungtiere sorgt. Man braucht nur die Begriffe Jungtier und Muttertier durch Kind und Mutter zu ersetzen, um diese Verhältnisse auf die Menschheit zu übertragen. und man erhält die gleiche Situation. Dann ist in diesem Zusammenhang die Frage nicht mehr, warum sorgt die Mutter für ihre Kinder, sondern, wie es dazu kommt, daß sie es tut. Diese Frage ist neutral und läßt sich auf der Basis der Evolutionstheorie damit beantworten, daß die Arten, die nicht für ihre Nachkomrnenschaft sorgten. nicht überleben konnten, und wir als die Art Mensch nur überlebten. weil wir unter anderem auch für unsere Kinder sorgten.

Damit haben wir einen Bereich angeschnitten, der zwar direkt mit dem Thema nichts zu tun hat, aber trotzdem meines Erachtens nach sehr wichtig ist, wenn wir die These vom Streben nach Glück mit Klarheit der Gedanken diskutieren wollen, und zwar die richtige Fragestellung. Um die richtige Antwort zu bekommen, muß man die richtige Frage stellen. In vielen Fällen, wo wir ,,wie kommt es" fragen sollten, fragen wir statt dessen ,,warum". Auf der Suche nach einer Antwort werden wir dadurch auf eine falsche Fährte gelenkt.

Hier einige Beispiele: Warum haben Blumen so wunderschöne Farben? Warum hat der Mensch einen Blinddarm? Warum hat der menschliche Embryo im Alter von zwei Monaten einen Schwanz, und warum sieht er mit vier Wochen fast genauso aus wie ein Salamanderembryo? Und warum haben beide Kiemen wie ein Fischembryo? Warum hat der Mensch Achselbehaarung? In fünf Kilometer Meerestiefe, wo überhaupt kein Licht vorhanden ist, sind jetzt Lebewesen gefunden worden, die schillernde Farben aufweisen. Warum zeigen sie diese Farben?

Wenn man bei allen diesen Fragen statt ,,warum" ,,wie kommt es" einsetzen würde, bekämen sie einen anderen Sinn. Warum hat der Mensch einen Blinddarm? Wollte man dieser Frage nachgehen, würde man sich wahrscheinlich in den wildesten Spekulationen verlieren. Wenn Sie aber fragen, wie es kommt, daß der Mensch einen Blinddarm hat, werden Sie feststellen -einige Kenntnisse in Biologie und Evolutionslehre vorausgesetzt -, daß diese Frage längst beantwortet ist. Bei einigen frühen Säugetieren war der Blinddarm ein wichtiges Organ, das eine Verdauungsfunktion zu erfüllen hatte. Beim Menschen ist er nach dem Entfallen dieser Funktion verkümmert. Die Extrapolation aus dieser Entwicklung läßt uns annehmen, daß er noch weiter verkümmern wird. Ähnlich lassen sich die anderen Fragen hinsichtlich der Farben der Tiefseetierchen oder der Blumen, und der menschlichen Achselbehaarung behandeln. ,,Wie kommt es“ als wertneutrale Frage veranlaßt uns, eine Antwort auf wissenschaftlicher Basis zu suchen, während ,,warum“ in den erwähnten Fragen lediglich zu Spekulationen und zu metaphysischer Klugschwätzerei führt, wo jeder seinen Senf dazugeben kann.

Nun zurück zu unserem eigentlichen Thema: Verschiedene Leute haben verschiedene Begriffe von Glück. Wie vereinbart sich dies mit dem ersten Punkt meiner These, daß das Leitmotiv allen menschlichen Tuns der Wunsch ist, glücklich zu sein. Ich sehe hierin keinen Widerspruch; im Gegenteil, diese Feststellung kann wesentlich zur Erläuterung dieses Punktes beitragen. Ebenso wie ein Bergsteiger sein Glück findet, wenn er den höchsten Gipfel bezwingt, so ist es für einen Sarmariter ein angenehmes Gefühl, wenn er einem Armen hilft. Sicher freut sich ein Chefkoch, wenn seinen Gästen die Gänseleberpastete schmeckt; und sicher waren die Flüchtlinge aus der DDR glücklicher, als sie mit ihrem Ballon in der BRD landeten. In allen diesen Fällen haben die Leute ganz unterschiedliche Begriffe von Glück, aber die Motivation für die Handlung war immer die gleiche. nämlich der Wunsch, glücklicher zu werden.

