Ethische Fragen und die Ideologie des
Grundgesetzes
1. 3. 2004
Autor: Dr.
jur. Gerhard Czermak
1.
Das Grundgesetz (GG) schreibt dem Bürger keine Staatsideologie
vor. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat z. B. in einer
Entscheidung vom 9.2.1989 zu Fragen der Schulbuchzulassung ausgeführt,
eine „gezielte Beeinflussung...im Dienste einer bestimmten politischen,
ideologischen oder weltanschaulichen Richtung“ sei dem Staat verboten.
Diese Aussage ist allerdings ergänzungsbedürftig. Das GG stellt für
wertbezogene Entscheidungen des Gesetzgebers und des Gesetzesanwenders
einen ausfüllungsbedürftigen Rahmen dar. Das heißt aber nicht,
dass das GG in Konturierung dieses Rahmens nicht auch selbst Werte enthält.
Keine Staatsverfassung enthält ausschließlich formale Regeln, und selbst
formale Regeln (z.B. zur Organisierung der Staatsgewalt nach
Mehrheitsentscheidung, Repräsentation und Parteienbildung) entspringen
einer ideologischen Grundvorstellung und repräsentieren diese. Es stellt
sich daher die Frage: Welche Ideologie hat das GG und welche Bedeutung
hat sie generell für die Zulässigkeit ideologischer Momente in
Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere bei der staatlichen
Schulerziehung und Wissensvermittlung? Besonders schwierig sind
Aussagen zu in der Gesellschaft umstrittenen ethischen Fragen wie der des
Schutzes vorgeburtlichen menschlichen Lebens und weiteren Fragestellungen
der Bioethik einschließlich des humanen Sterbens. Ob und inwieweit
das GG zu diesen und anderen Problemen verbindliche Entscheidungsvorgaben
enthält, ist vielfach noch ungeklärt, obwohl oder gerade weil es um als
existentiell empfundene Probleme geht.
2.
Zum Kernbereich der staatlichen Grundordnung des GG gehören
die bekannten rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien mit Grundrechten,
Gewaltenteilung, richterlicher Unabhängigkeit usw., insb. die gleiche Würde
aller Menschen (Art. 1 I GG; ein
in der Rechtspraxis konkret meist entbehrlicher und umstrittener
Rechtsbegriff), aber auch das Sozialstaatsprinzip und der Völkerfriede
(Art. 26 GG). All diese Rechte und Prinzipien finden sich explizit im GG.
Man kann sie als Werte, nämlich Verfassungswerte,
bezeichnen, und ihr Funktionieren setzt die Akzeptanz eines allgemeinen
(nicht speziellen) Menschenbilds voraus. Dem GG ist ein aus seinem
Text und Geist zu entwickelndes Idealbild
des Staatsbürgers zu entnehmen, das er in seiner Rechtsordnung berücksichtigt.
Das BVerfG formuliert daher z.B.:
"Das
GG ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und
Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein
Menschenbild ist nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das
der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit."
(BVerfGE 12,45/51) Wie das Menschenbild konkret-individuell aussieht, sagt
das GG nicht, und gerade dieser "Mangel" gehört zu seinem
verfassungstheoretischen Wesen. Zur Pluralität des dem GG ebenfalls zu
entnehmenden "ethischen Standards" sagt das BVerfG lediglich, er
bestehe in der "Offenheit gegenüber dem Pluralismus
weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes,
das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit
in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser
Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des GG seine religiöse und
weltanschauliche Neutralität." (BVerfGE 41,29/50)
In
zahlreichen Entscheidungen des BVerfG ist zum Ausdruck gekommen, dass zu
den Grundelementen der Ordnung des GG die Garantie eines freien
Meinungsbildungsprozesses gehört, und zwar sowohl in politischer, als
auch religiös-weltanschaulicher Hinsicht. Dem GG lassen sich aber neben
den genannten Grundrechten und Basisprinzipien, darunter auch das Prinzip
der Nichtdiskriminierung wegen persönlicher Merkmale (Art. 3 III
GG), auch einzelne weitere relativ konkrete inhaltliche Anforderungen
entnehmen: generelle Ablehnung von Gewalt (Art. 8 I GG), ausgenommen für
Zwecke der Verteidigung (Art. 12 a GG), damit korrespondierend der Schutz
für Verfolgte (Art. 16 a GG); Verantwortung für die Nachwelt, die natürlichen
Lebensgrundlagen und die Tierwelt (Art. 20 a GG), vereintes Europa in
Gleichberechtigung, allgemeiner Weltfriede (Präambel, Art. 23-25).
Diese
Gesichtspunkte zusammen ergeben die Grundstruktur einer auf
inhaltlichen Werten beruhenden Verfassungsordnung, und diese bedingen
ein einerseits in gewisser Weise spezifisches, andererseits
pluralistisch-offenes „Menschenbild“ des GG. Selbstverständlich können
und sollen die Erziehungseinrichtungen diese verfassungsrechtlichen
Grundvorgaben, den notwendigen Grundkonsens, auch als
verbindlich vermitteln, denn es geht um die Basis des friedlichen und
gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft. Mit dieser "Doktrin" darf Schule also „indoktrinieren“.
