Materialien zum Ethikunterricht Hirnforschung
und Willensfreiheit
Autor: Ingo-Wolf Kittel, 22.5.2008 Vorbemerkung:
Die nachstehenden Ausführungen wurden original
für das Mitteilungsorgan des Bundesverbandes der
Vertragspsychotherapeuten (BVVP) verfasst; sie werden hier leicht überarbeitet
und durch weiterführende Hinweise ergänzt wiedergegeben. Weitere Veröffentlichungen
des Autors zum Thema sind hier
zu finden, kritische Stellungnahmen zu anderen hier.
Gelegentlich
ist es sinnvoll, manchmal sogar nötig, sich auch auf banale Realitäten
zu besinnen, z.B. auf die Tatsache, dass in der Forschung diejenigen am
kompetentesten sind, die sie betreiben. So wird man Hirnforschern
selbstverständlich eine entsprechende Sachkompetenz in der Hirnforschung
zugestehen, wenngleich auch zunächst nur für sie. Dazu dürfte
man besonders dann bereit sein, wenn erfahrene Hochschullehrer
fachliche Stellungnahmen abgeben, selbst wenn sie dabei auch auf andere
Fachgebiete übergreifen, insbesondere einen für Hirnforscher derart
naheliegenden Bereich wie den der Psychologie. Hierzu
enthält DAS
MANIFEST zu Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung im 21.
Jahrhundert, das im Herbst 2004 in der Zeitschrift Gehirn
& Geist veröffentlicht wurde und von elf, nach dem Editorial
(*)"bedeutenden Neurobiologen" und "führenden
Neurowissenschaftlern" stammt, einen bemerkenswerten Passus. Er
beleuchtet schlaglichtartig die Sicht von Hirnforschern auf psychische
Tatbestände und lässt die derzeitige Bedeutung der Hirnforschung für
die Psychologie deutlich werden; denn dort heißt es: "Nach
welchen Regeln d a s
G e h i r n arbeitet; wie e
s die Welt so abbildet, dass
Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das
innere Tun als 's e i n e'
Tätigkeit erlebt wird und wie
e s zukünftige
Aktionen plant, all das verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen.
Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen
Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen
noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern." (Sperrungen
hinzugef.) Wissenschaftshistorische
Analysen werden aufzuweisen haben, wie es möglich war, dass im Verlaufe
der vergangenen Jahrzehnte eine Forschungsdisziplin auf einem derartig
niedrigen Niveau die wissenschaftliche Grundlage für eine zunehmende Fülle
wortpolitischer Verdoppelungen von Einzelwissenschaften abgeben konnte, nämlich
die Rede und teilweise sogar institutionelle Verankerung von Neuroversionen
einzelner Forschungsbereiche bis hin zu einer Neurophilosophie, ja
sogar zur Überhöhung oder umgekehrt 'Reduzierung' von Wissenschaft zur
bzw. auf Neurowissenschaft (alternativ auch Kognitionswissenschaft
genannt). Entscheidende Anstöße dazu dürften aus dem in den USA von dem
einflussreichen Philosophen W.v.O.Quine vertretenen Programm einer Naturalisierung
der Erkenntnistheorie oder gleich der ganzen Philosophie gekommen sein
mit dem Ziel ihrer Auflösung in Psychologie (Edward Kanterian in: Analytische
Philosophie S. 122) und dem "Endziel",
diese wiederum "auf Neurowissenschaft zurückzuführen."
Nach
jüngsten Analysen handelt es sich bei diesem Programm jedoch eher um das
einer Eliminierung: die Beseitigung der philosophiegeschichtlich
als Cartesianismus
bekannten, historisch auf theologische Spekulationen zurück gehenden Zweisubstanzenlehre
mittels schlichter Begriffsakrobatik durch 1.
Umbenennung des angeblichen Leib-Seele-Problems zum Geist-Gehirn-Problem
und 2.
dessen
scheinbare Auflösung durch Gleichsetzung von Geist und Gehirn, indem 3.