So klar und einfach diese Erklärung erscheint, sind manche große Denker im Unvermögen dieser Unterscheidung gestolpert. Kant, den ich als einen gewaltigen Denker respektiere, machte just diesen Fehler. Wenn man bedenkt, welchen Einfluß sein Gedankengut auf die Menschheit hatte und immer noch hat, dann ist die Feststellung dieses Fehlers, meiner Ansicht nach, sehr wichtig; insbesondere, da eine seiner wichtigsten Theorien diesen Irrtum mit einschließt. Er sagt nämlich folgendes: Wir sollen im Leben nicht dem Glück nachjagen, sondern unsere Pflicht tun. Doch wie können wir zuverlässig wissen, was unsere ,,Pflicht" ist? Wie sollen die Prinzipien beschaffen sein, die uns das rechte, pflichtgemäße Handeln verschreiben? Darauf gibt Kant folgende Antwort:

,,Das Glück - also die guten Erfahrungen, die wir machen - kann unmöglich als Grundlage dieser Prinzipien dienen. Denn die Menschen machen unterschiedliche Erfahrungen, die sie darin gut oder schlecht finden. Man kann die Erfahrungen der Menschen nicht auf einen Nenner bringen und daraus Regeln oder Gesetze ableiten, die das Zusammenleben verbessern.“

Hierin sind mehrere Ansatzpunkte und logische Kurzschlüsse vorhanden, die wir jedoch an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren wollen, denn sonst würden wir uns im Detail verlieren. Ich will hier nur zeigen. daß Kant, indem er feststellte, daß die Menschen verschiedene Quellen von Glück (die guten Erfahrungen. wie er sie nennt) haben, Glück nicht als Basis einer ethischen Lehre akzeptierte. Es war ihm anscheinend nicht klar, daß eine Vielzahl von Glücksquellen keinen Widerspruch bedeutet zu dem, was ich „Glückstreben als Leitmotiv des menschlichen Handelns" nenne, und worauf ich meine ethische These aufbaue.

Nun zurück zu Punkt 1. Ich glaube, welches Beispiel man auch nehmen würde, man wird immer zu der Schlußfolgerung kommen, daß das Leitmotiv jeder Handlung der Wunsch ist, glücklicher zu sein. Dabei möchte ich noch einmal betonen, daß Begriffe wie ,,glücklich sein", ,,sich wohl fühlen" und ,,angenehmer Zustand" als Synonyme betrachtet werden können.

Ich gebe zu, daß der Übergang von der empirischen Feststellung ,,der Mensch möchte glücklich sein“ zu dem normativen Prinzip ,,der Mensch sollte glücklich sein" einige Schwachpunkte aufweist, wenn man die Sache rein vom methodischen Standpunkt aus betrachtet. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, daß es unvernünftig oder unlogisch ist, diesen Übergang zu vollziehen. Solange ein Mensch - während er versucht, glücklich zu werden - keinem anderen schadet, gibt es keinen Grund, warum er sich nicht so verhalten sollte. Anders ausgedrückt, ,,solange ich niemandem schade, niemandem weh tue und dabei mein Gesamtglück vermehre, kann ich tun und lassen, was ich will."

Es könnte der Eindruck entstehen, daß, wenn diese These stimmt und alle Menschen so egoistisch sind, daß sie im Grunde genommen nur für das eigene Glück arbeiten, die Welt zusammenbrechen müßte. Daß dies nicht so ist, sondern gerade das Gegenteil zutrifft; daß gerade durch diese Erkenntnis manche Schwierigkeiten in der Welt beseitigt werden können, hoffe ich mit dem zweiten Punkt, den ich im folgenden ausführlich behandeln werde, zu beweisen.

 

Punkt 2: Um glückIich zu sein. muß man „gut" sein.

Alle Taten, die der Erhaltung bzw. dem Gedeihen der Gesellschaft dienen, werden als „gut" bezeichnet. Alle Taten, die sich negativ auf das Gedeihen, das Funktionieren und die Erhaltung der Gesellschaft auswirken, werden als schlecht bezeichnet.