3.
Das Problem und eine stete Quelle von Missverständnissen liegt in
der Notwendigkeit der Unterscheidung
von zulässiger und unzulässiger Staatsideologie. Die Propagierung eines Menschenbildes und ethischer Prinzipien durch
die öffentliche Hand, die über den oben beschriebenen Prinzipienrahmen
des GG hinausgehen, wäre unzulässige Staatsideologie bzw. die unzulässige
einseitige Propagierung einer speziellen Ethik. Das hat das BVerfG
mehrfach ausdrücklich festgestellt und ist im Grundsatz anerkannt. Ein spezifisches Konzept des guten Lebens kennt das GG gerade nicht.
Insbesondere ergeben sich aus ihm – entgegen immer noch verbreiteter
Auffassung – keinerlei Anhaltspunkte für die Propagierung einer christlichen oder
sonstwie religiösen oder nichtreligiösen Weltauffassung.
Dass die Gottesnennung in der GG-Präambel nur als persönliches Motiv der Verfassungsgeber nach 1945 zu verstehen
ist, dem GG aber keine zusätzliche normative Bedeutung verleiht, ist
unter Verfassungsjuristen so gut wie anerkannt.
Die
Probleme der Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger
Ideologie liegen wegen des grundsätzlichen parlamentarischen
Mehrheitsprinzips auch hier im Detail. Immer wieder versuchen insb.
religiöse Institutionen und die ihnen ideell oder zumindest wahltaktisch
verbundenen Politiker, ihr manchmal sehr spezielles und nicht
allgemein als zumindest tragbar empfundenes Konzept zu einzelnen
ethischen Fragen der Allgemeinheit per Gesetz aufzuzwingen. Die dabei
zu stellenden Abgrenzungsfragen zwischen zulässiger und unzulässiger
Ideologie sind noch wenig erforscht. Wesentliches hierzu leistet die liberale
Rechts- und Staatstheorie. Sie besagt im wesentlichen, dass der Staat
außerhalb eines vorgegebenen Basis-Mindestkonsenses zu Fragen des
richtigen Lebens nicht Stellung zu nehmen hat. Es geht ihm nicht um das
Gute, sondern nur um das für alle pluralistischen Wertvorstellungen
gleichermaßen Gerechte. Das heißt: Staatliche Regulierungen sowie
Beschränkungen individueller Handlungsfreiheit sind nur auf der Grundlage
solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder
philosophischen Lehren voraussetzen. Mit anderen Worten: Freiheitsbeschränkungen,
aber auch Fördermaßnahmen dürfen nur auf Grund solcher Rechtsgüter
erfolgen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der
Gerechtigkeit neutral begründet werden kann. Die Auswirkungen solcher
begründungsneutraler Regelungen sind freilich regelmäßig höchst
unterschiedlich: Gleichheit differenziert, weil die neutralen Regelungen
auf unterschiedliche Umfelder treffen: verschiedene Zahl der Betroffenen,
unterschiedliche wirtschaftliche Stärke usw. Das ist auch nicht zu
kritisieren, weil ethische Konzepte jenseits des für alle verbindlichen
Grundkonsenses nicht unter Bestandsschutz gestellt werden, sondern um
Akzeptanz werben müssen. Also: Begründungsneutralität, nicht
Wirkungsneutralität.
4.
Praktisch bedeutet das, dass Gesetze, die einer speziellen,
z. B. religiösen, Ethik entsprechen (z. B.: absolutes Abtreibungsverbot,
weitgehender Embryonenschutz), wie schon hinsichtlich der Grundrechte
nicht einfach mit der aktuellen Existenz einer entsprechenden
parlamentarischen Mehrheit begründet werden dürfen. Denn: „Das
staatliche Handeln und die politische Ordnung müssen prinzipiell gegenüber
jedermann rechtfertigungsfähig sein“ (Stefan Huster). Darauf kommt
es an und nicht auf eine etwa zusätzlich vorhandene religiöse oder
sonstige ideologische Motivation. Nur so wird vermieden, dass ein Teil der
Bevölkerung allen anderen seine spezielle Moral oder religiös-weltanschauliche
Überzeugung aufnötigen kann (Musterbeispiel: extremer Embryonenschutz,
obwohl keinem Vertreter eines solchen verboten wird, z. B. Präimplantationsdiagnostik
für sich persönlich abzulehnen). Die vehement vertretene Forderung
nach einer christlichen Fundierung der deutschen und europäischen
Rechtsordnung steht im absoluten Widerspruch hierzu. In verbleibenden
Konfliktfällen zwischen liberal-neutraler Regelung und Sondermoral hilft
letzterer die Gewissensfreiheit. In der Grundidee ist die Liberale
Staatstheorie klar, in der praktischen Verwirklichung äußerst
anspruchsvoll. Sie stimmt vollkommen mit dem deutschen GG zusammen und
ergibt sich genau genommen schon aus diesem selbst (keine Staatsideologie
jenseits der Zentralforderungen des GG, freier geistiger Prozess,
Selbstbestimmungsrecht des Individuums; bestritten). Absolutes Gegenmodell
des neutralitätsliberalen Staats ist die Diktatur eines Gottesstaats.
