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Bioethik:
Ratio statt Dogma

Plädoyer für eine aufgeklärte, von Weltanschauungen befreite Ethik

Von Norbert Hoerster, In: ZEIT-Punkte Nr. 2 (1995) S. 97-98.

Häufig werden Forderungen nach Restriktionen für die Bioethik mit dem Satz begründet: "Der Mensch darf nicht alles, was er kann." Diese Begründung ist absolut wertlos. Zwar ist der zitierte Satz nicht falsch. Er ist jedoch vollkommen trivial und sagt nicht das Geringste darüber aus, was der Mensch darf oder nicht und warum er etwas Bestimmtes darf oder nicht. Insbesondere hat der Satz keinerlei spezielle Relevanz für moralische Fragestellungen im Zusammenhang mit modernen technologischen Entwicklungen: Schon im Altertum durfte der Mensch nicht alles, was er konnte. Schon damals mußte vielmehr im einzelnen entschieden werden, ob er beispielsweise die Ehe brechen oder ob er einen Nebenbuhler töten darf.

Kaum weniger wertlos für bioethische Begründungen wie jene Trivialbehauptung ist die Berufung auf die sogenannte Menschenwürde. Sicher würde niemand bestreiten, daß der Mensch in dem Sinn eine gewisse Würde hat, daß man nicht nach Belieben mit ihm verfahren darf. Wie aber darf man im einzelnen mit ihm verfahren und wie nicht? Verstoßen, wie das Bundesverwaltungsgericht vor einigen Jahren entschieden hat, Peepshows gegen die Würde der sich zur Schau stellenden Frauen? Verstößt geistlose Fließbandarbeit gegen die Menschenwürde? Verstoßen Todesstrafe oder lebenslängliche Freiheitsstrafe gegen die Menschenwürde? Verstoßen Abtreibung und Experimente an Embryonen gegen die Menschenwürde? Darüber hinaus darf gefragt werden, ob es auch so etwas wie eine "Tierwürde" gibt. Und verstoßen dann Zirkusdarbietungen und Zookäfige, Pelztierhaltung und Geflügelzucht gegen eine solche Tierwürde?

Vermutlich sind einige der genannten Handlungen bei näherer Betrachtung durchaus verbotswürdig, andere dagegen nicht. Mit der Berufung auf die Würde der Betroffenen läßt sich dies jedoch in keinem Fall begründen. Sie dient lediglich dazu, weltanschauliche Vorurteile zu verdecken und von den eigentlich relevanten Gesichtspunkten und Argumenten abzulenken. Die jeweiligen ethischen Wertungen werden einfach begründungslos vorausgesetzt.

Wer sich damit nicht zufriedengibt, muß fragen: Welches sind die für die Probleme der Bioethik tatsächlich relevanten Gesichtspunkte und Argumente? Betrachten wir zum Beispiel die grundsätzliche Frage, ob Menschen und Tiere in allem gleich behandelt werden sollen. Wohl kaum; aber warum nicht? Wer hier nicht mit der unterschiedlichen "Würde" operieren oder eine sogenannte Schöpfungsordnung bemühen will, wird sagen müssen: weil Menschen und Tiere zum Teil unterschiedliche Bedürfnisse, Strebungen oder Wünsche, also unterschiedliche Interessen, haben. So haben viele Tiere zwar wie der Mensch ein elementares Interesse an Schmerzvermeidung, nicht aber ein Interesse an Meinungsfreiheit. Also sollte Tierquälerei prinzipiell verboten werden; ein Tierrecht auf Meinungsfreiheit dagegen ist überflüssig.

Dies mag selbstverständlich erscheinen. Wie steht es aber mit der Frage, ob Tiere ein Überlebensinteresse haben? Sollten Tiere wie der Mensch ein Recht auf Leben erhalten? Für die meisten Tiere, etwa eine Katze, läßt sich dies nicht auf Anhieb entscheiden. Hier muß der Begriff des Interesses überprüft und präzisiert werden. Wenn man dies tut, zeigt sich: Zwar kann sich eine Katze ebenso in einer Woche wie heute ihres Lebens erfreuen. Doch eine Katze kann heute noch keine bewußten Strebungen oder Wünsche haben, die über die Gegenwart oder unmittelbare Zukunft hinausreichen. Eine Katze kann - nach allem, was wir wissen - nicht heute den Wunsch haben, in einer Woche noch zu leben oder auf Mäusejagd zu gehen.

Also hat eine Katze, da sie keine zukunftsbezogenen Wünsche haben kann, auch kein Überlebensinteresse. Es gibt deshalb keinen Grund, ihr ein Recht auf Leben einzuräumen. Das bedeutet nicht, daß man Tiere wie Katzen nach Belieben töten dürfte. Es bedeutet aber, daß Katzenleben im Unterschied zu Menschenleben prinzipiell austauschbar oder ersetzbar sind. Die individuelle Katze wird, anders als der individuelle Mensch, durch eine Tötung nicht in ihren Interessen verletzt.

Eine interessenorientierte Ethik verbietet es daher auch nicht, Tiere zu Nahrungszwecken zu züchten und zu verbrauchen. Im Gegenteil: Ohne unsere Nachfrage nach Schweinefleisch gäbe es keine Schweine. Das Tierinteresse an Schmerzfreiheit gebietet es allerdings, die Zuchtbedingungen artgerecht und den Tötungsprozeß schmerzlos zu gestalten.

