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Materialien zum Ethikunterricht

Das Leben als Sinn und Unsinn

Die Evolution erklärt uns alles

THOMAS MOHRS

 

1. Einleitung

 

In einer Vorlesungsreihe zum „Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens“ darf ein Beitrag zur Evolutionstheorie bzw. zur evolutionären Anthropologie natürlich nicht fehlen. Und zwar einfach deshalb, weil die Evolutionstheorie im Ausgang von Darwin und Wallace im Laufe des 20. Jahrhunderts zu dem überragenden Paradigma der Wissenschaften wurde, zunächst vor allem der Naturwissenschaften, ab dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts aber auch zunehmend der Geistes- und Kulturwissenschaften. Und was die „Wahrheit“ oder den Bewährungsgrad dieser Theorie anbelangt, steht für Richard Dawkins, Oxford-Professor und einer der bedeutendsten Evolutionstheoretiker der Gegenwart, fest, dass man die Evolutionstheorie heute „ungefähr ebenso anzweifeln kann wie die Lehre, dass sich die Erde um die Sonne dreht“ (Dawkins, 20024, 23).

 

Ich möchte im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über einige Fragestellungen der Philosophie geben, zu denen die evolutionäre Anthropologie einfache und klare Antworten parat hat. Und Sie werden sehen: Die Evolution erklärt uns alles. Folglich sollte die Evolutionstheorie auch kompetent sein, uns eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Unsinn des (menschlichen) Lebens zu geben. Dementsprechend werde ich versuchen, eine Antwort zu formulieren, einfach und klar – wenn auch vielleicht schrecklich unbefriedigend und unsympathisch. Und eben weil diese Antwort auf die große Frage nach Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens womöglich so schrecklich unbefriedigend ist, möchte ich abschließend ganz knapp zwei alternative Möglichkeiten andeuten, mit dieser Antwort philosophisch und lebenspraktisch umzugehen, um Sie dann in aller Unentschiedenheit und hoffentlich einigem Denk-Stoff zu entlassen.

 

2. Ein Witz vorweg

 

Beginnen möchte ich jedoch mit einem Witz, weil der – wie ich finde – so schön zu meinem Thema passt:

 

Nach vielen Jahrmillionen ihres Weges durch die unendlichen Weiten des Alls treffen sich zwei Planeten wieder einmal auf ihren Umlaufbahnen. Sagt der eine

zum anderen: „Ja um Himmels Willen, du siehst ja schauderhaft aus – was ist denn mit dir passiert?!“ „Ach hör’ bloß auf!“, jammert der andere, „ich fühle mich schrecklich – ich habe homo sapiens“. „Ach je, du Armer“, erwidert der andere, „aber denk’ dir nix, das hatte ich auch mal – das vergeht wieder“ ...

 

3. Die Evolution erklärt uns alles, z. B.:

 

3.1. Den Anfang des Lebens

 

Zur Sache! Gehen wir einmal von dem einfachen Tatbestand aus, dass Gott tot ist. Oder seien wir noch konsequenter: Es hat ihn nie gegeben. Und weil es ihn nie gegeben hat, kann er logischerweise auch nicht die Welt geschaffen haben. Folglich können oder müssen wir die „Gotteshypothese“ auch ausklammern, wenn es um Fragen geht wie die, was Leben ist und wie es zustande kam. Eine mögliche Antwort – Richard Dawkins spricht sogar von der „bisher einzig gangbare[n] Lösung“ für die Frage nach der Entstehung des Lebens (Dawkins,42002, 40) – liefert uns die Theorie Darwins. Demnach bildete sich irgendwann nach dem „Urknall“ – der nach noch immer vorherrschender Meinung den Anfang des Universums bildete – vor mehreren Milliarden Jahren auf der Erde „eine Atmosphäre aus Gasen wie Methan, Ammonium, Wasserstoff und Helium“. Und diese Atmosphäre war einem „andauernden Beschuss von energiereichen ultravioletten und Gamma-Strahlen, von elektrischen Entladungen, meteoritischen Einschlägen und Vulkanausbrüchen ausgesetzt“ – dem „Urgewitter“ (Maturana/Varela, 1987, 44; vgl. Dawkins, a. a. O., 43 f.). Unter den Einflüssen dieses „Urgewitters“ bildete sich allmählich die „Ursuppe“ aus, die wir uns mit den Worten von Richard Dawkins als „eine dünne braune Suppe“ vorstellen können, „die eine Vielzahl von Molekülen enthält, welche komplexer sind als die ursprünglich hineingegebenen“ (ebd., 43)1 – Moleküle zudem, die „typischerweise in gegenwärtigen zellulären Organismen gefunden werden“ (Maturana/Varela, 1987, 51).

 

Und irgendwann im weiteren Verlauf der Ursuppengeschichte ermöglichte die erreichte Vielfalt und Plastizität im Bereich der organischen Moleküle einen Punkt, an dem sich ein ganz besonderes Molekül bilden konnte, das völlig neuartige Eigenschaften aufwies. Dieses komplexe Molekül – nennen wir es mit Dawkins „Replikator“ (Dawkins, a. a. O., 44) – war nämlich in der Lage, Kopien seiner selbst herzustellen, also Moleküle zu erzeugen und zu integrieren, aus denen es selbst bestand, wobei es sich gleichzeitig gegen den umliegenden Raum abgrenzte (vgl. Maturana/Varela, 1987, 47). Und dieser „Moment“ der Entstehung von autopoietischen, also sich selbst erzeugenden und die eigenen Grenzen definierenden Molekülen ist der „Moment“ der Entstehung dessen, was wir „Leben“ bzw. „Lebewesen“ nennen.2

 

Damit wäre das schon mal geklärt. Aber die Evolution erklärt uns auch:

 

3.2. Wieso es Menschen gibt

 

Wie ging es nach der Entstehung der ersten „Lebewesen“ weiter? Nun, zum einen kann man annehmen, dass die Replikatoren ihre Kopien relativ rasch über alle Ursuppenmeere verbreitet haben, und zwar einfach deshalb, weil sie im Gegensatz zu allen anderen, „klassischen“ Molekülstrukturen ein vollkommen neues Maß an Stabilität bzw. „Langlebigkeit“ aufwiesen. Gleichzeitig ist jedoch davon auszugehen, dass ein Kopiervorgang so gut wie nie perfekt ist. Folglich schlichen sich auch in die Kopiervorgänge der Replikatoren „Fehler“ bzw., neutraler formuliert, Variationen ein, was schließlich – natürlich immer in den gigantischen Zeiträumen der Evolution gedacht – dazu führte, dass sich „die Ursuppe mit Populationen [füllte], die nicht aus identischen Kopien, sondern aus mehreren Varianten sich replizierender Moleküle bestand, die alle von dem gleichen ‚Vorfahren’ abstammten“ und die – relativ zu den Überlebensbedingungen der Ursuppe – mehr oder weniger stabil bzw. langlebig waren, sich also selbst mehr oder weniger zahlreich zu kopieren verstanden (Dawkins, a. a. O., 47).

