Sein
letzter Wille Die Frage,
ob und inwieweit dem Sterben nachgeholfen werden darf, ist in unserer
Gesellschaft höchst umstritten Von Norbert Hoerster, In: ZEIT-Punkte Nr. 2 (1995),
S. 35-36. Intensivstation,
angeschlossen an Schläuche und Apparate - kaum jemand wird so sterben wollen.
Doch die Frage, ob und inwieweit dem Sterben nachgeholfen werden darf, ist seit
Jahren in unserer Gesellschaft lebhaft umstritten. Inwieweit in der Realität
Sterbehilfe geleistet wird, hängt daher weitgehend vom Ermessen und damit nicht
zuletzt von der weltanschaulich-moralischen Einstellung des jeweiligen Arztes
ab. Eine umfassende rechtliche Regelung der Sterbehilfe ist deshalb aus Gründen
der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung dringend erforderlich. Wie sollte
eine solche Regelung für die passive Sterbehilfe
aussehen? Passive Sterbehilfe heißt, den Patienten durch Verzicht auf eine mögliche
lebensverlängernde ärztliche Behandlung sterben zu lassen. Schlechthin jede ärztliche
Behandlung - gleichgültig ob in einem alltäglichen oder in einem sehr ernsten
Fall - bedarf der Zustimmung oder Einwilligung des Patienten. Ohne Zustimmung
darf ein Arzt weder ein Mittel gegen Schnupfen noch eine lebensrettende
Bluttransfusion applizieren. Der in unserem moralischen Denken wie in unserer
Rechtsordnung fest verankerte Grundsatz der Freiheit und Autonomie des
Individuums verbietet jede ärztliche Behandlung ohne Zustimmung - und dies
selbst dann, wenn die Behandlung langfristig gesehen für den Patienten selbst
(durch Rettung seiner Gesundheit oder seines Lebens) durchaus von Nutzen wäre
und seinem Wohl diente. Passive Sterbehilfe durch Verzicht auf Behandlung muß
also immer dann als zulässig betrachtet werden, wenn der Patient einer möglichen
Behandlung seine Zustimmung versagt beziehungsweise eine passive Sterbehilfe
ausdrücklich wünscht. Dieses
Ergebnis ist weitgehend unumstritten. Wie aber soll mit einem Patienten
verfahren werden, der - sei es vorübergehend oder dauerhaft - einwilligungsunfähig
ist, der also gar nicht in der Lage ist, die zu seiner Behandlung erforderliche
Zustimmung ausdrücklich zu erteilen beziehungsweise eine passive Sterbehilfe
ausdrücklich zu wünschen? Es wäre
sicher ganz unsinnig, in einem solchen Fall generell jede Behandlung als illegitim zu betrachten. Man denke nur an
den Fall eines bewußtlosen Unfallopfers, das, soll es nicht sterben, unverzüglich
operiert werden muß. Daß auch ohne eine ausdrückliche Zustimmung eine
Behandlung prinzipiell möglich sein muß, bedeutet jedoch nicht, daß hier der
Arzt nach eigenem moralischen Ermessen beziehungsweise nach seinen eigenen
Vorstellungen von einem sogenannten objektiven Interesse des Patienten die
Entscheidung treffen dürfte. Betrachten wir den Fall der Operation des bewußtlosen
Unfallopfers näher. Nach unserer Rechtsordnung ist auch hier durchaus eine
Einwilligung des Patienten erforderlich. Allerdings genügt - da eine ausdrückliche
Einwilligung nicht eingeholt werden kann - eine mutmaßliche oder zu vermutende
Einwilligung. Ob eine
solche mutmaßliche Einwilligung vorliegt, ist von der Antwort auf die folgende
Frage abhängig: Würde der Patient der betreffenden Heilmaßnahme ausdrücklich
zustimmen, wenn er dazu in der Lage wäre? Um diese Frage zu beantworten, muß