Werfen wir dazu zunächst einen Blick zurück in die Geschichte der Menschheit.

Die Gründung der Gesellschaft in Urzeiten

Die Grundregeln des Verhaltens eines Individuums innerhalb einer Gemeinschaft und deren Deutung lassen sich in einer primitiven Gemeinschaft - hier ist primitiv im anthropologischen Sinn gemeint - am leichtesten analysieren. Wie war das Leben des Urmenschen in der Zeit der Morgenröte der Menschheit? Das Leben sah alles andere als rosig aus. Es war ein ständiger Kampf um das Dasein. Für den Urmenschen war die Beschaffung von Nahrung und Schutz vor Witterungseinflüssen und feindlichen Wesen - seien es Raubtiere oder Artgenossen von einem feindlich gesinnten Nachbarstamm - die Hauptbeschäftigung. Welche Vor- und Nachteile brachte ihm das Leben in einer Gemeinschaft? Es brachte zunächst eine Arbeitsteilung für die Beteiligten. Die kräftigen und gesunden Männer gingen auf die Jagd, die Frauen machten Heimarbeit und die weisen alten Männer kümmern sich um das Funktionieren der Gemeinschaft. Aber das Leben in der Gemeinschaft brachte auch eine Einschränkung der individuellen Freiheit mit sich. Dieser Nachteil war jedoch gering, verglichen mit den Vorteilen des gemeinschaftlichen Lebens, so daß der primitive Mensch es vorzog, in der Gesellschaft zu leben, die ihm Unterstützung bot - ansonsten wäre die Gemeinschaft längst zusammengebrochen. Die Einschränkungen individueller Freiheit waren solcher Art, daß der Gesellschaft kein Schaden zugefügt werden konnte, damit sie erhalten bleibt, funktioniert und sich weiterentwickelt. Diejenigen Handlungen, die dem Erhalt und Gedeihen dieser Gemeinschaft dienten, wurden demnach als ,,gut" bezeichnet.

Je komplizierter die Gesellschaft wurde, um so mehr wurde die Liste der guten Taten erweitert. Beispiele dafür sind: Opfer an den Regengott, tägliche Gebete in der Kirche und vieles mehr. Aber immer steckte der Glaube dahinter - wenn auch oft zu Unrecht -, daß diese ,,guten“ Taten für den Menschen und die Gesellschaft im Ganzen nützlich seien. Wie weit und wie unsinnig manchmal der Begriff ,gut" in manchen Gesellschaftsformen auch erweitert worden sein mag, so steht dies doch in keinem Widerspruch zu der These, daß ,,alle Taten, die der Erhaltung der Gesellschaft dienten und dienen, wurden und werden als ,,gut" bezeichnet. Das heißt, man muß ,,gut" sein, damit die Gesellschaft funktioniert.

Glücklich sein ist nur in einer auf fünktionierenden Gesellschaft möglich

Der primitive Mensch zog das Leben in einer Gruppe vor, um glücklicher zu sein. Es war also nur in der Gemeinschaft, einer reibungslos fünktionierenden Gemeinschaft, möglich, glücklich zu sein. Eine Gesellschaftsform, die nicht gut funktionierte, in der zum Beispiel Mord und Diebstahl an der Tagesordunng waren, wo die Menschen sich also nicht ,,gut" benahmen, konnte seinen Mitgliedern kein Glück bescheren. Nur in einer Gesellschaft, in der die Leute auch ,,gut" waren, in der jeder die Nachbarskinder mit versorgte und sie nicht etwa mißhandelte oder gar verspeiste, war ein glückliches Leben möglich. Man mußte also moralisch ,,gut" sein, um glücklich sein zu können. Diese These hat in jeder Art von Gesellschaft ihre Gültigkeit, sei es nun eine einfache oder komplizierte Form der Gemeinschaft.

Wir haben bisher folgendes festgestellt: Man soll so handeln, wie es im Interesse der

Gemeinschaft ist. Eine interessante Nebenfrage ist dabei, welche Gemeinschaft hier gemeint ist. Was für eine in sich geschlossene Gemeinschaft gut ist. muß für eine andere nicht gleichermaßen gut sein. Wonach muß sich dann eine Handlung richten, wenn lnteressen zweier gegensätzlicher Gemeinschaften betroffen sind?