 

Wiederum irgendwann trat nun in der Ursuppe zwangsläufig ein Zustand der Ressourcenknappheit ein: Die Bausteine, die von den Replikatoren für ihre Selbstkopierung benötigt wurden, waren nämlich nicht mehr im Überfluss vorhanden – und so entstand mit der Ressourcenknappheit zugleich die Konkurrenz der Replikatoren bzw. der „Kampf ums Dasein“ (ebd., 50). Diese Situation des unausweichlichen Kampfes um begrenzte Ressourcen führte in der weiteren Folge zur Ausbildung spezieller Strategien oder Methoden: Manche Replikatoren entwickelten Methoden, „die Moleküle rivalisierender Varianten chemisch auf[zu]spalten und die auf diese Weise freigesetzten Bausteine zur Herstellung ihrer eigenen Kopien [zu] benutzen“ (ebd.) – oder prägnanter formuliert: Sie entwickelten die Methode, konkurrierende Replikatoren zu fressen. Andere Replikatoren entwickelten dagegen defensive Strategien, entweder chemisch oder in Form einer „Proteinwand“, einer Hülle, oder wiederum anders formuliert: Die Replikatoren fingen an, „nicht mehr einfach nur zu existieren, sondern für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr Fortbestehen. Es überlebten diejenigen Replikatoren, die um sich herum Überlebensmaschinen bauten“ (ebd., 51).

 

Kürzen wir die Sache ein bisschen ab: Im Laufe der Jahrmillionen wurden diese zunächst wahrscheinlich ziemlich primitiven „Überlebensmaschinen“ sukzessive größer und komplexer, und zwar einfach deshalb, weil immer wieder neue Rivalen entstanden, die entweder bessere und wirkungsvollere Schutzhüllen entwickelt hatten oder aber bessere und wirkungsvollere Methoden, die Schutzhüllen anderer Maschinen zu „knacken“. Dieser kumulative und progressive Vorgang ist es, den wir „Evolution“ nennen, und eben dieser Vorgang hat auch uns Menschen hervorgebracht. Folglich ist die Frage, wieso es Menschen gibt, mit Richard Dawkins einfach und klar zu beantworten:

 

„Heute drängen [die Replikatoren] sich in riesigen Kolonien, sicher im Innern gigantischer, schwerfälliger Roboter, hermetisch abgeschlossen von der Außenwelt; sie verständigen sich mit ihr auf gewundenen, indirekten Wegen, manipulieren sie durch Fernsteuerung. Sie sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und Geist, und ihr Fortbestehen ist der letzte Grund unserer Existenz. Sie haben einen weiten Weg hinter sich, diese Replikatoren. Heute tragen sie den Namen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen.“ (Dawkins, a. a. O., 51)

 

Damit wäre auch das geklärt. Aber die Evolution gibt uns auch eine Antwort auf die interessante philosophische Frage:

 

3.3. Was „Erkenntnis“ ist

 

Wir Menschen sind Produkte der biologischen Evolution, ganz und gar, ohne die geringste Einschränkung. Und das heißt natürlich, dass auch alle Teile bzw. alle Subsysteme unserer hochkomplexen „Überlebensmaschine“ ganz und gar Produkte der biologischen Evolution sind. Also ist auch unser Erkenntnisapparat, Sinnesorgane und Gehirn, als biologisch evolvierte Methode zu verstehen, zum Erfolg der Überlebensmaschine „Mensch“ im „Kampf ums Dasein“ beizutragen. Oder anders formuliert: Sinnesorgane und Gehirn sind zu verstehen als Anpassungsleistungen der Spezies Mensch, die diese im kumulativen und progressiven Evolutionsprozess relativ zu den Lebens- und Überlebensbedingungen ihrer Umwelt allmählich ausgebildet hat. Insofern kann man sagen, dass unser Erkenntnisapparat mit seinen spezifischen Strukturen und seinen spezifischen Funktionsweisen bereits gattungsgeschichtliche, phylogenetische „Erkenntnisse“ repräsentiert. Denn in diesen spezifischen Strukturen und Funktionsweisen ist bereits das gesamte gattungsgeschichtliche „Wissen“ darum gespeichert, wie sich die Überlebensmaschine Mensch relativ zu ihren vielfältigen Umweltbedingungen verhalten „soll“, um eine erfolgreiche Überlebensmaschine zu sein. Deshalb ist nach evolutionstheoretischer Auffassung die Vorstellung grundfalsch, dass unser Erkenntnisapparat bei unserer Geburt praktisch leer ist, eine „tabula rasa“ oder ein leerer Kübel, der dann erst im Laufe des Lebens durch Erfahrungen allmählich gefüllt wird. Autoren wie Karl Popper vertreten sogar die Auffassung, dass „99,9 Prozent des Wissens eines Organismus ... vererbt oder angeboren [sind], und nur 0,1 Prozent ... in Veränderungen des angeborenen Wissens [bestehen]“ – wobei zudem davon auszugehen sei, dass auch die zu diesen Veränderungen erforderliche Anpassungsfähigkeit angeboren ist (Popper, 41984, 72).

 

Gleichzeitig bedeutet dies, dass alle unsere „Erkenntnisse“, auch unsere normalen, alltäglichen sinnlichen Wahrnehmungen, in höchstem Maße konstruktiv sind. Denn „Erkenntnis“ entsteht keineswegs so, dass aus der Außenwelt Informationen auf unsere Sinnesrezeptoren auftreffen, die diese dann über die Nervenbahnen ins Gehirn weiterleiten, wo sie decodiert und schließlich als realistisches „Abbild“ der außen bestehenden Wirklichkeit repräsentiert werden. So funktioniert unser Gehirn einfach nicht. Das Gehirn ist vielmehr ein autopoietisches, ein operational geschlossenes System, das ausschließlich mit der Verarbeitung seiner eigenen Aktivität beschäftigt ist bzw. nur seine eigene Sprache versteht. Was von der Außenwelt – also dem Milieu, in dem das Gehirn existiert – in das Gehirn gelangt, sind lediglich „Perturbationen“, das System störende Reize, unspezifische elektrochemische Impulse, und was das Gehirn dann daraus als „Wahrnehmung“ und „Erkenntnis“ macht, erzeugt, konstruiert, ist einzig und allein Sache des Gehirns und abhängig von seinen Strukturen, Funktionsweisen und implementierten Mustern – „[die] Wirklichkeit, in der ich lebe, ist ein Konstrukt des Gehirns“ (Roth, 1997, 21).3 Insofern gibt die moderne Hirn und Kognitionsforschung jener „verrückten“ Formulierung Kants völlig recht: „Der menschliche Verstand schreibt der Natur die Gesetze a priori vor.“4

 