man im Prinzip jene Einstellungen und Präferenzen zu Grunde legen, die der
Patient - bis zum Verlust seines Bewußtseins - in einigermaßen gefestigter
Form, also über einen längeren Zeitraum, entwickelt und gehegt hat. Entsprechendes
muß für die passive Sterbehilfe gelten. Das bedeutet: Passive Sterbehilfe ist
bei einem einwilligungsunfähigen Patienten immer dann legitim, ja geboten, wenn
anzunehmen ist, daß dieser Patient eine lebensverlängernde Behandlung in
seinem gegebenen Zustand, sofern er zu einer Willensbildung fähig wäre, nicht
wünschen würde. In diesem Zusammenhang ist - neben einschlägigen Mitteilungen
von Verwandten und Freunden - die sogenannte Patientenverfügung von besonderer
Bedeutung. Unter einer Patientenverfügung versteht man eine schriftliche
Willenserklärung, durch die jemand im vorhinein verbindlich festlegt, unter
welchen Voraussetzungen er welche Form einer medizinischen Behandlung im Fall
von Bewußtlosigkeit oder Willensunfähigkeit ablehnt. Zwar ist auch eine solche
Patientenverfügung gewöhnlich zu jenem Zeitpunkt, auf den es ankommt, nicht
als ausdrückliche, sondern lediglich als mutmaßliche Willensbekundung
aufzufassen. Dies ist deshalb so, weil eine Patientenverfügung ja gewöhnlich
eine längere Zeit vor Eintreten des Zeitpunkts einer eventuellen passiven
Sterbehilfe abgegeben wurde und insofern zu dem Zeitpunkt, auf den es für die
Einwilligung ankommt, nicht mehr als ausdrückliche Willensbekundung betrachtet
werden kann. Trotzdem ist im Normalfall und bei Fehlen entgegenstehender
Indizien davon auszugehen, daß der früher erklärte ausdrückliche Wille mit
dem gegenwärtigen mutmaßlichen Willen des Patienten identisch ist. Daraus
folgt unter anderem: Es ist illegitim, wenn ein Arzt trotz einer
entgegenstehenden Patientenverfügung einen bewußtlos Schwerkranken oder
Sterbenden allein deshalb durch aktive Maßnahmen wieder ins Leben ruft, weil er
(der Arzt) in ähnlichen Situationen schon erlebt habe, daß ein Patient im
nachhinein für eine solche lebensrettende Maßnahme dankbar sei. Diese
Oberlegung allein kann keine hinreichende Legitimation für ärztliches Handeln
bilden. Denn erstens gibt es ebenso die gegenteilige Bekundung von Patienten -
also die Bekundung des nachträglichen Bedauerns darüber, wieder ins Leben zurückgeholt
worden zu sein. Und zweitens - und das ist entscheidend - ist es nicht Aufgabe
des Arztes, dem Patienten dieses Risiko, das nicht nur mit jeder Patientenverfügung,
sondern mit schlechthin jeder Ablehnung einer ärztlichen Behandlung naturgemäß
verbunden ist, unter Mißachtung seiner Autonomie abzunehmen. In unserer
Gesellschaft weit umstrittener als die passive ist die aktive Sterbehilfe. Definitionsgemäß versteht man darunter
Sterbehilfe durch "aktives Tun". Denkbar wäre, jede aktive Tötung
immer dann zuzulassen, wenn sie auf den Wunsch oder das Verlangen des
Betroffenen hin erfolgt. Dies ist entschieden abzulehnen. Im Gegenteil spricht
vieles dafür, im Normalfall eine Tötung
auf Verlangen strafrechtlich zu verbieten. Das Leben ist zwar ein individuelles
Gut, über das der einzelne prinzipiell selbst verfügen kann. Trotzdem ist das
individuelle Gut des Lebens gegenüber anderen individuellen Gütern durch
Besonderheiten gekennzeichnet: Das Leben ist erstens ein besonders wichtiges,