Um diese Frage beantworten zu können, muß man die Angelegenheit differenzierter betrachten. Zuerst müssen wir feststellen, daß ein Individuum gleichzeitig mehreren Gemeinschaften angehört. Die Anzahl und Art der Gemeinschaften, die für eine Handlung von Belang sind, sind von der spezifischen Fragestellung abhängig. Wird zum Beispiel innerhalb einer Familie diskutiert, um wieviel Uhr man zu Abend essen sollte, ist hier die Familiengemeinschaft relevant. Wenn es darum geht, ob in einer Stadt Jugendzentren gebaut werden sollen, ist in erster Linie die Stadtgemeinschaft betroffen. Wenn es um Krieg und Frieden oder einen Boykott der olympischen Spiele und deren Folgen geht, dann ist die globale Gemeinschaft angesprochen.

Zur weiteren Differenzierung müssen wir festhalten, daß bei einer zur Debatte stehenden Frage mehrere Gemeinschaften betroffen sein können. So sind zum Beispiel, wenn es um Steuerfragen geht, die Gemeinschaften von Stadt, Land und Bund relevant.

Es können zwar bei einer Frage mehrere Gemeinschaften betroffen sein, aber in sehr unterschiedlichem Maße. Wenn zum Beispiel zur Frage steht, ob lndustrieabwässer mittels einer Pipeline in die Nordsee bei Dorum abgeleitet werden sollen, so ist die Dorfgemeinschaft von Dorum stärker davon betroffen als der Landkreis Wesermünde. Die gleiche Betrachtungsweise kann man auch auf die Debatte um den Bau des Altmühlkanals anwenden.

Solange die Interessen mehrerer Gemeinschaften in die gleiche Richtung gehen, ist die Verhaltensweise eines Individuums leichter festzulegen. Probleme entstehen aber dann, wenn die Interessen zweier Gemeinschaften im Widerspruch zueinander stehen. Nehmen wir als Beispiel eine kleine, reiche Familiengemeinschaft, die mehrere Fabriken besitzt. Die Fabriken geben tonnenweise Cadmium und Blei in Form von Abgasen und Abwasser ab. Diese Umweltverschmutzung ist für die der Familie übergeordnete Gemeinschaft, in der die kleinere Familiengemeinschaft schließlich lebt, nicht unschädlich. Die Familie möchte natürlich aus finanziellen Gründen die - für sie unproduktiven - Investitionen zur Verminderung des Schadstoffausstoßes nicht durchführen. Die Gemeinschaft der Anlieger und des Umlandes hingegen haben berechtigte Sorgen um ihre Gesundheit, so daß sie alles daran setzen müssen, die Schadstoffemissionen zu stoppen. Daraus läßt sich folgendes Prinzip ableiten: Wenn die einander zuwiderlaufenden Interessen zweier Gemeinschaften betroffen sind, haben die Interessen der übergeordneten Gemeinschaft den Vorrang.

Aus dieser Sicht heraus hat Nationalismus einen positiven Charakter, wenn er dem Provinzialismus gegenübergestellt wird, aber einen negativen wenn man ihn den internationalen Interessen bzw. der globalen Gemeinschaft gegenübersteht.

Das Verhältnis einer kleineren Gemeinschaft zu der übergeordneten ist im Prinzip nicht anders als das Verhältnis des Individuums zu der Gemeinschaft überhaupt. Deswegen kommen hier die gleichen Prinzipien zur Geltung, die die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft regeln.

Wenn eine Gesellschaft gut funktioniert, heißt dies noch lange nicht, daß der Mensch glücklich sein muß. Aber für das glückliche Leben ist eine gut funktionierende Gesellschaft die Voraussetzung. Um dies näher zu erörtern, müssen wir auf die Ursachen des Glücks und Unglücks eingehen.

Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit den Ursachen des Unglücks. Sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die abwendbaren und die unabwendbaren.

