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Das Pfingstfest soll nach christlichem Verständnis an den „göttlichen Ursprung des Menschen“ erinnern. Während einer Wanderung am Pfingstmontag machte sich der Biologe Prof. Dr. Kutschera Gedanken über die Bedeutung dieses Festes.

 
 

Methodischer Naturalismus und geistlose Evolutionsforschung
Prof. Dr. Ulrich Kutschera
www.giordano-bruno.stiftung.de



Ein Erlebnisbericht

Am Pfingstmontag, den 31. Mai 2004, bin ich um neun Uhr morgens zu einer mehrstündigen Wanderung durch den Habichtswald bei Kassel aufgebrochen. Mein Ziel war es, in entlegenen Tümpeln weitere Exemplare des zweiäugigen Plattegels (Helobdella stagnalis Linné 1758) zu sammeln. Vor über zwanzig Jahren hatte ich entdeckt, dass dieser unscheinbare, ca. 15 mm lange Verwandte des Regenwurms nicht nur seine Eibehälter (Kokons), Larven und Jungtiere am Bauch trägt, sondern auch die 10 – 20 Miniatur-Egel ("Kinder") mit eingefangenen Beutetieren füttert. Eine derart komplexe ("hoch entwickelte") Form der Brutpflege war damals noch bei keinem Vertreter der Ringelwürmer (Annelida) beschrieben, so dass unsere Originalarbeit in der Fachwelt einiges Aufsehen erregte (Kutschera und Wirtz 1986): So brachte z. B. das britische BBC Wildlife Magazine einen Kurzbeitrag mit dem Titel "Good mother leech" heraus, in dem die Entdeckung der beiden deutschen Evolutionists U. Kutschera & P. Wirtz besprochen und gewürdigt wurde. Diese Anerkennung meiner jahrelangen Untersuchungen zur Fortpflanzungsbiologie und Stammesentwicklung im Wasser lebender Ringelwürmer (aquatischer Anneliden) gaben meinem angeborenen Forscherdrang weiteren Auftrieb: während der Postdoc-Jahre in den USA (Stanford University, Michigan State University, 1985 – 1988, Forschungsgebiet: experimentelle Pflanzenphysiologie) habe ich in meiner Freizeit nordamerikanische Helobdella-Arten untersucht und das evolutiv weit fortgeschrittene Brutpflegeverhalten dieser zweiäugigen "Sumpfsauger" weiter erforscht und dokumentiert (Kutschera, 1988, 1989).

Belebte Materie und der Geist

Bei meinem Pfingstausflug bin ich an der evangelischen Kirche in Kassel-Harleshausen vorbeigegangen und habe mir ein Exemplar der Zeitschrift Blick in die Kirche/ Juni 2004 geholt, um unterwegs während einer Pause etwas zum Lesen zu haben. In diesem vom Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck herausgegebenen Magazin sind immer recht informative Beiträge über "Gott und die Welt" abgedruckt. Als ich die ersten Helobdella-Exemplare von Steinen abgesammelt und in einem Plastikgefäß untergebracht hatte, begann ich damit, das "Kirchenmagazin" zu studieren. Unter der Überschrift "Lebensfreude, Kreativität, Aufbruch – Pfingsten erinnert an den göttlichen Ursprung des Menschen und gilt als Geburtstag der Kirche" wurde ich über den arbeitsfreien Tag, den ich zu einer wissenschaftlichen Exkursion nutzte, wie folgt informiert.

Nach dem Tod Jesu von Nazareth am Kreuz kam die von ihm initiierte Bewegung nach und nach zum Stillstand. Seine Anhänger waren sich nicht sicher, wie es weitergehen sollte, d. h. Jesu Botschaft von der Nähe des christlichen Gottes zu den Menschen drohte in Vergessenheit zu geraten; an Pfingsten trat überraschend eine Wende ein. So sollen 50 Tage nach Christi Auferstehung an Ostern "wieder alle, die zu Jesus hielten, versammelt gewesen sein". In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments findet man die folgende Erzählung: "Plötzlich gab es ein mächtiges Rauschen, wie wenn ein Sturm vom Himmel herabweht. Das Rauschen erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Dann sahen sie etwas wie Feuer, das sich zerteilt, und auf jeden ließ sich eine Flammenzunge nieder. Alle wurden vom Geist Gottes erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, jeder und jede, wie es ihnen der Geist Gottes eingab". Weiterhin wurde ich im oben zitierten Kirchenheft darüber informiert, dass es, historisch betrachtet, erstaunlich ist, dass dieses "biblische Wunder" den Beginn der Ausbreitung der christlichen Botschaft und der Mission markierte: aus kleinsten Anfängen erwuchs eine Bewegung, die über Völker- und Sprachgrenzen hinweg zu einer der größten Weltreligionen mit heute rund zwei Milliarden Gläubigen wurde. Diese "Ausgießung des heiligen Geistes" wird von bibeltreuen Christen auch als "Pfingstwunder" bezeichnet. Das Kirchenfest Pfingsten erinnert als Abschluss der Osterfeierlichkeiten an den "göttlichen Ursprung" des Menschen.