Aber schon jede „zivilreligiöse“ Fundierung des Staats trägt den
Keim der Überzeugungsdiktatur in sich. Der Staat des GG beruht –
historisch plausibel – nicht auf religiös-weltanschaulichen
Grundlagen. „Von der christlichen Tradition ‚des
Abendlandes’...findet sich in der Staatsverfassung keine Spur“, meint
selbst der streng protestantische bekannte Religionsrechtler Martin Heckel.
Das GG ist zwar dem Text nach sehr religionsfreundlich, stellt aber auch
bei privilegierenden Tatbeständen stets alle Religionen und nichtreligiösen
Weltanschauungen gleich (vgl. Art. 3 III, 4 I, 33 III GG; 136 I, II und
besonders deutlich 137 VII WRV i. V. m. Art. 140 GG).
5.
Die politische und rechtliche Praxis ist von der konsequenten
Anwendung dieser Regeln selbst nach 55 Jahren GG noch weit entfernt.
Politiker kommen über das platte machtbewusste Mehrheitsdenken nur selten
hinaus. Die vom überwiegend konservativen Juristenstand geprägte
Rechtsprechung hat in ideologischen Fragen oft heute noch große
Schwierigkeiten mit der Anwendung der sonst anerkannten juristischen
Standards, wobei ihr innovatives Potential dennoch größer zu sein
scheint als das der weitgehend kirchenhörigen Politik (in der selbst
dramatische religionssoziologische Veränderungen offenbar keinerlei Rolle
spielen). Verwiesen sei nur auf die Rechtsprechung des BVerfG zu
Schulkreuzen und zum islamischen Kopftuch mit ihrer unmissverständlichen
Betonung des Neutralitätsgebots im Sinn eines Verbots der ideologischen
Parteinahme.
6.
Wie unbedarft (oder ideologisch-machtbewusst) selbst bei
einfachsten Grundfragen staatsbürgerlichen Wissens Politiker und selbst
Träger der politischen Bildung (Journalisten, Lehrer, Schulleiter,
Professoren) oft sind, zeigen die beliebten Bezugnahmen auf speziell christliche
Werte in manchen Landesverfassungen. Es finden sich zwar
bedauerlicherweise keine politischen Mehrheiten, die diese Ungereimtheiten
bereinigen. Aber es sollte doch Art. 31 GG bekannt sein: Bundesrecht
bricht Landesrecht. Das bundesrechtliche strikte Gebot ideologischer
Neutralität (Verbot der Parteinahme gleich ideologischer Beeinflussung,
s. o.) hat stets Vorrang vor anderslautenden landesrechtlichen
Vorschriften, und sei es die Landesverfassung. Eine Berufung auf letztere
ist in solchen Fällen stets unseriös. Zusammenfassend ist zu betonen:
Der pluralistische Staat (gemeint sind alle öffentlichen Hände) darf und
soll zwar religiöse Tatbestände je nach Sacherfordernis in seiner
Rechtsordnung berücksichtigen. Er darf dabei aber niemals einseitig eine
Richtung bevorzugen. Das gilt insbesondere für die (grob missverständlich)
so genannten „Christlichen Gemeinschaftsschulen“, die ideologisch
gerade nicht christlich sein dürfen. Diese vom BVerfG schon 1975
vertretene Auffassung wurde mit seinem Kopftuch-Urteil von 2003 noch
klarer bekräftigt. Was für Religion und Weltanschauung gilt, gilt
entsprechend für alle ideologisch-politischen Fragen. Leider kann nur
derjenige, der auch persönlich davon betroffen ist, Verstöße dagegen
vor Gericht geltend machen.
Abkürzungen:
BVerfGE
= Entscheidungen des BVerfG, Amtliche Sammlung
Literatur:
Böckenförde,
Ernst-Wolfgang: Religion im säkularen Staat, in: Universitas 1996,
990-998
Huster,
Stefan: Staatliche Neutralität und schulische Erziehung, Neue Sammlung
2001, 399-424
Huster,
Stefan: Liberalismus, Neutralität und Fundamentalismus. Über
verfassungsrechtliche und sozialphilosophische Grenzen rechtlicher Verbote und
Regulierungen in der Gentechnologie und in der modernen Medizin. In: A.
Brockmöller u. a. (Hg.), Ethische und strukturelle Herausforderungen des
Rechts, (ARSP-Beiheft 66) Stuttgart 1997, 9 ff.
Pawlowski, Hans-Martin: Recht und Glauben, KuR 1998
Nr. 110, S. 93-112 (zur inneren Rechtfertigung der Rechtsnormen im
pluralistischen Staat)
Rawls,
John: Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten, in: ders., Die Idee
des politischen Liberalismus, 1992, 364 ff.
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