Welche Ursachen gelten nun als abwendbar? Beispiele dafür sind Hunger, Durst, manche Krankheiten, Krieg, Mord, Armut - um nur einige zu nennen. Wenden wir uns diesen Ursachen also zuerst zu. Die Welt ist im technologischen Zeitalter immer kleiner geworden und diese Entwicklung wird sich noch weiter fortsetzen. Solange die verschiedenen Gesellschaften voneinander isoliert waren, bedeutete eine Katastrophe, die der einen Gesellschaft widerfuhr, für eine andere, die ja womöglich von der Existenz der ersten gar nichts wußte, überhaupt nichts. So konnte es zum Beispiel in vergangener Zeit durchaus vorkommen, daß unter einem Teil der Bevölkerung die Schwindsucht wütete, während ein anderer Teil, der vielleicht 100 oder 200 km entfernt lebte, von dieser Krankheit nichts merkte. Die Integration verschiedener Gesellschaften schritt jedoch fort, und heute ist selbst etwas, das in weiter Ferne geschieht, immer von Bedeutung für die anderen, wo immer sie sich auch befinden mögen.

Nehmen wir ein Beispiel: Plötzlich bricht in einem Entwicklungsland eine Seuche wie die Cholera oder der Ebola-Virus aus. Durch die besseren Verkehrsanbindungen und kürzeren Reisezeiten kann diese Seuche, falls sie nicht schnell eingedämmt wird, zu einer globalen Gefahr werden. Oder nehmen wir den Vietnamkrieg. Nicht nur Amerika war in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch der Rest der Welt. Die Armut und das Unwissen in der Welt verursachen politische Unruhen in den entsprechenden Gebieten. Andere Nationen mischen sich ein, Spannungen zwischen den Weltmächten führen zu enormen Ausgaben für das Wettrüsten. Diese Spannungen verhindern außerdem einen Austausch von Waren, kulturellen und geistigen Gütern zwischen den feindlichen Lagern sowie gemeinsame Forschungen. Könnte man die Spannungen verringern, wäre die Gefahr eines weiteren Weltkriegs gebannt, und damit wäre auch der Einzelne besser dran.

Mit diesen Beispielen sollte kurz demonstriert werden, wie sich Störungen in einzelnen Gesellschaften negativ auf die globale Gemeinschaft auswirken können. In dem jeweilig betroffenen Teil der Sozialgemeinschaften sind die Chancen auf ein glückliches Leben noch geringer. Kurz gesagt: Wenn die Gesellschaft auch nur in Teilen mit Übeln belastet ist, wie zum Beispiel mit Seuchen, Armut oder Unwissen, hat dies eine negative Wirkung hinsichtlich des Glücklichseins auf die restlichen Mitglieder.

Es gibt aber auch noch ganz andere, unabwendbare Unglücksursachen: Da ist zum Beispiel der Tod eines Freundes, der nahende eigene Tod, ein unverschuldeter Unfall, ein Brand durch Blitzschlag oder eine Überschwemmung. Solche Unglücksursachen kommen auch in einer gut funktionierenden Gesellschaft vor und sind nur damit zu bekämpfen, daß das betreffende Individuum eine entsprechende Einstellung zu solchen Schicksalsschlägen entwickelt. Dies ist aber ein gänzlich anderes Thema, und es würde zu weit führen, an dieser Stelle ausführlich darauf einzugehen. Uns geht es hier nur darum, die abwendbaren Unglücksursachen als Fehlfunktion der Gesellschaft zu deuten, deren Behebung oder Verhinderung den Menschen von den betreffenden Unglücksursachen befreien und somit zu seinem Glück beitragen würde.