Wie erklärt die moderne christliche Theologie den "Heiligen Geist"? Auf S. 12 und S. 15 von Blick in die Kirche/Juni 2004 werden folgende Definitionen gegeben: Er gilt als der "Lebensatem der christlichen Kirche", als das "schöpferische und lebendig machende Prinzip Gottes", als Kraft, die "das Leben schafft und lenkt". Im Alten Testament wird dieses Dogma präzisiert: "Alles, was ist, ist nicht aus sich selbst heraus, sondern verdankt sich einer Kraft, die ins Dasein ruft und im Dasein erhält. Diese schöpferische Kraft wird Geist Gottes genannt".

Nachdem ich diese Pfingstbotschaften gelesen hatte, wandte ich mich wieder der naturalistischen Ringelwurmforschung zu und suchte einen entlegenen Waldtümpel nach brütenden Helobdella-Exemplaren ab.

 

Historische Rekonstruktionen ohne Geist

Während der Freiland-Tümpeltätigkeit (Herausfischen entsprechender glatter Ge-genstände, an denen sich die Egel anheften; Absuchen der Flächen nach den gut "getarnten" , d. h. an die Umwelt adaptierten Würmer) dachte ich über das gerade Gelesene nach. Zunächst wird vom "göttlichen Ursprung" des Menschen gesprochen. Die moderne Evolutionsforschung hat eindeutig gezeigt, dass der Spezies Homo sapiens keine biologische Sonderstellung im Reich der Organismen zukommt: wir haben uns über die Zwischenstufe H. erectus vor ca. einer Million Jahren in Afrika zum anatomisch modernen Menschen entwickelt und sind genetisch zu 98,5 % mit unseren tierischen Brüdern, den Menschenaffen (Schimpansenarten Pan troglodytes bzw. Pan paniscus) identisch (Kutschera 2001). Diese durch Dokumente (Fossilfunde) und Experimente (DNA- und Protein-Sequenzanalysen) belegte Tatsache steht im Widerspruch zur postulierten (geglaubten) Sonderstellung unserer Spezies. Sieht man einmal davon ab, dass der Mensch eine ungewöhnlich lange postreproduktive Lebensphase durchläuft (bei Frauen derzeit durchschnittlich vom 45. bis zum 80. Le-bensjahr), gibt es eigentlich nur graduelle, nicht jedoch grundlegende Unterschiede zwischen den Spezies H. sapiens und P. troglodytes (Schimpansenweibchen sterben in der Natur bald nach der Aufzucht ihres letzten Babys, d. h. sie werden keine Großmütter).

Das christliche Glaubensdogma von der "göttlichen Sonderstellung" unserer Spezies ist somit durch objektive Fakten widerlegt; bereits Charles Darwin hatte in seinen Werken diese Schlussfolgerung gezogen, obwohl die Datenlage vor 130 Jahren noch dürftig war (Junker und Hoßfeld 2001, Junker 2004, Kutschera 2001, 2004).

Das "Pfingstwunder" ist eine christliche Legende, für die es keine unabhängigen Belege gibt: man kann daran glauben oder auch nicht. Die naturwissenschaftliche Forschung – von der Physiologie bis zur historischen Rekonstruktion der Stammesentwicklung (Phylogenese) einzelner Tier- oder Pflanzengruppen – basiert im Gegensatz dazu auf dem methodischen Naturalismus: nur real existierende Dinge, die durch Beobachtung/Vergleich (bzw. Experimente) analysiert werden können, sind in die Theorienbildung einzubeziehen. Unfassbare, abstrakte Größen wie "Geister, Götter, intelligente Designer, Lebenskräfte" oder übernatürliche "Wunder" sind nicht Ge-genstand naturwissenschaftlicher Forschungs- und Deduktionsarbeit. Theorien, die z. B. auf biblischen Wundern (göttlichen "Schöpfungsakten") basieren, sind nicht als wissenschaftlich einzustufen, da die bewusste methodische Beschränkung des Na-turforschers (und -denkers) hier aufgehoben wird: die "Schöpfungstheorien" sind pseudowissenschaftliche Konstrukte christlich-religiöser "Theo-Biologen" (Kutschera 2004).