Aber das bedeutet natürlich zugleich, dass wir nicht davon ausgehen können, dass unser Gehirn jemals „wahre“ Wahrnehmungen in dem Sinne produziert, dass sie vollständig mit der außen bestehenden Wirklichkeit übereinstimmen. So sicher wir uns auch sind, dass wir die Wirklichkeit wirklich, real wahrnehmen, diese Sicherheit ist eine Illusion – die freilich in aller Regel sehr nützlich ist, folglich eine ziemlich „clevere“ Anpassungsleistung der Überlebensmaschine Mensch. Relativ sicher können wir uns aufgrund der simplen Tatsache, dass wir leben und die Spezies Mensch (zumindest in den von uns überschaubaren Zeiträumen) zu den eher erfolgreichen Entwürfen der Evolution zählt, lediglich dessen sein, dass unser Erkenntnisapparat (bzw. das Gesamtpaket unserer „Systemeigenschaften“) offensichtlich gut genug an die Welt angepasst ist, eine hinreichend große „Isomorphie“ zwischen Welt und Welterkenntnis besteht, dass die Gattung Mensch im großen „struggle for survival“ bisher überleben konnte. Aber Vorsicht: Aus dieser Annahme den Schluss zu ziehen, dass es bei dieser Adaptivität auch in Zukunft immer und unter allen Umständen bleiben muss, wäre höchst kurzschlüssig, unter Umständen sogar schlicht und einfach falsch!

 

Soviel dazu. Was erklärt uns die Evolution noch? Sie erklärt uns zum Beispiel:

 

3.4. Das Phänomen des „Altruismus“

 

Dazu zunächst ein vielleicht etwas irritierendes Zitat aus Richard Dawkins’ Buch „Das egoistische Gen“:

 

„Die These dieses Buches ist, daß wir und alle anderen Tiere Maschinen sind, die durch Gene geschaffen wurden. Wie erfolgreiche Chicagoer Gangster haben unsere Gene in einer Welt intensiven Existenzkampfes überlebt – in einigen Fällen mehrere Millionen Jahre. Auf Grund dessen können wir ihnen bestimmte Eigenschaften unterstellen. Ich würde argumentieren, dass eine vorherrschende Eigenschaft, die wir bei einem erfolgreichen Gen erwarten müssen, ein skrupelloser Egoismus ist.“ (Dawkins, 42002, 25)

 

Na fein: Wir sind also die Überlebensmaschinen skrupellos egoistischer Gene – und wie bitte schön sollte vor dem Hintergrund dieser erfrischenden These das Phänomen des „Altruismus“ zu erklären sein? Nun, wie ich es ganz am Anfang gesagt habe: Die Lösung ist denkbar einfach und klar und lautet: Gerade weil die Gene radikal egoistisch sind, dürfen es die einzelnen Überlebensmaschinen nicht sein – zumal dann nicht, wenn sie zu der Sorte von Überlebensmaschinen zählen, die sich geschlechtlich fortpflanzen und in Gruppen, Rudeln, Herden, Schwärmen leben. Denn geschlechtliche Fortpflanzung bedeutet nicht zuletzt, dass die Eltern mit ihren Nachkommem 50 % der Gene gemeinsam haben. Und weil der reproduktive Erfolg bzw. die evolutive „fitness“ einer solchen Überlebensmaschine sich danach bemisst, wie viele ihrer Nachkommen wiederum zur Fortpflanzungsreife gelangen, ist es nichts weniger als verständlich, dass sich Eltern gegenüber ihren Kindern „altruistisch“ verhalten, denn gerade dieser „Altruismus“ dient den egoistischen Interessen der Gene. Die gleiche Logik gilt natürlich für den Altruismus unter Geschwistern, zwischen Großeltern und Enkeln und überhaupt unter genetisch verwandten Überlebensmaschinen – Vetternwirtschaft ist nicht von ungefähr ein kulturinvariantes Phänomen! Dabei gilt freilich, dass die Bereitschaft zu altruistischem Verhalten mit dem sinkenden Grad der Verwandtschaft abnimmt, da ein niedrigerer Verwandtschaftsgrad gleichbedeutend ist mit einem geringfügigeren Anteil gemeinsamer Gene.

 

Gut, das mag soweit plausibel klingen. Aber es erklärt doch in keiner Weise das nicht zu bestreitende altruistische Verhalten gegenüber genetisch nicht verwandten Individuen und Gruppen, zumal unter Menschen – nicht die Nachbarschaftshilfe, nicht die Solidarität unter Arbeitskollegen, erst recht nicht das freiwillige Engagement für die Charitas. Stimmt auffällig – aber dieser Einwand kratzt den evolutionstheoretischen Erklärungsansatz wenig. Denn das Phänomen des „reziproken Altruismus“ ist keinesfalls eine menschliche Besonderheit, sondern auch im nichtmenschlichen Tierreich vielfach anzutreffen – etwa zwischen Zebras und Gnus, die gemeinsame Herden bilden und so wechselseitig ihre statistischen Chancen verbessern, die nächste Löwenattacke zu überleben (vgl. Dawkins, a. a. O., 270 ff.). „Reziproker Altruismus“ heißt, dass eine Überlebensmaschine zugunsten eines genetisch nicht verwandten Dritten auf die Wahrung eines eigenen Vorteils, die Durchsetzung eigener Interessen verzichtet bzw. einen Nachteil in Kauf nimmt, sich also „altruistisch“ verhält – aber nur unter der Voraussetzung, dass diese Überlebensmaschine mit hinreichender Sicherheit damit rechnen kann, dass sich dieser Altruismus irgendwann bezahlt macht, dass also hinreichend verlässlich mit einer mindestens gleichwertigen Gegenleistung zu rechnen ist – eine Hand wäscht die andere. Der Altruist, der seinem Nachbarn beim Bau des Swimmingpools hilft, erwartet, zumindest zur Einweihungsparty eingeladen zu werden oder dass der Nachbar ihm ebenfalls hilft, wenn er selbst demnächst seinen Pool anlegt (der natürlich ein bisschen größer sein wird ...). Der Arbeiter, der für seinen Kumpel die Nachtschicht übernimmt, damit der zum 70ten seines Patenonkels fahren kann, erwartet, dass dieser Kumpel ihn auch nicht hängen lässt, wenn seine Kegeltour am Dienstplan zu scheitern droht. Und der ehrenamtliche Charitas-Altruist klagt über kurz oder lang über „burn out“-Symptome, wenn halt gar nichts zurückkommt, keine Anerkennung, kein Lob, kein öffentliches Dankeschön bei der jährlichen Weihnachtsfeier (und wenn noch dazu das Reservoir an moralischer Selbst-Befriedigung aufgebraucht ist ...).

