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Leserbrief zu
„Bundestags-Kommission erteilt Gentests an Embryos eine Absage“,
Frankfurter Rundschau vom 15.5.2002

Irene Nickel
 

Präimplantationsdiagnostik muss zugelassen werden

Mein zweites Kind ist schwerbehindert. So kann ich mir vorstellen, was Eltern bewegt, die ein schwerbehindertes Kind haben und sich ein weiteres Kind wünschen. Warum ihnen so daran liegt, dass ihr nächstes Kind gesund sein soll; warum sie bereit sind, dafür große Belastungen auf sich zu nehmen, wie pränatale Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik (PID).

Ich bin bestürzt, auf wie viel Verständnislosigkeit diese Eltern stoßen. Immer wieder werden Stimmen laut, die dem Elternwunsch die Berechtigung absprechen, ein gesundes Kind zu bekommen, die Geburt eines schwerbehinderten Kindes aber nach Möglichkeit zu verhindern. Viele verkünden oder lassen durchblicken, eigentlich dürfe man sich so etwas nicht einmal wünschen, geschweige denn, es in die Tat umsetzen.

Selbst die Minderheit der Enquête-Kommission, die PID in Ausnahmefällen zulassen will, spricht von einem „gesetzlich gebotenen Strafanspruch“, der nur „zurücktreten“ soll „in Fällen zugespitzter Konfliktlagen“. Das klingt, als solle Eltern nach einer PID verweigert werden, was jedem zusteht, der in Notwehr einen Menschen erschlagen hat: die gesetzliche Anerkennung, dass seine Tat nicht rechtswidrig war.

Dieselbe Minderheit der Enquête-Kommission „befürchtet Nachteile“ für den Fall, dass eine Liste von genetisch bedingten Krankheiten in die Ausnahmeregelung geschrieben wird. Dabei könnte eine solche Liste - in Verbindung mit einem Zusatz, dass die Ausnahmeregelung auch für ähnlich schwere Krankheiten gilt - für viele Eltern die Rechtssicherheit verbessern. Jedoch den Kommissionsmitgliedern scheinen die realen Probleme der betroffenen Eltern weniger am Herzen zu liegen als die vage Möglichkeit, sie selbst als Gesetzgeber könnten missverstanden werden. Obwohl durch eine geeignete Formulierung leicht klargestellt werden könnte, dass es um die Notlage der Eltern geht, etwa: „Von einer Notlage der Eltern ist auszugehen, wenn die Erbanlagen für eine der folgenden Krankheiten und Behinderungen - oder eine ähnlich schwere Krankheit bzw. Behinderung - festgestellt werden.“ Die Formulierung, es sei „naheliegend“, so etwas mit dem Begriff der „eugenischen Selektion“ in Verbindung zu bringen, also mit einem Begriff, der Erinnerungen an die Nazizeit weckt, wirft die Frage auf: Sind die Kommissionsmitglieder womöglich selbst nicht frei von der Tendenz, PID mit „eugenischer Selektion“ in Verbindung zu bringen? Und damit die Eltern, die sich PID wünschen, mit den Verbrechen der Nazizeit? Das haben die Eltern nicht verdient, die ein schwerbehindertes Kind haben und es mit ebenso viel Liebe aufziehen, wie andere Eltern ihre gesunden Kinder.

Erst recht unverständlich ist aber die Position der Mehrheit, die PID auch dann verbieten will, wenn es anderenfalls mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nach pränataler Diagnostik zu einer Spätabtreibung kommt. Warum nur?

Spekulieren diese Leute darauf, dass Frauen sich am Ende doch nicht zu einer Abtreibung entschließen könnten? Welch eine Idee! Wer wird annehmen, dass Frauen, die entschlossen genug sind für die PID mitsamt all den körperlich belastenden Vorbereitungen, nicht auch entschlossen genug sein würden für eine Spätabtreibung? Wer wird annehmen, dass diese Frauen sich von romantischen Anwandlungen hinreißen lassen würden? Oder dass sie sich gar von beredten Beraterinnen „ermutigen“ lassen könnten? Diese Frauen wissen selbst am besten, was auf sie zukommt, wenn sie ein weiteres schwerbehindertes Kind bekommen. Sie kennen die Belastungen, und viele mussten erfahren, dass ihre Kräfte nicht unerschöpflich sind.

Spekulationen auf einen Sinneswandel und ein spätes Ja zum schwerbehinderten Kind sind nicht eben aussichtsreich. Was stattdessen nur zu oft passieren wird, wenn PID verboten bleibt, das dürfte auch der Mehrheit der Enquête-Kommission klar sein: Frauen, die sich eine PID im Ausland nicht leisten können, werden sich auf eine „Schwangerschaft auf Probe“ einlassen. Sie werden Monate der Schwangerschaft in ständiger Angst verbringen, dann den Eingriff für die pränatale Diagnostik erdulden, eine weitere Wartezeit voller Angst erleben und am Ende vielleicht tatsächlich eine Abtreibung. Warum nur will man den Frauen eine solche körperliche und seelische Belastung aufzwingen?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren: Das ist Absicht. Man will die Frauen bestrafen, die sich und ihre Familie vor der Geburt eines behinderten Kindes schützen wollen. Es ist eine grausame Strafe. Für diese Frauen soll anscheinend nicht gelten, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Artikel 5 geschrieben steht: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

 

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