Einige Diskussionspunkte

Die These, die ich hier vorstelle, ist eine soziologisch begründete Morallehre, die nicht erst das Glück nach dem Tode verspricht. Sie gibt auch nicht dogmatisch eine Sittenlehre vor, sondern liefert nur einen Maßstab für eine Morallehre, die für eine jeweilig zeitlich oder geographisch getrennte, relative in sich geschlossene Gesellschaft konzipiert ist. Wenn man etwas tut, braucht man sich nur zu fragen, ist das, was ich tue, von Nutzen für die Gesellschaft, in der ich lebe? So einfach wird das natürlich nicht sein, daß man vor jeder Handlung fragt, ob das richtig ist oder nicht. Die Gesellschaft ist viel zu kompliziert, als daß der Mensch in der Lage sein könnte, sämtliche Folgen seiner Handlung zu überblicken. Vielmehr wird die Gesellschaft selbst für ihre Angehörigen einen Moralkodex ausarbeiten, mit dem Anspruch, daß dieser Kodex keinen Anspruch auf die absolute Richtigkeit für die Ewigkeit erhebt, sondern daß er entsprechend der veränderten Gesellschaftsverhältnisse und neuen Erkenntnisse geändert werden müßte. Hier liegt eine große Aufgabe für die Sozialwissenschaftler. Diese Wissenschaft ist bisher sehr vernachlässigt worden und steckt noch in den Kinderschuhen, aber sicherlich gehört ihr die Zukunft. Sie wird die gesellschaftlichen Entwicklungen am besten voraussehen können, und sie wird Anregungen für entsprechende Verhaltensregeln geben können, die dann eine Diskussionsgrundlage für die jeweilige Gesellschaft und ihre Morallehren bilden werden. Auch in der heutigen Gesellschaft bedürfen viele Punkte der existierenden Morallehre der Überprüfung im Lichte der neuen These. Solche Diskussionen würden teilweise auch dazu dienen, Anfänge einer neuen Morallehre in Gang zu setzen.

Mord und Diebstahl sind in allen Religionen als unmoralisch gebrandmarkt, auch in den atheistischen Weltanschauungen wie z.B. dem Marxismus-Lenismus. Dies ist auch verständlich. In einer Gesellschaft, in der Mord und Diebstahl nicht verdammt werden, würde Unglück herrschen und die Gesellschaft würde bald zerfallen. Aber wie steht es mit Themen wie Nächstenliebe, Nationalismus, Verhaltensmaßregeln hinsichtlich des Sexuallebens und vielem mehr? Nehmen wir zuerst das besonders vom Christentum propagierte Thema der Nächstenliebe. Zunächst ist es ein Irrtum zu glauben, daß Nächstenliebe eine Erfindung des Christentums ist. Sie wird von fast jeder Religion gelehrt, obwohl dies in verschiedenen Verkleidungen geschieht. Lange bevor Jesus geboren war, fragte jemand Konfuzius, ob man mit einem Wort alle menschlichen Pflichten beschreiben könne. Konfuzius sagte ,Nächstenliebe" (Fellow-Feeling) sei vielleicht das Wort. Tue dem anderen nicht an, was du nicht möchtest, daß dir angetan wird. Die Nächstenliebe im Buddhismus ist noch umfassender und schließt nicht nur die Menschen sondern auch die Tiere mit ein. Aber warum sollte man Nächstenliebe ausüben? Die möglichen Antworten darauf wären:

  1. Weil der Gott (oder sein Prophet) es gesagt hat, oder weil es in der Bibel steht;

  2. eine unbestirnmte Antwort wie, weil es richtig ist, oder

  3. weil es im Interesse der Gemeinschaft, also letzten Endes im eigenen Interesse ist.

Die erste Antwort stimmt natürlich nicht für einen Atheisten, steht aber auch nicht unbedingt im Widerspruch zur dritten Antwort. Aber eine Antwort, die nicht begründet werden kann, außer durch die Berufung auf eine allmächtige Autorität, läuft Gefahr, im Laufe der Zeit von jedem so ausgelegt zu werden, wie es ihm passt. Und dies ist mit dem Gebot der Nächstenliebe auch passiert.

Wer ist der Nächste? Ist der Nächste nur der, der zehn Meter entfernt von einem wohnt, oder ist derjenige, der hundert Meter, tausend Meter oder gar tausend Kilometer entfernt wohnt, auch der Nächste, der von uns genauso Liebe beanspruchen darf wie der direkt gegenüber? Oder sollte die Nächstenliebe quantitativ abnehmen, parallel zu der geographischen Entfernung? (Sollte man jemanden. der zehn Meter entfernt ist, zehnmal mehr liehen als den, der hundert Meter entfernt wohnt?) Wie absurd es auch klingen mag, wir tun doch genau das! Ein Kindesmord in der Nachbarschaft regt uns mehr auf als tausend Kindesmorde wie damals in Vietnarn. Ebenso besteht mehr Interesse daran, das Elend in der eigenen Gemeinschaft zu beseitigen, als in der direkt übergeordneten. Die Landesgemeinschaft ist hierbei z.B. einer Dorfgemeinschaft übergeordnet. Woran liegt das?