 

Aber den schlagendsten Beweis für den überwältigenden evolutionären Erfolg des reziproken Altruismus muss man gar nicht auf dieser zwischenmenschlichen oder sonstigen sozialen Ebene suchen, sondern dieser Beweis sind wir selbst, ist jeder existierende Organismus. Denn wie sonst hätten die miteinander konkurrierenden egoistischen Replikatoren derart komplexe Überlebensmaschinen wie uns Menschen schaffen können, wenn sie nicht miteinander kooperiert hätten?5 Jeder lebende Organismus ist sozusagen eine Inkarnation zweier Grundprinzipien des Sozialverhaltens: „Gemeinsam sind wir stark!“ und: „Der wahre Egoist kooperiert!“

 

Gut, zugegeben, mit Moral im eigentlichen Sinne des Wortes, die ohne jede Rücksicht auf irgendwelche äußeren Zwecke und Absichten das moralisch Richtige tut, weil es an sich gut ist, hat das alles nichts zu tun. Aber auch das stellt insofern kein Problem dar, als diese „wahre“ Moral bzw. ein „wahrhaft“ moralischer Mensch ohnehin ein rein theoretischer Begriff ist, praktisch allenfalls ein Jahrtausendereignis.

 

Aber geht das nicht eindeutig zu weit? Es mag ja stimmen, dass wir von unseren Genen nicht auf „Moral“ programmiert sind – aber ist nicht die Moral gerade

dadurch charakterisiert, dass sie eben nicht biologisierbar, nicht menschliche Natur ist, sondern ein Charakteristikum der menschlichen Kultur? Mit dieser Frage ist der evolutionstheoretische Erklärungsanspruch natürlich vor ein interessantes Problem gestellt:

 

3.5. Wieso gibt es Kultur und welche Funktion hat sie?

 

Halten wir uns – konfrontiert mit dieser Fragestellung – zunächst einen gattungsgeschichtlichen Sachverhalt vor Augen: Wir Menschen sind Kleingruppenlebewesen, von der biologischen Evolution ursprünglich selektiert für das Leben und Überleben in relativ kleinen, überschaubaren sozialen Verbänden genetisch miteinander verwandter Individuen. Ursprünglich! Von ganz entscheidender Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Menschen war aber nun ein „Ereignis“ in der Menschheitsgeschichte, das in der modernen Terminologie als die „neolithische Revolution“ bezeichnet wird: der Übergang von der nomadischen Lebensweise als Sammler und Jäger zur sesshaften Lebensweise als Ackerbauern und Viehzüchter in der Jungsteinzeit.6 Hintergrund und „Auslöser“ dieser radikalen Änderung war zunächst das Bevölkerungswachstum. Die Wachstumsraten der Populationen unserer Vorfahren waren zwar vergleichsweise niedrig, aber dennoch kam es irgendwann zu einer „Situation“, in der die erreichbaren und für die nomadische Lebensweise als Sammler und Jäger hinreichend ressourcenreichen ökologischen Nischen erschöpft waren bzw. deren „Tragekapazität“ überlastet war. Unter dem selektiven Druck dieser Situation gingen Menschengruppen dazu über, ihre nomadische Lebensweise, die vergleichsweise  große Territorien erforderte, zugunsten einer sesshaften Lebensweise als Ackerbauern und Viehzüchter aufzugeben, in der kleinere Territorien intensiver und wesentlich effizienter genutzt wurden. Anders formuliert: Die Menschen begannen, mehr aus diesen Territorien herauszuholen, als diese ohne Bearbeitung an verwertbaren Ressourcen hergegeben hatten – sie begannen, ihre Lebensräume zu „kultivieren“.7

 

Im Zuge der effizienteren Nutzung kleinerer Territorien entwickelte sich für die sesshaft gewordenen Menschen aber auch im Hinblick auf ihr Reproduktionsverhalten ein neuer selektiver Druck. Denn einerseits wurden für die mühsame und aufwändige Feldarbeit mehr Arbeitskräfte benötigt8; umgekehrt fiel für die nunmehr sesshaften Mütter die Notwendigkeit weg, ihre Nachkommen über längere Zeit und lange Strecken tragen zu müssen. Und da zudem bei erfolgreicher Bewirtschaftung eines Territoriums und seiner erfolgreichen Verteidigung gegen Konkurrenten9 die Ressourcensituation günstig war, gingen die Menschen dazu über, ihre vormaligen Reproduktionsbeschränkungen aufzugeben; folglich kam es zu einer wesentlich höheren Wachstumsrate der Populationen. Logischerweise führte diese frühe „Bevölkerungsexplosion“ wiederum über kurz oder lang zur Aus- und Überlastung der bewohnten Territorien, so dass sich ein starker Expansionsdruck einstellte. Man war also gezwungen, entweder neue Territorien zu erschließen, urbar zu machen und hier Filialen zu gründen oder aber bereits erschlossene und von anderen Menschengruppen bewohnte Gebiete zu erobern, die anderen Gruppen nach Möglichkeit zu unterwerfen, zu vertreiben oder auszurotten – bis auf die jungen Frauen freilich, die als Fortpflanzungsressourcen dienen konnten.10 Und wenn das nicht möglich war, musste man sich eben wohl oder übel irgendwie mit ihnen arrangieren.

 

Aber welche Strategie auch immer die einzelnen Menschengruppen anwandten: Im Laufe der Zeit kam es unweigerlich zu einem allmählichen Wachstum der Gesellschaften weit über die Grenzen der ursprünglichen familiären Kleingruppen hinaus. Und da die unmittelbare Kontrolle und „Überwachung“ des sozialkonformen Verhaltens der einzelnen Gruppenmitglieder nicht mehr wie in den vormaligen face-to-face-Gemeinschaften möglich war, ergab sich ab einer gewissen Größenordnung die Notwendigkeit der formalen Reglementierung – zunächst vornehmlich von Sexual- und Eigentumskonflikten – durch fixierte Normen, was natürlich auch die Ausbildung von Institutionen erforderlich machte, die geeignet waren, die Einhaltung dieser Normen zu überwachen.11 Dies war mithin nach evolutionstheoretischer Auffassung der Ursprung von „offiziellen“ sozialen Regeln, von Verhaltenscodizes, Sitten und institutioneller Herrschaft und damit zumindest zu einem wesentlichen Teil der Ursprung dessen, was wir „Kultur“ nennen.