ohne
Rücksicht auf die umgangssprachliche Herkunft und von dort her eigentlich
konstituierte Bedeutung psychologischer Rede diesem Organ schlicht all die
geistigen oder psychischen Funktionen zugeschrieben werden, die wir uns üblicherweise
"uns" selbst zuschreiben. Der
australische Neurophysiologe Max R. Bennett hat in Zusammenarbeit mit dem
englischen Philosophen Peter M. S. Hacker in detaillierten Untersuchungen,
die sie in ihrem Lehrbuch "Philosophical
Foundations of Neuroscience" (Oxford 2003) vorgelegt haben,
nachgewiesen, dass auch in der englischsprachigen neurowissenschaftlichen
Literatur und somit von Hirnforschern weltweit vom Gehirn so geredet wird,
als wenn es sich bei diesem zentralen Integrations-, Koordinations- und
Regulationsorgan des Gesamtorganismus einem Homunkulus gleich um
ein Wesen handelt, das wahrnimmt und erinnert, wertet und entscheidet,
plant usw., und zwar bis in seine Subsysteme hinein, die ihrerseits
wiederum ebenfalls wie Menschen miteinander kommunizieren und
Informationen austauschen (sollen)! Typisch
für die heutige Neuro- und Kognitionswissenschaft ist demnach eine cerebrale
Pseudopsychologie. Nach
der konsequentesten
Version davon konstruiert 'das Gehirn' sogar wissenschaftliche
Theorien und schafft sich – so die verstiegenste, dem philosophischen
Solipsismus analoge Spekulation bzw. Konstruktion - "das
Gehirn [sogar] seine Wirklichkeit" mit der kabarettreifen
Pointe, dass der Vertreter dieser Theorie sich selbst denn auch in vollem
Ernst zu einem Konstrukt seines Gehirns erklärt hat bzw. logisch
konsequent dazu erklären musste. Auf
derart fragwürdiger Grundlage spekulieren Hirnforscher mittlerweile auch
ohne besondere Kompetenz über nahezu alles bis hin zur
Rechtswissenschaft, Architektur und Politik, vor allem aber über
philosophische Grundfragen und Begriffe sowie sämtliche psychologische
Grundthemen bis hin zum Unbewussten einerseits und unserem Handeln
andererseits. Am
bekanntesten dürfte geworden sein, dass besonders forsche Hirnforscher
aufgrund von – fälschlicherweise, wie
jüngst von psychologischer Seite kritisiert wurde, deterministisch
gedeuteten! – korrelationsanalytisch gewonnenen Befunden aus
neurophysiologischen Untersuchungen von Willkürbewegungen wider
jede Logik behaupten, Hirnforschung habe nunmehr empirisch die Nichtexistenz
von Willensfreiheit wenn nicht bewiesen, so zumindest wissenschaftlich
plausibel gemacht, nachdem sie seit der griechischen Antike und in der
Folge immer mal wieder und besonders gern von philosophierenden
Naturwissenschaftlern bislang nur aufgrund eines prinzipiellen
oder methodischen,
philosophisch mal 'ontologisch', mal 'metaphysisch' genannten und der Welt
als ganzer spekulativ unterstellten weltanschaulichen oder
ideologischen Determinismus in Abrede gestellt werden konnte, der
Willensfreiheit lediglich per definitionem, also bloß logisch ausschließt.
Eine besondere Pointe liegt darin, dass sich Hirnforscher aller
Erfahrungen und Überzeugungen,
die dieser fragwürdigen Metaphysik entgegenstehen, statt wie erforderlich
logisch interessanterweise psychologisch zu entledigen
suchen: indem sie diese nach der bekannten Devise, dass nicht sein kann,
was nicht sein darf, einfach zu Illusionen 'erklären'. Wirklicher
psychologischer Sachverstand ermöglicht jedoch ohne größeren Aufwand
klarzumachen, was mit der umgangssprachlichen Bezeichnung
'Willensfreiheit' bezeichnet oder gemeint wird. Willens-, Entscheidungs-
und Wahlfreiheit beruht nämlich auf unserer Denkfähigkeit, unserer von
Dichtern besungenen vielzitierten Gedankenfreiheit. Denken wiederum beruht
auf unserem Erinnerungsvermögen, das in der Fähigkeit besteht, etwas zu wiederholen.
Erinnern
ist eine Aktivität. 'Erinnerungen' sind deswegen bestimmte Einzelaktivitäten.
(Diese führen wir mit dem Gehirn aus, nicht in ihm, wo sie
von Hirnforschern meist gesucht werden...) Erinnern besteht darin, sich
ehemalige Wahrnehmungen erneut zu 'vergegenwärtigen' oder 'vorzustellen',
wie umgangssprachlich gesagt wird, oder terminologisch: sie zu imitieren
(nach Dirk Hartmann "Philosophische Grundprobleme der
Psychologie", Darmstadt 1998, s.a.