Die Antwort liegt klar auf der Hand. Man denkt, wenn sich in der Nachbarschaft so ein Wesen herumtreibt, das ein Kind umgebracht hat, könnte es auch ein anderes Kind umbringen. Es könnte ihm auch sein eigenes Kind oder das eines Freundes oder eines Verwandten zum Opfer fallen. Er kann auch andere Untaten begehen, die einen unglücklich machen könnten. Die Empörung ist nicht primär darauf zurückzuführen, daß ein Kind getötet worden ist - denn dann müßte man über jeden Kindesmord in Vietnam genauso empört sein -sondern wegen einer möglichen Einbeziehung seiner selbst in solch einen unglücklichen Fall. Man überlegt natürlich nicht in einzelnen logischen Stufen, wie es hier dargestellt ist, aber eine ähnliche Analyse erfolgt nichtsdestoweniger im Unterbewußtsein.

Wie steht es nun mit der ,,Elternliebe"? Was die Eltern für ihr Kind tun, tun sie deshalb, weil sie, wenn sie es nicht täten, unglücklich wären. Die Eltern müssen sehr viele Einschränkungen eigener Bequemlichkeit hinnehmen, wenn sie für ein Kind sorgen müssen. Ob dies durch Hormone, Instinkt, eine entsprechende Erziehung oder die Furcht vor möglichen Reaktionen ihrer Umwelt bedingt ist, ist eine parallele Frage und ein ganz anderer Punkt. Fest steht, wenn sie nicht das tun, von dem sie glauben, daß man es für sein Kind tun sollte, werden sie unglücklich. Also sollten sich die Eltern nicht vormachen, daß sie für ihre Kinder so viele Opfer bringen; sie können gar nicht anders. Das gleiche gilt auch für alle anderen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen.

Die erzwungene Nächstenliebe, daß man so viel für andere Menschen tut, daß man so viele Opfer bringt, ist nicht nur falsch, sondern bringt nur Unglück für einen selbst und die Umwelt. Indem man glaubt, daß man für andere so viel geopfert hat, erwartet man automatisch eine Gegenleistung, und ist dann vollkommen unglücklich, wenn diese ausbleibt oder nicht den Erwartungen entspricht. Diese Art der Nächstenliebe ist von fast allen Religionen und den traditionellen Moralisten gelehrt worden, ohne die Erkenntnis, daß die Taten der Nächstenliebe eigentlich nur dem Wunsch entspringen, selbst glücklich zu sein. Nur dann ist die Nächstenliebe auch selbstverständlich. Man würde Gutes für andere tun ohne das Bewußtsein, daß man sich für sie geopfert hat. Wie viele Eltern wären heute glücklicher, wenn sie sich nicht dauernd einreden würden, sie hätten für die Kinder so viel geopfert, und diese seien nun undankbar.

Wie steht es mit dem Sex? Die meisten Religionen und Moralisten - nachdem sie auf anderen, wichtigeren Gebieten versagt haben - verlegen ihre Haupttätigkeit auf dieses Gebiet! Wenn man sagt, Herr X oder Herr Y ist ein moralisch schlechter Mensch, dann denkt man nicht, daß er ein Mörder ist, oder daß er sich auf Kosten anderer bereichert hat - sei es direkt durch Diebstahl oder durch illegale Profite. Nein, man denkt in erster Linie an sein Sexualleben. Es ist ja so schwer und unbequem, über die größeren und wichtigeren Fragen, wie z.B. Krieg und Elend in der Welt, nachzudenken. Leichter und interessanter plaudert es sich über das 15jährige Nachbarsmädchen, das in einer Woche mit vier Jungen geschlafen hat. Dann stürzt für die Nachbarn der Himmel ein, aber auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda, wo täglich hunderte unschuldiger Menschen grausam umgekommen sind, würden sie nur mit einem Achselzucken antworten. Dabei sind die moralischen Ansichten über Mord und Diebstahl fast gleich geblieben, die moralischen Verhaltensmaßregeln für das Sexualleben jedoch im Laufe der Geschichte immer wieder grundlegend geändert worden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich fortlaufend geändert und die sexuellen Verhaltensnormen mit ihr.