 

Einen genaueren Blick auf die weitere Entwicklung und Ausdifferenzierung der Kultur (bzw. der Kulturen) müssen wir uns hier natürlich aus Zeitgründen verkneifen. Aber wenn wir „Kultur“ insgesamt als die Summe aller Verhaltens- und Orientierungsmuster verstehen, die das Dasein einer gegebenen Population anleiten und bestimmen, dann können wir als den zentralen Gedanken der evolutionstheoretischen Kulturtheorie auf jeden Fall festhalten: Kultur und Natur stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern Kultur ist Natur (des Menschen); sie ist im Hinblick auf seine biologische Evolution funktional und offensichtlich auch hinreichend adaptiv. In diesem Sinne stellt Hubert Markl fest:

 

„Die Kultur (ist) die wahre Natur des Menschen, seine spezifische Weise der Anpassung an die Welt, in die er sich hineinentwickelt hat, nicht Unnatur, nicht Gegennatur, sondern Eigennatur unserer Spezies.“ (Markl, zit. nach Voland, 2002, 277)

 

Und ebenso explizit formuliert der Giessener Soziobiologe Eckart Voland:

 

„Die letztlich im cartesianischen Dualismus verwurzelte ... und mehr oder weniger spannungsgeladen gedachte Dichotomie zwischen einer körperlichen, organischen, genetisch determinierten Natur des Menschen und seiner geistig, freien, künstlich erworbenen Kultur stellt sich in der monistischen Perspektive der Soziobiologie als Irrtum heraus. ‚Kultur via Natur‘ heißt die Kurzformel der Soziobiologie, die den angeblich tiefen Grabenbruch zwischen Natur und Kultur nicht sehen kann.“ (Voland, 2002, 285)

 

Damit können wir auch die am Ende des letzten Abschnittes offen gebliebene Frage beantworten: Ja, auch das, was wir „Moral“ nennen, ist als kulturelle Errungenschaft des Menschen Natur und ist zumindest in ultimater Hinsicht als Anpassungs„hypothese“ zu verstehen, deren Zweck es ist, zum Überlebenserfolg egoistischer Gene beizutragen.

 

Und nachdem nun keine der bisher gestellten Fragen mehr offen ist, komme ich zum letzten Punkt im Reigen der evolutionstheoretischen Erklärungen, zur Schlüsselfrage nämlich, was aus alledem für das Thema „Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens“ folgt:

 

3.6. Das menschliche Leben als Sinn und Unsinn

 

Auch diese Frage ist im Grunde sehr einfach und klar zu beantworten: Der Sinn des menschlichen Lebens ist: genetische Reproduktion. Das ist „der letzte Grund unserer Existenz“ (Dawkins, 42002, 51), der ultimate Zweck, zu dem unsere Gene uns im Laufe der menschlichen Phylogenese als ihre Überlebensmaschinen konstruiert haben, der biologische Sinn unseres Seins.

Und? Nichts „und“ – damit hat sich’s. Über diesen biologisch funktionalen Sinn hinaus, Vehikel für die egoistische Interessenverwirklichung unserer genetischen Reiter zu sein, gibt es keinen „höheren“ Sinn12, weshalb bereits die Frage nach diesem Sinn sinnlos ist (vgl. Weinberg, 1999). Unser Leben ist in einem absoluten Sinne so sinnlos, so absurd wie die gesamte Evolution, die reine Faktizität ist, blind, ziellos, ohne jegliche Eschatologie. Es gibt, was es gibt, was existiert, evolviert ist und weiter evolviert, vermutlich bis dereinst die Sonne

zum roten Riesen anschwillt und alles Leben auf der Erde erlischt. Und „subspecie aeternitatis“ ist daher einfach alles nur lächerlich: Die Mühen der Mutter Theresa ebenso wie die Mühen Gandhis ebenso wie die Mühen Stalins und Hitlers – lächerlich! Das medizinische Ringen um den „Sieg“ über Krankheiten und immer neue technische Hilfsmittel zur Lebensverlängerung bzw. Sterbensverzögerung – lächerlich! Die maßlose Gier globaler Raubtier-Kapitalisten ebenso wie das Gutmenschtum von Weltethos-Träumern – lächerlich. Dieser Vortrag – lächerlich! Also formuliere ich es wegen der Lächerlichkeit meines Vortrags vielleicht lieber mit einem Literaturnobelpreisträger:

„Wenn man an nichts glaubt, wenn nichts einen Sinn hat und wenn wir keinen Wert bejahen können, ist alles möglich und nichts von Wichtigkeit. [...] Man kann die Verbrennungsöfen schüren, so wie man sich der Pflege Leprakranker widmet. Bosheit und Tugend sind Zufall oder Laune.“ (Camus, 252003, 11) 

 

Oder lassen Sie es mich – um ein weiteres kulturelles Meisterwerk zu rezipieren – mit dem Ende der „Rocky Horror Picture Show“ ausdrücken:

„And crawling on the planet’s face some insects, 

called the human race, 

lost in time and lost in space and the meaning …”

Und damit ist – so ganz nebenbei – auch die leidige Theodizee-Problematik dahingehend gelöst, dass es überhaupt kein Problem gibt. Einen Gott, den man

wegen der Übel der Welt anklagen oder anrufen könnte, gibt es nicht. Und die Welt ist, wie sie ist; sie stellt die Lebewesen, die in ihr entstanden sind, vor faktische Herausforderungen, gibt Bedingungen des Lebens und Überlebens vor, mit denen diese Lebewesen irgendwie klar kommen, an die sie sich anpassen müssen. Und manchmal treten eben Bedingungen auf, an die eine bestimmte Spezies schlecht oder gar nicht angepasst ist – und das ist dann im Zweifel für diese Spezies fatal, bzw. letal. Konkret: Wenn das Packeis schmilzt, ist für die Eisbären Feierabend und mit dem Regenwald stirbt auch Balu der Bär. Oder noch konkreter: Für eine gemeine Stubenfliege ist so ein Tsunami im Zweifel kein Problem – für die „Krone der Schöpfung“ im Zweifel sehr wohl ... Deshalb kann man sich die Sache mit dem Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens auch ganz einfach an der simplen Vorstellung verdeutlichen, dass die Menschheit aufgrund einer hinreichend signifkanten Veränderung der Lebens und Überlebensbedingungen für diese Spezies über kurz oder lang wieder aus dem evolutiven Rennen verschwinden, dass sie einfach aussterben könnte, wie schätzungsweise 99,9 % aller Arten, die vor ihr auf der Erde existiert haben. Na und? Dann ist sie halt weg, die Menschheit, kein Problem für die Erde; es wäre – erdgeschichtlich betrachet – lediglich ein belangloses Episödchen zu Ende. Und die Frage nach einem „Sinn“ dieses Episödchens erübrigt sich ebenso wie die Frage nach dem „Sinn“ des Lebens und Aussterbens des Barbados- Waschbärs, des tasmanischen Beutelwolfs und des Schweinsfuß-Nasenbeutlers.

Und ob und wie die Erde und die auf ihr stattfindende biologische Evolution das Verschwinden der Menschheit in den weiteren Milliarden Jahren ihrer Existenz „kompensieren“ wird, auch über diese Frage können wir nur spekulieren – aber manches spricht dafür, dass sich der Planet Erde dereinst bei seiner nächsten Begegnung mit seinem Planeten-Kollegen in den unendlichen Weiten des Alls in einer weitaus besseren Verfassung präsentieren würde ...