ein zentrales Gut, dessen Besitz Voraussetzung des Genusses aller anderen
individuellen Güter (wie Gesundheit, Lebensfreude oder Eigentum) ist. Und das
Leben ist zweitens ein Gut, dessen Verlust absolut irreversibel ist. Aus diesem
Grund hat das Individuum gewöhnlich selbst ein Interesse daran, durch die
Rechtsordnung vor einer Preisgabe des eigenen Lebens geschützt zu werden, die
einer bloß vorübergehenden Lebensmüdigkeit entspringt und bei langfristiger
Betrachtung vom eigenen Standpunkt aus als irrational erscheinen muß. Insoweit
ist die Regelung unseres geltenden Paragraphen 216 Strafgesetzbuch, der die Tötung
auf Verlangen generell verbietet, durchaus zu billigen. Ganz anders
liegen die Dinge aber im speziellen Fall der Sterbehilfe. Die typische
Konstellation der Sterbehilfe ist nämlich gegenüber dem gewöhnlichen Fall der
Tötung auf Verlangen durch besondere Merkmale gekennzeichnet. Hier befindet
sich das Individuum, das seine Tötung wünscht, in einem schweren,
irreversiblen Leidenszustand. Wenn ein solcher Zustand vorliegt, besteht
offenbar eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, daß der Sterbewunsch des
Betroffenen keineswegs nur einer vorübergehenden Laune oder Depression, sondern
dem wahren Interesse dieses Menschen Ausdruck gibt. Wer nicht
zugestehen möchte, daß es solche - auch durch Schmerztherapie und optimale
menschliche Zuwendung nicht behebbaren - Leidenszustände gibt, die einem
Weiterleben für den Patienten selbst den Sinn nehmen, der verschließt seine
Augen vor der Wirklichkeit. Und wer denjenigen, der diese Wirklichkeit zur
Kenntnis nimmt und in diesen Fällen von einem für den Patienten selbst nicht
mehr lebenswerten Leben spricht, deshalb als Anhänger der Nazi-Ideologie vom
lebensunwerten Leben- hinstellt, diffamiert, anstatt zu argumentieren. Wer sich
auf Argumente einläßt, muß erkennen: In Fällen dieser Art entspricht es
keineswegs dem Interesse des Individuums, vor einer Preisgabe seines Lebens auch
gegen seinen Wunsch durch die Rechtsordnung geschützt zu werden. Im Gegenteil;
ein Individuum, das in einer derartigen Situation aus leicht nachvollziehbaren
Gründen selbst seinen Tod wünscht, kann eine rechtliche Regelung, die es unter
Strafe verbietet, ihm zu helfen, nur als grobe Mißachtung seiner Interessen
betrachten. Aus diesen
Gründen sollte eine aktive Sterbehilfe immer dann zugelassen werden, wenn die
folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. Der
Betroffene ist einem schweren, unheilbaren Leiden ausgesetzt. 2. Der
Betroffene selbst wünscht aufgrund reiflicher, in einem urteilsfähigen und
aufgeklärten Zustand durchgeführter Überlegung aktive Sterbehilfe. 3. Die
Sterbehilfe wird von einem Arzt oder mit ärztlicher Ermächtigung durchgeführt. Sehr im
Unterschied zur aktiven Sterbehilfe wird hierzulande - nach einem langwierigen
Umdenkprozeß - die indirekte Sterbehilfe
von den allermeisten Theologen, Juristen und Ärzten befürwortet. Unter
indirekter Sterbehilfe versteht man die Herbeiführung eines vorzeitigen Todes
als Nebenfolge bestimmter ärztlicher Maßnahmen, insbesondere der Verabreichung
starker Schmerzmittel. Angestrebt wird hier nicht der Tod, sondern die
Schmerzlinderung; der beschleunigte Eintritt des Todes wird lediglich in Kauf
genommen. |