Die größten Hindernisse aber für eine Neuanpassung von gesellschaftlichen Normen an veränderte Lebensbedingungen bildeten und bilden die Religionen. Es genügt, nur ein paar Beispiele aus der heutigen Gesellschaft zu nennen: Geschlechtsverkehr vor der Ehe, Homosexualität, Masturbation und die Einnahme der Pille wurden und werden von allen christlichen und islamischen Glaubensrichtungen verteufelt. Immerhin ist in den letzten Jahren auch hier eine gewisse Aufweichung der geltenden Normen zu spüren Sex wurde als ,,Schweinerei" angesehen und die Lust als Sünde. Nur langsam und zögernd fangen einige religiöse Führer an, sich der veränderten Welt anzupassen; nicht weil sie es wollen, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, wenn die Religion als Institution überleben will. Vereinzelt sprechen Theologen jetzt schon vom Sex als einer Gabe Gottes. Aber die Gemeinschaft ändert sich jetzt so schnell, daß die veralteten Vorschriften der Religion nicht nur nicht mehr den Maßstab für das Sexualverhalten einer Gemeinschaft liefern können, sondern nicht einmal mehr auf wirksame Art und Weise angepaßt und aktualisiert werden können

Der einzige Orientierungsmaßstab sollte sein, ob gewisse sexuelle Verhaltensnormen für die Gesellschaft schädlich sind oder nicht. Ein einzelner kann jedoch von sich aus nicht oder nur schlecht beurteilen, ob sein Verhalten der Gemeinschaft schadet oder nicht. Solche Aussagen müssen auf den Forschungsergebnissen basieren, die uns die Institute für Sexualforschung liefern. In Deutschland gibt es davon nur wenige. Diese Institute haben aber unter anderem solche Ergebnisse erbracht, die manche Vorurteile hinweggefegt haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die zunehmende Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs bei Jugendlichen im Schulalter hat die traditionellen Moralisten, besonders die kirchlichen, aufgeschreckt. Manch einer sah schon den Verfall der Treue, der Familie und den Sittenverfall der Gesellschaft. Das Hamburger Institut für Sexualforschung ermittelte aber, daß es für neun von zehn Mädchen kein Petting und keinen Koitus mit jemand anderem als ihrem festen Freund gebe. Man will also einen festen Partner, und die meisten wollen sogar heiraten und eine Familie gründen. Dabei ist es nicht einmal gesagt. daß für die zukünftige Gesellschaft die Gründung einer Familie in der derzeitigen Form unbedingt eine vorteilhafte Notwendigkeit ist.

Ganz gleich welches Thema man anschneidet, egal ob Prostitution oder Entwicklungshilfe, werden wir immer - sowohl in kapitalistischen als auch in kommunistischen Gemeinschaften - zu der Schlußfolgerung gelangen, daß der moralische Wert einer Handlung nur daran gemessen werden kann, ob sie der Gesellschaft schadet oder nützt. Somit werden die Sozialwissenschaftler aufgrund ihrer umfangreichen Forschungsergebnisse die Änderung der Moralgesetze vorantreiben müssen. Es wird dogmatische Moralgesetze nicht mehr geben können, sondern nur flexible, da sich die Gesellschaft ständig verändert.

Moralische Lehren sind von verschiedenen Weltanschauungen und Religionen in die Welt gesetzt worden Diese haben ihre positive Wirkung in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation gehabt und müssen entsprechend positiv gewürdigt werden. Aber diese Morallehren hatten kein wissenschaftliches Fundament. Begründet wurden sie immer mit dem Fingerzeig auf eine höchste Autorität wie z.B. Gott. Deswegen konnten den eigentlichen Morallehren so viele gesellschaftlich unsinnige Verordnungen beigemengt werden, ohne daß sie begründet zu werden brauchten.

Die Funktion meiner auf einer wissenschaftlichen Basis fußenden These ist nun, die Spreu vom Weizen zu trennen, damit wir klarere, eindeutigere Entscheidungen treffen können, um nicht in einen unnötigen Zwiespalt zu geraten. Ich hoffe, daß ich mit meiner hier vorgestellten These einen Beitrag in dieser Richtung geleistet habe.

Download PDF

Download Word