Materialien zum Ethikunterricht
Das Libet - Experiment Das
Experiment -- Der freie Unwille
Benjamin Libet will selbst nicht glauben, was sein
Experiment nahelegt: Der freie Wille ist eine Illusion.
Daß
das Bereitschaftspotential vor der Bewegung einsetzt, ist keine Überraschung,
schließlich können Muskeln erst aktiv werden, nachdem sie vom Gehirn den
Befehl dazu erhalten haben. Dennoch war das Resultat in einem gewissen
Sinn absurd. Die
Versuchspersonen durften selber entscheiden, wann sie ihre Hand bewegten.
Zwischen dem Zeitpunkt dieser freien Entscheidung und der Bewegung mußte
also mindestens eine Sekunde liegen. Libet fiel sofort auf, daß das der
Alltagserfahrung widersprach: Eine Sekunde zwischen der Entscheidung, nach
dem Bleistift zu greifen, und dem Griff danach - das war eindeutig zu
lange. Die
ganzen Überlegungen basierten auf einer Voraussetzung, die so selbstverständlich
schien, daß niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie zu überprüfen:
Der bewußte Entscheid für die Bewegung muß fallen, bevor das Gehirn die
ersten Vorbereitungen dafür einleitet. Ursache vor Wirkung. Daran konnte
niemand ernsthaft zweifeln - oder doch? Libet
wollte es genau wissen. «Das ganze nächste Jahr fragte ich mich, wie in
aller Welt sich der Zeitpunkt der bewußten Entscheidung messen ließe.»
Kornhuber und Deecke hatten ja nur den Moment des Bereitschaftspotentials
und der Bewegung erfaßt, nicht aber den Zeitpunkt der bewußten
Entscheidung, denn der ist nur der Versuchsperson selbst zugänglich. Er läßt
sich nicht objektiv messen, nicht aus Hirnströmen lesen, also ließen die
Forscher die Finger davon. Der freie Wille galt als wissenschaftlich nicht
untersuchbar. «Ich glaube, die Leute hatten richtig Angst davor.» Libet
suchte nach einer Möglichkeit, wie die Versuchspersonen ihm mitteilen könnten,
wann ihre Entscheidung fiel, die Hand zu bewegen. Doch sie konnten weder
etwas sagen noch ein Handzeichen geben: Diese Signale wären ja selbst mit
der unbekannten Verzögerung einer willkürlichen Bewegung behaftet
gewesen. Dann
hatte Libet die Idee mit der Uhr. Wenn die Versuchspersonen auf eine
schnell gehende Uhr blicken und sich merken würden, wann sie den Entschluß
für die Bewegung faßten, könnten sie diesen Wert nachher dem
Versuchsleiter melden. Libet zweifelte zuerst an seinem Einfall: «Weil
die Messung sehr genau sein mußte, glaubte ich nicht daran, daß es
funktionieren würde, doch ich beschloß, es zu versuchen.» Keine
Arbeit hat in den Neurowissenschaften mehr Kontroversen und
unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht als diese Versuche, denn
Libet fand heraus, daß es den freien Willen möglicherweise gar nicht
gibt. Im
März 1979 nahm die erste von fünf Versuchspersonen, die
Psychologiestudentin C. M., auf dem bequemen Lehnstuhl in Libets Labor am
Mount-Zion-Spital in San Francisco Platz. Sie wurde am Kopf und am rechten
Handgelenk mit Elektroden versehen und blickte auf einen kleinen
Bildschirm in zwei Metern Entfernung. Dort kreiste ein grüner Punkt, der
2,56 Sekunden pro Umdrehung benötigte: die Uhr. Libet forderte C. M. nun
auf, zu einem frei gewählten Zeitpunkt das rechte Handgelenk zu knicken.