In diesem Zusammenhang kann man daher in einem Aufwaschen auch das „anthropische Prinzip“ abhaken – jedenfalls in der Version der These, dass dieses Universum genau so beschaffen ist, bis in die Feinabstimmung hinein genau die Bedingungen aufweist, dass sich in ihm bewusstes menschliches Leben entwickeln konnte. Denn erstens „mieft“ dieses Prinzip doch ganz erheblich nach Tautologie: Ein Universum, in dem bewusstes menschliches Leben existiert, ist genau so beschaffen, weist genau die Bedingungen auf, dass sich in ihm bewusstes menschliches Leben entwickeln konnte – na toll ... Zweitens ist aber zu fragen, ob jenes „anthropische Prinzip“ nicht letztendlich nur der alte „Krone der Schöpfung“-Mythos unter der natur„wissenschaftlichen“ Tarnkappe ist, folglich nichts weiter als ein moderner Ausdruck der wirklich unvergleichlichen menschlichen Überheblichkeit. Wäre es denn nicht ebenso sinnvoll – erd- und evolutionsgeschichtlich sogar wesentlich angemessener – statt vom anthropischen etwa vom „blattanischen Prinzip“ zu sprechen? Denn dieses Universum ist genau so beschaffen, weist genau die Eigenschaften auf, dass sich in ihm die gemeine Küchenschabe – blatta germanica – entwickeln konnte. Und blatta germanica existiert nicht nur bereits wesentlich länger auf der Erde, sondern wird mit hoher Wahrscheinlichkeit noch durch den Erdenstaub krabbeln, wenn das ephemere Evolutionsphänomen „homo“ längst verschwunden sein wird. Und das „beweist“ doch wohl, dass blatta germanica das besser angepasste, folglich „höhere“

Lebewesen ist. Also: Vergesst den Menschen – es lebe die Kakerlake!13 Aber das ist doch nun wohl der Gipfel des Schwachsinns! Sind es denn nicht die

besonderen Fähigkeiten des Menschen wie reflexives Selbstbewusstsein und Vernunft, die ihn evidentermaßen zum höheren Lebewesen machen, unendlich über die Tierheit erhoben? Nein! Einmal abgesehen davon, dass der Mensch bekanntlich seine sogenannte „Vernunft“ ohnehin in aller Regel nur braucht, „um tierischer als jedes Tier zu sein“, stellt sich nämlich eine ziemlich simple Frage: Welcher logisch gültige Schluss kann aus dem Vorliegen bestimmter Eigenschaften einer Spezies auf deren „Wert“ und „hierarchische Stellung“ im Spektrum des organischen Lebens gezogen werden, selbst wenn kein anderes Lebewesen auf der Erde über diese Eigenschaften verfügt? Man kann in so einem Fall messerscharf schließen, dass diese Spezies diese und jene Eigenschaft aufweist, dass möglicherweise keine andere Spezies diese oder jene Eigenschaft evolviert hat und dass diese oder jene Eigenschaft sich zumindest bisher für die betreffende Spezies als überlebensdienlich erwiesen hat. Punkt. Das ist auch schon alles. Festzustellen, welche Eigenschaft welcher Spezies nun „höher“ ist, dazu fehlt uns schlicht das objektive Kriterium – und aus menschlicher Perspektive die menschlichen Eigenschaften als die „höchsten“ zu deklarieren, das hat doch einfach nur was Rührendes, oder was Lustiges, oder auch was einfach Peinliches, wie man’s halt nehmen will – jedenfalls wenn man die Frage nach der evolutiven Zweckmäßigkeit eines solchen Speziesismus mal einen Augenblick außer Acht lässt.

Aber Moment: Lässt sich nicht die These, dass der Mensch das höchste aller Lebewesen ist, auch biologisch durch die Tatsache beweisen, dass wir Menschen das Ende der Nahrungskette bilden? Mit Verlaub, aber: Da kichern doch die Bakterien ...

 

4. Wie geht man mit diesem „Befund“ um?

 

Soviel zum „Befund“ – nun zur Frage, wie man mit diesem „Befund“ umgehen, wie man mit ihm fertig werden kann, philosophisch, vor allem aber lebenspraktisch – denn dass dieser Befund eine massive Infragestellung des menschlichen Selbstverständnisses als „besonderem“ Lebewesen oder gar als „Endzweck der Schöpfung“ darstellt, liegt wohl auf der Hand. Zu diesem „therapeutischen“ Problem abschließend und in aller Kürze zwei mögliche Alternativen:

 

4.1. Ablehnung und/oder Verdrängung

 

Selbstverständlich ist es jederzeit möglich, bereits die Zentralprämisse „Gott ist tot“ zurückzuweisen. Denn es handelt sich bei dieser Prämisse natürlich keineswegs um einen „einfachen Tatbestand“, sondern um eine metaphysische Hypothese, deren Wahrheit nicht zu beweisen ist – ganz sicher jedenfalls nicht im Sinne einer einfachen Tatsachenbehauptung. Außerdem: Woher weiß der Evolutionstheoretiker eigentlich so genau, wie das „wirklich“ war, am Anfang des Universums? Selbst Edward O. Wilson, der „Vater“ der modernen Soziobiologie, räumt in seinem Buch „Biologie als Schicksal“ unumwunden ein, dass die Evolution ein spekulatives Mythos ist, und zwar bereits deshalb, weil nun einmal

kein Mensch beim Urknall dabei und kein Mensch unmittelbarer Beobachter des

Köchelns der Ursuppe war (vgl. Wilson, 1979, S. 181; vgl. entspr. Dawkins, a.

a. O., 43). Kann man dem „allwissenden“ Evolutionstheoretiker daher nicht völlig

zurecht szientistischen Größenwahn vorwerfen? Wenn aber die Evolution selbst ein unbeweisbarer Mythos ist, wieso sollte es dann nicht legitim sein, an irgendeinen anderen Mythos zu glauben, z. B. an einen guten und gerechten Gott? Der lässt sich zwar auch nicht beweisen, entspricht aber meinem „Vernunftbedürfnis“ und meinem unauslöschlichen Sinnverlangen wesentlich besser; er tröstet, wärmt, macht das Leben erträglicher, nimmt mir die Angst. Demzufolge ist doch eine positive Metaphysik evidentermaßen wesentlich besser geeignet, den, der an sie glaubt, lebens- und überlebenstüchtiger zu machen.14

Umgekehrt: Ist es nicht bereits deshalb ratsam und vernünftig, die unbeweisbare evolutionäre Metaphysik der Sinn-, Trost- und Hoffnungslosigkeit zurückzuweisen, weil sie schlicht und einfach gefährlich ist? Wenn es Gott nicht gibt – heißt es bei Dostojewski –, dann ist alles erlaubt. Dann gibt es keine Moral, nichts, woran man sich orientieren und auf dessen Beachtung man andere verpflichten könnte. Dann ist letztendlich wirklich alles eine Frage der Macht, „Wahrheit“ ist das, was sich jeweils durchsetzt und „gerecht“ immer das, was dem Mächtigeren nützt. Können, dürfen wir das wollen?