diese Arbeit des Autors). Damit
sind wir fähig, in irgendwelchen Zusammenhängen einmal Erlebtes zu
einem anderen Zeitpunkt und damit auch immer in anderen Umständen zu
wiederholen, und zwar entweder auf andere (wenn auch vielleicht ähnliche
oder 'gleiche', weil sich gleichende...) aktuelle Anregungen hin oder aber
ohne solche und somit 'von selbst', und das immer wieder: einfach dadurch,
dass wir von uns aus 'daran denken'. (Von daher stammt die
Bezeichnung 'Gedächtnis' für unsere Erinnerungsfähigkeit.) Dies
heißt nichts anderes, als dass wir in der Vorstellung bzw. in
Gedanken oder im Denken, wie in der Umgangssprache auch
sinngleich für 'denkend' gesagt werden kann, von den ursprünglichen
Zusammenhängen, in dem das einstmals Erlebte stand, unabhängig
sind. Genau das ist die Bedeutung von 'frei': frei von... Das
nun ermöglicht alles, was zum zentralsten Gegenstandsbereich der
Psychologie gehört: ein von 'realen' Bedingungen mehr oder weniger
unbeeinflusstes, ungehindertes oder freies und damit vor allem auch
selbstbestimmtes gedankliches Umgehen mit Einzelheiten ehemaliger
Wahrnehmungen. Folgen
davon können u.v.a. beispielsweise Erinnerungstäuschungen sein, die auf
unbemerkten und deswegen unbewussten Veränderungen von
Einzelheiten oder Zusammenhängen bei der spontanen Wiederholung
ehemaliger Wahrnehmungen beruhen. Erst recht sind auch weitergehende
kreative Neukombinationen von Erinnerungselementen möglich: jedermann
kennt solche aus Tag- und Nachtträumen, manche auch aus Visionen oder
Gesichten bis hin zu halluzinatorischen Erlebnissen verschiedenster
Provenienz oder als harmlose Gedankenspiele und Phantasien, vor allem aber
aus eigenem Überlegen oder künstlerischem Gestalten aller Art. Es sind
Erfahrungen dieser Art, die 'empirische Grundlage' sind für unser Wissen
um eine grenzenlose Freiheit im Denken und Imaginieren. Bewusst
genutzte Gedankenfreiheit ermöglicht nun Wahlfreiheit. Sie schaffen wir
uns, indem wir uns in einem realen Erlebniszusammenhang etwas zu dem
momentan Erlebten hinzuzudenken: vielleicht nur durch einfache
Erinnerung an Reaktions- oder Handlungsweisen, die uns aus früheren
Erlebnissen bekannt sind, oder durch 'Er-Kennen' oder 'Er-Finden' einer
neuartigen Reaktionsweise. (Momentane Situationen können dann daraufhin
geprüft werden, ob und welche Reaktionsweise 'möglich' ist und zudem, ob
eine davon und ggf. welche eher das zu erreichen erlauben würde, was man
'ins Auge gefasst' hat, als die spontane Reaktion, zu der man sich durch
einen ersten reflektorisch zustande gekommenen ideomotorischen Impuls
'intuitiv' angeregt erlebt). Mit anderen Worten: durch ein Ausdenken
von Alternativen schaffen wir uns 'geistig' oder 'in der Vorstellung'
Wahlmöglichkeiten. Wahlfreiheit
hat allerdings Konsequenzen: sie und erst sie führt dazu, sich
entscheiden und damit auf eine der in Erwägung gezogenen Alternativen
festlegen zu müssen. Gleichwohl bleiben selbst einmal – mehr oder
weniger überlegt oder aber willkürlich... – getroffene Entscheidungen
jederzeit revidierbar. Insofern verfügen wir, solange wir denken können,
immer auch über Entscheidungsfreiheit, auch wenn diese sich nicht selten
in 'Willkür' manifestiert. Wie
es über all dies zur Rede von der Freiheit des Wollens oder 'Willens' als
bloß sprachlicher Hinweis darauf, sich entschieden
z u h a b e n,
gekommen ist, wobei 'wollen' interessanterweise etymologisch mit 'wählen'
verwandt ist, aber auch mit 'wohl' und 'Wolf' und vielleicht sogar
'Wolle', wäre eigene Überlegungen wert. Nur auf ein traditionelles
Missverständnis sei abschließend noch hingewiesen: es liefe auf einen naiven
Begriffsrealismus hinaus (um den es real eigentlich geht, auch bei der
Auffassung von vielen anderen Begriffen wie etwa 'Geist'...), wegen der
rein sprachlich möglichen Ausdrucksweise 'dies ist mein Wille' oder 'ich
habe den Willen' (für den schlichteren verbalen Ausdruck
'ich will') anzunehmen, es gäbe 'etwas' "für sich
Seiendes", das als 'Wille' bezeichnet werden könnte, der uns überdies
auch noch von sich aus bewegen würde, irgendetwas zu tun! Es
'gibt' nur uns Menschen, die etwas mehr oder weniger überlegt wollen
– und sprachliche Ausdrücke, uns darüber zu verständigen.
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