Den genauen Zeitpunkt der Bewegung verriet ihm die Spannungsänderung der
Elektrode am Handgelenk, das Bereitschaftspotential lieferten die
Elektroden am Kopf, und den Zeitpunkt der bewußten Entscheidung erfuhr er
nach jedem Versuch von C. M. selbst, die sich merkte, wo der kreisende
Punkt gestanden hatte, als ihr Wille einsetzte. «Die
Versuchspersonen hatten keine Ahnung, worum es ging, und fanden das alles
recht sonderbar», erinnert sich Libet. Aber für 25 Dollar pro Sitzung
waren sie gerne bereit, ihr Handgelenk zu einem frei gewählten Zeitpunkt
zu bewegen. «Ich
merkte schon nach dem ersten Versuch, wie sonderbar das Resultat war»,
sagt der heute 85-jährige Libet, wie er die alten Labornotizen aus einer
Schublade zieht. Ein Stapel Papiere, unordentlich mit Zahlen übersät,
dazwischen Fotos von Bildschirmkurven: die Bereitschaftspotentiale. Der
Moment, den C. M. als Zeitpunkt ihres Entschlusses für die Bewegung
angab, lag immer etwa 0,2 Sekunden vor der Bewegung selbst. Das war ein
vernünftiges Resultat, das mit der Erfahrung übereinstimmt. Das
Bereitschaftspotential setzte aber mindestens 0,55 Sekunden, in manchen Fällen
wie bei Kornhuber und Deecke sogar eine ganze Sekunde vor der Bewegung
ein. Im Gehirn von C. M. wurde also eine Handlung eingeleitet, von der das
Gehirn eigentlich noch gar nichts wissen konnte, weil sich C. M. ja erst
eine Drittelsekunde später überhaupt dazu entschließen würde. Bei den
anderen Versuchspersonen war es nicht anders: Immer war das
Bereitschaftspotential da, lange bevor der freie Wille einsetzte. Auf
den ersten Blick ließ das Experiment nur eine Folgerung zu: Der freie
Wille ist eine Illusion. Das Hirn schickt das Bewußtsein als Strohmann
vor, um uns vorzugaukeln, wir hätten die freie Wahl. Doch in den Tiefen
des Unterbewußtseins ist längst alles arrangiert. Wir tun nicht, was wir
wollen, wir wollen, was wir tun. Libet
mag diese Interpretation nicht. «Wir wären im Wesentlichen raffinierte
Automaten, unser Bewußtsein und unsere Absichten eine angeheftete
Begleiterscheinung ohne kausale Macht.» Das Experiment rüttelt damit an
den Grundfesten unseres Rechtssystems. Darf ein Gericht jemanden für eine
Tat bestrafen, die er nicht hätte nicht tun können? Libet
entwarf sofort eine neue Theorie: Zwar zeige sein Experiment tatsächlich,
daß wir keine Macht hätten darüber, welche Absichten aus dem Unterbewußten
als freier Wille getarnt auftauchten, doch wir könnten dagegen
intervenieren. Libet belegte in weiteren Experimenten, daß die zwei
Zehntelsekunden zwischen dem bewußten Entschluß und der Aktion
ausreichten, das Veto dagegen einzulegen und die ganze Sache abzubrechen.
Wenn wir schon keinen freien Willen haben, dann doch wenigstens einen
freien Unwillen. Das
sei auch in Übereinstimmung mit religiösen und ethischen Regeln, die zur
Selbstkontrolle mahnen, und mit den zehn Geboten, die oft mit «Du sollst
nicht . . .» begännen. Seine Veto-Theorie, witzelt Libet, biete sogar
eine «physiologische Erklärung der Erbsünde». «Wer bereits die böse
Absicht als sündhaft betrachtet, auch wenn sie zu keiner Handlung führt,
macht alle Menschen zu Sündern.» Doch
die Veto-Theorie hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Wenn einer bewußten
Entscheidung eine unbewußte Hirnaktivität vorangeht, warum nicht auch
Libets bewußtem Veto? Einige
Wissenschafter glauben, Libet wolle den freien Willen retten, weil er die
Konsequenzen seines eigenen Experiments fürchtet. Der Philosoph Thomas W.
Clark schreibt: «Der unterschwellige Gedanke ist: Weil es undenkbar ist,
daß wir keinen freien Willen haben (schließlich wollen wir keine
Automaten sein, oder etwa nicht?), sollten wir uns schleunigst
daranmachen, einen Beweis für den freien Willen zu finden.» Diese
Argumentation sei unwissenschaftlich. Der
Streit mündet immer in dieselbe Frage: Gibt es einen nichtmateriellen
Geist, oder ist das Bewußtsein allein das Resultat der chemischen und
physikalischen Vorgänge im Gehirn? Im zweiten Fall, den die Deterministen
vertreten, verliert das Experiment von Libet seine Merkwürdigkeit. Wenn
der Geist auf materiellen Reaktionen beruht, die eine nach der anderen im
Gehirn ablaufen, dann muß der freie Willen von unbewußter Hirnaktivität
angestoßen worden sein. Anders ist es gar nicht möglich. Jede Wirkung
hat eine Ursache. In
Libets Ergebnissen liegt so gesehen nichts Übernatürliches. Sie
widersprechen bloß unserem persönlichen Empfinden. Wir fühlen, daß wir
einen freien Willen haben, deshalb glauben wir es. Dieses Eindrucks können
sich auch Hirnforscher nicht erwehren. Zwar behaupten viele von ihnen, den
Gedanken der persönlichen Schuld und Sühne aufgegeben zu haben, müssen
aber zugeben, daß es ihnen nicht gelingt, im täglichen Leben den
Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und persönlichem
Empfinden aufzulösen. Obwohl er nicht an den freien Willen glaube, sagt der deutsche Hirnforscher Wolf Singer, «gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben, weil ich natürlich davon ausgehe, daß sie auch anders hätten handeln können». Wer aber daran glaubt, dass jede materielle Ursache eine materielle Wirkung hat, muss damit rechnen, dass seit dem Urknall alles vorherbestimmt ist. Auch dass ich diesen Artikel geschrieben habe und Sie ihn jetzt kopfschüttelnd lesen. Der Widerspruch ließe sich nur beseitigen, wenn ein nichtmaterieller Geist über den freien Willen herrschen würde, der unbeeinflusst von den Gesetzen wirkt, die sonst für die Welt gelten, und dessen Existenz sich kaum beweisen ließe. Für die meisten Wissenschafter keine wirkliche Alternative.
(mehr
dazu unter http://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment
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