Kein Zweifel: Diese „Tür“, die Evolutionstheorie samt ihren sinn-losen Konsequenzen abzulehnen und Zuflucht zu suchen in einer positiven Metaphysik, ist nicht einfach nur ein psychologischer „Trick“, sondern eine philosophisch völlig legitime Möglichkeit, da sie begründungstheoretisch um keinen Deut schlechter dasteht als die Evolutionstheorie.15

Was aber, wenn man mit Max Scheler diese positive „Lösung“ mit dem markigen Hinweis abschmettert, dass Metaphysik nun einmal keine Versicherungsanstalt für schwache, stützungsbedürftige Menschen ist, folglich das Opium der Religion konsequent abzulehnen ist und es vielmehr darauf ankommt, sich den „gefährlichen Wahrheiten“ (Wurm, 1991, Untertitel; vgl. Scheler, 111988, 92) zu stellen? Überhaupt, was das Gefährlichkeits-Argument anbelangt: Erstens kann die potenzielle „Gefährlichkeit“ eines Unternehmens in der Tat kein hinreichender Grund sein, es nicht in Angriff zu nehmen. Und zweitens läuft das Argument der „Gefährlichkeit“ auf eine simple Bestätigung der These hinaus, dass alles eine Frage der Macht ist. Denn wenn der Hinweis auf die Gefährlichkeit der Metaphysik der Sinn-, Trost- und Hoffnungslosigkeit dazu führt, Gott am Leben und die Moral gelten zu lassen, dann bedeutet dies doch – frei nach Nietzsche und dem Marquis de Sade – nichts anderes als die Fortsetzung der Herrschaft der Mittelmäßigen und Schwachen über die Starken und Freien, denn die sehen entweder keine „Gefahr“ oder sind eben bereit, sich ihr zu stellen.

 

4.2. „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen“ – das absurde Glück des Sisyphos

 

Aber welche Möglichkeiten bleiben dem, der sich der gefährlichen „Wahrheit“ von der Sinn-, Trost- und Hoffnungslosigkeit, von der Absurdität des (menschlichen) Lebens zu stellen bereit ist? Völlige Verzweiflung und Selbstmord? Hedonistischer Egoismus und romantische Raserei – „nach mir die Sintflut!“? Ja, das sind Möglichkeiten – freilich absurde.16 Aber können wir nicht auch die Frage stellen, was denn eigentlich so furchtbar ist an der Vorstellung, dass wir nur dieses eine Leben haben und es darüber hinaus keinen Sinn gibt? Ist es nicht eine reichlich pubertär-hysterische Reaktion, auf diese Vorstellung gleich mit Verzweiflung, Selbstmord, Raserei zu reagieren? Sicher: Die Sinn-, Trost- und Hoffnungslosigkeit der Welt, die Einsicht, dass das Paradies endgültig und unwiederbringlich verloren ist, wirft uns in radikaler Weise auf uns selbst zurück. Aber inwiefern „folgt“ daraus, dass unser Leben auf der Erde, unser Leben mit anderen Menschen, sinnlos und ohne Wert sein sollte, so absurd es in metaphysischer Hinsicht auch sein mag? „Ist der Sinn des Lebens ausgestrichen, bleibt immer noch das Leben“, schreibt Camus (Camus, 252003, 71). Und ist nicht das Leben an sich bzw. das Am-Leben-Bleiben bereits ein faktisches Werturteil – „Atmen heißt urteilen“ (Camus, 252003, 15).

Wir sind in diese Welt geworfen und an dieses Dasein gebunden wie Sisyphos an seinen Stein. Und wieso sollten wir nicht die „verborgene Freude“ des Sisyphos teilen, dass dieses Schicksal ihm gehört, und dass es alleine seine Sache ist, dieses Schicksal anzunehmen und es zu gestalten, zu schaffen, ihm einen Wert zu geben? – „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen“ (Camus, 62004, 160). Und reicht das nicht aus, das eigene Leben trotz seiner Absurdität als sinnvoll empfinden zu dürfen, am Ende vielleicht sogar als geglückt? Oder lügt sich Sisyphos doch nur in die Tasche; ist die Lehre vom möglichen Sinn und Wert eines „an sich“ sinn- und wertlosen Lebens doch nichts weiter als das (überlebensdienliche ...) Opium des absurden Menschen?

 

1 Die „dünne braune Suppe“ mag sich lächerlich anhören, geht aber zurück auf Experimente von S. L. Miller aus dem Jahr 1953, in denen die (angenommenen) Bedingungen der „Uratmosphäre sowohl in ihrer chemischen Zusammensetzung als auch in ihrer Strahlungssituation nachgeahmt [wurden]“ (Maturana/Varela, 1987, 51).

 

2 Auf den Einwand, dass die Entwicklung eines solchen Moleküls doch „sehr unwahrscheinlich“ gewesen sei, antwortet Richard Dawkins: „Es war sogar mehr als unwahrscheinlich. Während eines Menschenalters können Dinge, die derart unwahrscheinlich sind, als praktisch unmöglich angesehen werden. [...] Aber bei unseren menschlichen Begriffen davon, was wahrscheinlich ist und was nicht, sind wir nicht gewohnt, mit Hunderten von Jahrmillionen zu rechnen“ (Dawkins, a. a. O., 44).

 

3 Der Einwand, wie dann erklärt werden kann, wieso zwei Menschen sich über ein und denselben Gegenstand ihrer autopoietischen Wahrnehmungen unterhalten und verständigen können, ist zwar naheliegend, entkräftet aber nicht die These. Denn die beiden Menschen, die sich über ein und denselben „Baum“ oder „Stein“ oder „Bierkrug“ verständigen, gehören nun einmal derselben Klasse von Überlebensmaschinen an, weshalb es alles andere als verwunderlich ist, dass sie in ähnlicher oder nahezu gleicher Weise funktionieren, mit Umweltperturbationen umgehen. Und wenn man (mit Maturana und Varela) davon ausgeht, dass Sprache als allmählich evolviertes System koordinierter Perturbationen zwischen autopoietischen Systemen verstanden werden kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass die beiden Menschen sich mit den Begriffen „Baum“, „Stein“ oder „Bierkrug“ tatsächlich auf ein und denselben Gegenstand ihrer vollständig subjektiven, systemimmanenten Wahrnehmungen beziehen; vgl. Maturana/Varela, 1987, 221-240.

 

4 Streng genommen gibt die Hirn- und Kognitionsforschung sogar einer noch wesentlich älteren philosophischen Einsicht recht, nämlich dem homo-mensura-Satz des Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Allerdings stimmt das natürlich auch nur bedingt, da der Mensch mitsamt all seinen Systemeigenschaften als Produkt biologischer Anpassungsprozesse zu betrachten ist, diese Systemeigenschaften (einschließlich dem Erkenntnisapparat) also als Versuche der Spezies Mensch zu verstehen sind, dem durch die jeweiligen Lebens- und Überlebensbedingungen seiner Umwelt erzeugten selektiven Druck

hinreichend „gerecht“ zu werden bzw. zu entsprechen.