Wer in solchen Fragen anstatt von den realen Interessen der betroffenen Lebewesen von weltanschaulichen Dogmen ausgeht, wird nicht selten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Als Beispiel kann die Frage des Embryonenschutzes dienen. Auch der menschliche Embryo hat - aus denselben Gründen wie das Tier - noch kein Überlebensinteresse. Ja, er hat mangels eines ausgebildeten Bewußtseins noch gar keine bewußten Strebungen, noch gar keine Interessen. Warum also sollte man mit ihm zum Nutzen der medizinischen Wissenschaft und künftiger Generationen nicht experimentieren dürfen -vorausgesetzt, dies geschieht unter Bedingungen fachlicher Kompetenz, die insbesondere einen rechtzeitigen Tod vor dem Entstehen eines Bewußtseins sicherstellen?

Die christlichen Kirchen lehnen in ihrer gemeinsamen Erklärung zum Schutz des Lebens ("Gott ist ein Freund des Lebens", 1989) jegliche Form der Forschung an Embryonen, ja selbst die Erzeugung "überzähliger" Embryonen im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation strikt ab. Diese Ablehnung ist von ihrem Standpunkt aus nur konsequent - betrachten sie doch jedes menschliche Wesen von Beginn seiner Existenz an als "Ebenbild Gottes" und erklären: "Jedes menschliche Leben erhält seinen eigenen Wert und Sinn, indem Gott es schafft, ruft, achtet und liebt; der Mensch hat eine unverlierbare Würde, weil Gott ihn berufen hat, sein Gegenüber zu sein, und ihn in Jesus Christus unbedingt angenommen hat." Die Frage ist jedoch, mit welchem Recht die Kirchen in einem säkularen Staat diese Sichtweise nicht nur für ihre Mitglieder verbindlich machen, sondern in diesem Zusammenhang fordern, daß "die Rechtsordnung mit den geeigneten Mitteln einschließlich des Strafrechts den Schutz von Embryonen gewährleistet"?

Tatsächlich ist unsere Rechtsordnung dieser Forderung im Bereich des Embryonenschutzes außerhalb des Mutterleibes bislang in vollem Umfang nachgekommen. Beim Embryonenschutz innerhalb des Mutterleibes sieht die Sache freilich anders aus. Hier ist der Druck einer mehrheitlich längst nicht mehr religiös gebundenen Wählerschaft offenbar so groß, daß es auf den Embryonenschutz plötzlich nicht mehr ankommt: Dieselben Politiker, die für eine indikationslose Freigabe der Abtreibung (in den ersten Monaten der Schwangerschaft) plädieren, protestieren aufs schärfste gegen die im Europarat vorgeschlagene Freigabe der Forschung an In-vitro-Embryonen bis zum vierzehnten Lebenstag mit der Begründung: "All das überschreitet klare Grenzen hin zur Züchtung des Menschen in Richtung lebensunwerten Lebens."

Derartige, gleichzeitig vertretene Positionen sind bei konsequentem Denken in hohem Maße widersprüchlich. Das genannte Zitat aus dem Munde einer Politikerin ist außerdem typisch für eine in Fragen der Bioethik derzeit in Deutschland gängige Argumentationsweise: Anstatt sich zu den weltanschaulichen Voraussetzungen seiner restriktiven Forderungen offen zu bekennen, beschwört man die Gefahren einer neuen Nazipraxis und kann sich so des Beifalls aller "demokratischen Kräfte in unserer Gesellschaft" sicher sein. Auch gegenüber Liberalisierungswünschen im Bereich der Sterbehilfe ist diese Strategie bei uns längst zu einem Gemeinplatz geworden.

Natürlich ist in den Bereichen der Bioethik nicht jede Warnung vor Mißbrauchs- und Dammbruchgefahren von der Hand zu weisen. Gerade eine interessenorientierte Ethik muß solche Gefahren prinzipiell ernst nehmen und in ihre Überlegungen einbeziehen. Jedoch: Die Gefahren müssen im jeweiligen Fall real vorhanden, das heißt empirisch belegt oder zumindest plausibel sein; sie dürfen nicht bloß vorgeschoben werden. Außerdem ist auch in diesem Punkt konsequentes Denken unverzichtbar. Wer zum Beispiel jede aktive Sterbehilfe gegenüber schwerstgeschädigten Neugeborenen wegen solcher Gefahren unter allen Umständen ablehnt. muß sich fragen lassen, wieso diese Gefahren hier eher gegeben sind als im entsprechenden Fall einer passiven Sterbehilfe, also einer Sterbehilfe durch Behandlungsverzicht, wie sie seit langem bei uns toleriert wird. Außerdem muß er sich der Frage stellen, ob ein schneller und schmerzloser Tod den Interessen eines Neugeborenen. das ohnehin keine Überlebenschancen hat, nicht möglicherweise besser gerecht wird - und insofern humaner ist - als ein langsames und qualvolles Sterben.

Diese und ähnliche Fragen werden sich in einem säkularen Staat durch die Hinweise unserer Verantwortlichen auf die "Heiligkeit" und "Unverfügbarkeit" des Lebens oder darauf, daß der Mensch "nicht alles darf, was er kann", und sich folglich nicht "zum Herrn über Leben und Tod machen" darf, auf Dauer kaum zufriedenstellend beantworten lassen.

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