Aus dem Gesagten folgt, dass die Evolutionsforschung (u. a. die historische Rekon-struktion von Abstammungsreihen) im christlichen Sinne "geistlos" ist, da gemäß dem Prinzip des Naturalismus die Natur aus sich selbst heraus erklärt wird, ohne Einbeziehung supranaturalistischer Götter, Geister oder Designer.

 

Methodischer Atheismus und Evolution

Als 1996 der amtierende Papst der katholischen Kirche die Evolution formal anerkannt hatte, schien der große Konflikt "Christlicher Glaube/Biologie" bereinigt gewesen zu sein (Kutschera 2001, Kotthaus 2003). Bei genauer Analyse der päpstlichen Dokumente wird allerdings deutlich, dass das Oberhaupt der Katholiken nur die theistische, nicht jedoch die naturalistische Evolution akzeptiert hat. Im Kreationismus/Evolutions-Kontinuum ist der Papst eine Stufe "nach oben" gerückt – von einer Akzeptanz der naturalistischen ("geistlosen") Denkweise des modernen Evolutionisten ist er weit entfernt. Das wird sich auch nicht ändern, da die Katholiken durch Akzeptanz des Naturalismus ihre Glaubensbasis aufgeben müssten (Kutschera 2004). So lassen sich z. B. auch die deutschen Evolutionsgegner (Kreationisten bzw. Intelligent-Design-Theoretiker), wie z. B. der frühere Gymnasiallehrer und Theologe R. Junker, der Mikrobiologe S. Scherer oder der Genetiker W.-E. Lönnig, in der Kreations/Evolutionsskala einordnen: sie setzen sich z. B. von den Flache-Erde-US-Kreationisten ("flat earthers") ab, sind jedoch konservativer als der amtierende Papst (es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass der Kreationist R. Junker mit dem Biologiehistoriker/Evolutionist T. Junker weder bekannt noch verwandt ist). Die wahren religiösen Hintergründe des modernen Euro-Kreationismus habe ich in einem aktuellen Buch offengelegt, wo auch die Grundlagen und Prinzipien der Evolutionsforschung in Kurzform beschrieben sind (Kutschera 2004).

Der hier dargelegte methodische Naturalismus ist per Definitionem atheistisch: Eine spirituelle Größe wie z. B. der christliche Gott unserer Kirchen, wird in der modernen naturwissenschaftlichen Forschung ausgeklammert. Er spielt im Weltbild der meisten Biologen keine Rolle.

Fazit: Wissen statt Glauben

Pfingstmontag, 13 Uhr, Habichtswald bei Kassel. Die "Ausbeute" meiner Exkursion war reichhaltig: etwa 20 ausgewachsene Helobdella stagnalis-Individuen, meist mit Larven oder Jungtieren am Bauch. Die kleinen Egel hatten zum Teil dunkel gefärbte Darmblindsäcke, d. h. eine Jungenfütterung durch das "Muttertier" hatte im Tümpel stattgefunden (Egel sind, wie Regenwürmer, protandrische Zwitter, während der ersten Tage der Fortpflanzungsperiode fungieren sie als "Männchen", danach legen sie Eier ab und erfüllen die Funktion eines "Weibchens"). Bei genauer Betrachtung zeigte sich, dass die Tümpel-Populationen des Habichtswaldes aus auffällig dunkel pigmentierten Tieren bestehen; die aus Fließgewässern entnommenen "typischen" H. stagnalis-Individuen sind deutlich heller, fast weiß-durchschimmernd. Handelt es sich hierbei möglicherweise um Varietäten (Rassen, Subspezies) einer weit verbreiteten Art? Untersuchungen zur DNA-Basenabfolge (Sequenz mitochondrialer Gene), wie wir sie gerade für eine Reihe verwandter Ringelwurmspezies durchgeführt und publiziert haben, könnten zur Beantwortung dieser Frage beitragen (Nachweis von Mikroevolution auf molekularem Niveau ?). Auf alle Fälle sind die Waldtümpel-Varietäten "gute Mütter", d. h. sie füttern ihre schützend am Bauch getragenen Jungtiere mit Kleintieren (Mückenlarven, Würmern). Aus derartigen Beobachtungen und dem Vergleich mit zahlreichen anderen Egelarten haben wir vor Jahren eine Hypothese zur Evolution der Brutpflege bei Ringelwürmern abgeleitet (Kutschera und Wirtz 1986), die heute als robuste Theorie (gesichertes Hypothesensystem) in der Fachliteratur etabliert ist (Kutschera und Wirtz 2001, Kutschera 2001).