 

5 Denn es ist natürlich eine unsinnige Vorstellung, dass es im menschlichen Genom ein identifizierbares Gene gibt, dass beispielsweise für die Entwicklung eines Ohrs, ein anderes,

dass für die Entwicklung der Zunge „zuständig“ wäre usw. Aller vollmundig verkündeten „Entschlüsselung des menschlichen Genoms“ zum Trotz wird man vielmehr sagen können, dass die „Wissenschaft“ vom komplexen Zusammenspiel der DNA-Sequenzen bei der „Schaffung“ und autopoietischen „Selbsterhaltung“ eines Organismus noch so gut wie gar nichts weiß.

 

6 Die Begriffe „Ereignis“ und „Revolution“ sind hier natürlich nicht im Sinne eines spontanen, momenthaften, kurzfristig realisierten Umbruches in der Menschheitsgeschichte zu verstehen; vielmehr nahm die besagte „neolithische Revolution“ mehrere tausend Jahre in Anspruch. Mit „Revolution“ ist also nur in faktischer Hinsicht eine radikale Änderung der menschlichen Lebensgewohnheiten gemeint.

 

7 Insofern ist Hegels Gedanke, dass die Landwirtschaft, die agri-cultura, am Anfang der menschlichen Kulturgeschichte stand, aus der modernen kulturanthropologischen Perspektive

durchaus bestätigt.

 

8 Abgesehen von dem „Druck“ zur Entwicklung und Verbesserung von Werkzeugen, Bearbeitungs- und Anbaumethoden, der folglich ebenfalls „kulturstiftend“ wirkte – nicht zuletzt insofern, als unterschiedliche Boden- und Klimabedingungen auch einen unterschiedlichen selektiven Druck erzeugten.

 

9 Es liegt auf der Hand, dass die Ackerbauern und Viehzüchter, deren Überleben von der möglichst exklusiven Nutzung „ihres“ Territoriums abhing, bei der Verteidigung dieses Territoriums wesentlich aggressiver vorgehen mussten als dies bei der nomadischen Lebensweise noch erforderlich gewesen war. Die biblische Geschichte von Kain, dem Ackerbauern, der seinen Bruder Abel, den Jäger, erschlägt, ist ein bemerkenswertes Sinnbild für diese Entwicklung im Rahmen der „neolithischen Revolution“. Und auch dieser „Druck“ zur effizienteren Verteidigung der lebenswichtigen „eigenen“ Territorien wirkte kulturstiftend, da auch hier – völlig analog zur Konkurrenz der Ursuppen-Replikatoren um knappe Ressourcen – ein Wettbewerb zwischen offensiven und defensiven Strategien in Gang gesetzt wurde.

 

10 Diesbezüglich bietet das alte Testament reichlich interessanten Lesestoff – man denke etwa an den Ausrottungskrieg der Israeliten gegen die Medianiter –, und auch der biogenetische „Sinn“ des „Raubs der Sabinerinnen“ lässt sich vor diesem Hintergrund leicht erschließen.

 

11 Mit dieser Entwicklung ging also – Nietzsche hatte insofern völlig Recht! – in der Tat die Domestizierung der Menschen, vor allem der Menschen-Männchen einher, die nicht mehr wie in den vormaligen Kleingruppen gleichsam hemmungslos ihre reproduktiven Interessen durchsetzen konnten.. Die Sublimierung dieser gehemmten Interessenrealisierung führte nicht nur zur Ausbildung des (schlechten) Gewissens, wie Nietzsche meinte, sondern dürfte auch einer der wesentlichen Auslöser der Kunst gewesen sein (die freilich umgekehrt wiederum eine Werbe-Funktion in der Konkurrenz um den Zugang zu Fortpflanzungsressourcen haben konnte).

 

12 Wenn man einmal davon absehen will, dass der menschliche Körper – der folglich nicht das Ende der Nahrungskette ist – den „Sinn“ hat, nach seinem Tod Bakterien als Nahrung zu dienen und auf diese Weise (gleichsam „buddhistisch“ betrachtet) in den Kreislauf zurückzukehren.

 

13 Wenn man das Kriterium der Langlebigkeit als Maßstab für „Bestangepasstheit“ annimmt, wäre es sogar noch viel sinnvoller, vom „bakteriologischen“ oder dem „Algen-Prinzip“ zu sprechen, da Bakterien und Algen vermutlich die mit riesigem Abstand ältesten Lebewesen auf der Erde sind (vgl. Maturana/Varela, 1984, 47 f.).

 

14 Insofern könnte (bzw. kann) die evolutionäre Anthropologie auch erklären, wieso (die allermeisten) Menschen nicht an eine negative Metaphysik der Sinn-, Trost- und Hoffnungslosigkeit glauben wollen, sondern eine wie auch immer konkret ausformulierte positive Metaphysik bevorzugen: Sie ist einfach angenehmer, psychisch und emotional „verträglicher“; deshalb sind die positiven Metaphysik-„Meme“ im evolutiven Wettbewerb der „Meme“ plausiblerweise wesentlich erfolgreicher als ihre negativen Konkurrenten

 

15 Wolfgang Wickler argumentiert in seinem 1971 erschienenen Buch „Biologie der 10 Gebote“, dass Gott selbstverständlich nur eine menschliche Erfindung sei, Projektion menschlicher Ur-Ängste. Aber da es nun einmal eine nützliche, überlebensdienliche Illusion sein, glaube er an ihn. Die „Schizophrenie“ dieses Ansatzes versuchen Theorien der Vereinbarkeit von Evolution und Schöpfung zu vermeiden, wie sie etwa Teilhard de Chardin oder aktuelle „intelligent design“-Theoretiker entwickelt haben. Letztere argumentieren beispielsweise, dass die Evolution widerspruchsfrei als die Methode Gottes verstanden werden kann, seine eschatologischen Pläne zu verwirklichen.

16 Sich umzubringen, weil man die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins nicht ertragen kann,  heißt, den Wert des eigenen Daseins nicht nur anzuerkennen, sondern ihn paradoxerweise unendlich hoch einzuschätzen.

 

Literatur:

Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg 252003.

Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 62004.

Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Reinbek bei Hamburg 42002.

Maturana, Humberto R. u. Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen

Wurzeln menschlichen Erkennens, Bern/München 1987.

Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 41984.

Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen

Konsequenzen, Frankfurt/Main 1997.

Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 111988.

Voland, Eckart: Die Natur der menschlichen Kultur – Sechs Antworten der Soziobiologie auf

fünf Fragen der Kulturethologie, in: Liedtke, Max (Hg.): Matreier Gespräche - Orientierung

in Raum, Erkenntnis, Weltanschauung, Gesellschaft, Graz 2002, 275-286.

Weinberg, Steven: „Zur Bedeutung der Weltformel“, in: Der Spiegel, Nr. 30 (1999), 191 ff.

Wilson, Edward O.: Biologie als Schicksal, Berlin 1979.

Wurm, Wolfgang: Evolutionäre Kulturwissenschaft. Die Bewältigung gefährlicher Wahrheiten

oder über den Zusammenhang von Psyche, Kultur und Erkenntnis, Stuttgart 1991.

 

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