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, zieht ein Gewitter auf und es fängt an in Strömen zu regnen. Ich flüchte in eine Waldhütte, wo sich auch andere Spaziergänger, durchnässt und frierend, einfinden. Im (angefeuchteten) Kirchenma-gazin lese ich einen Aufruf an alle Christen, zu Pfingsten mit Rucksack und Zelten auf Wanderschaft zu gehen: "Losreisen, und mit der Familie den Alltag hinter sich lassen – raus aus der Enge". Auf der nächsten Seite wird erklärt, der "Geist Gottes weht, wo er will". Warum regnet es am Pfingstmontag, einem Tag der "Lebensfreude, Kreativität, Aufbruch", dem "Geburtstag der Kirche", so sehr, dass die Habichtswald-Wanderer (z. T. mit ihren Kindern) durchnässt und enttäuscht um 14 Uhr nach Hause flüchten? Hätten diese Naturfreunde (darunter einige ungläubige Evolutionisten und viele Christen) morgens gewusst, dass es um 13 Uhr regnen wird, so wären sie wohl kaum ohne Regenschutz auf "Pfingst-Tour" gegangen: Wissen statt Glauben – das Motto der Giordano-Bruno-Stiftung – kommt mir in den Sinn.

Vor zwei Jahrhunderten glaubten einige Naturforscher an eine Stammesentwicklung der Organismen. Heute, rund 145 Jahre nach Erscheinen von Darwins Hauptwerk,  wissen wir, dass Evolution eine Tatsache ist: die 1859 postulierte Abstammung mit Abänderungen aus weniger komplexen (einzelligen) Urformen hat tatsächlich stattge-funden (Kutschera 2001, Kutschera und Niklas 2004). Dennoch glauben viele Men-schen noch immer an "Schöpfungsakte des biblischen Gottes" bzw. des "Intelligenten Designers" (wer immer dieser auch sei). Dieses Faktum belegt, dass die "geistlosen" Evolutionisten noch viel Aufklärungsarbeit vor sich haben. Der seit Darwin aus-getragene "Streitpunkt Evolution" hat alle politischen Systeme überlebt und wird die an Ursprungsfragen interessierten Menschen auch weiterhin beschäftigen (Kutschera 2004). Weitere Informationen zur hier angesprochenen Problematik sowie Literatur-empfehlungen sind unserer Internetseite zu entnehmen: www.evolutionsbiologen.de.

 

Literatur:

Junker, T. (2004) Die zweite Darwinsche Revolution. Geschichte des Synthetischen Darwinismus in Deutschland von 1924 bis 1950. Basilisken-Presse, Marburg.

Junker, T. und Hoßfeld, U. ( 2001) Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Idee und ihre Geschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

Kotthaus, J. (2003) Propheten des Aberglaubens – Der deutsche Kreationismus zwi-schen Mystizismus und Pseudowissenschaft. Lit-Verlag, Münster.

Kutschera, U. (1988) A new leech species from North America, Helobdella californica nov. sp. (Hirudinea: Glossiphoniidae). Zool. Anz. 220, 173 – 178.

Kutschera, U. (1989) Reproductive behaviour and parental care of the leech Helob-della californica (Hirudinea: Glossiphoniidae). Zool. Anz. 222, 122 – 128.

Kutschera, U. (2001) Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung. Parey Buchver-lag, Berlin.

Kutschera, U. (2004) Streitpunkt Evolution. Darwinismus und Intelligentes Design. Lit- Verlag, Münster.

Kutschera, U., Niklas, K. J. (2004) The modern theory of biological evolution: an ex-panded synthesis. Naturwissenschaften 91, 255 – 276.

Kutschera, U.,Wirtz, P. (1986) Reproductive behaviour and parental care of Helob-della striata (Hirudinea: Glossiphoniidae): a leech that feeds its young. Ethology 72, 132 – 142.

Kutschera, U., Wirtz, P. (2001) The evolution of parental care in freshwater leeches. Theory Biosci. 120, 115 – 137.

Adresse des Autors: Prof. Dr. U. Kutschera, Institut für Biologie, Universität Kassel, Heinrich-Plett-Str. 40, 34109 Kassel. E-mail: kut@uni-kassel.de.


Der Artikel erschien erstmalig in Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ) 3/04.

 

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