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Optische Täuschungen 1 - eine Powerpoint-Präsentation
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Optische Täuschungen 2 - Website von Prof. Dr. Michael Bach

 

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Reise um den Tag in achtzig Welten Evolution und Wahrnehmung

von Michael Reitz

Der Untertitel dieses Artikels ist dem gleichnamigen Erzählband des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar entlehnt, Frankfurt a. Main 1980

Versucht man, sich über die Beschaffenheit der menschlichen Wahrnehmung klar zu werden, wird man zunächst mit einem augenfälligen Widerspruch konfrontiert: das, was potentiell wahrnehmbar ist, ist nicht gleichzusetzen mit dem, was tatsächlich wahrgenommen wird.

Der Mensch kann zwischen beiden Wahrnehmungswelten - der rationalen wie der intuitiven - wählen, und seit einiger Zeit entdecken immer mehr Menschen für sich, dass das Beharren auf den reinen Kopfgeburten ihnen Unbehagen bereitet, sowie eine Ahnung, dass hier ein Teil unserer ökologischen, sozialen, wie auch ökonomischen Probleme begründet sein könnte. Trotzdem hat sich vor allem in unserem Kulturraum die Rationalität durchgesetzt. Ein kurzer Rückblick auf das Zustandekommen dieser Vorherrschaft sei hier erlaubt.

Descartes und Pascal

Ordo (lat.): "Ordnung, Hinordnung", Auffassung des christl.- mittelalterl. Denkens, daß alles weltliche Streben seine Bestimmung nur in Gott hat, er ist die "Erste Ursache", "Erster Beweger".

Das Mittelalter in Europa war durch das ausgeprägte Bewusstsein des Menschen von seiner Ohnmacht gekennzeichnet. Der so genannte Ordo-Gedanke ließ keinen Spielraum für Eingriffe in Natur und Gesellschaft. Der Gang der Dinge und des Geschehens war Chefsache. Gott lenkte und bestimmte alles, was die Lebenswelt ausmachte, von den Naturkatastrophen bis zu den Hochzeiten und Geburten. Einblicke in die Ordnung der Welt waren den Sterblichen verwehrt, sie ließ sich lediglich erahnen in mystischen und religiösen Spekulationen. Dies bedingte ein Gefühl des Eins-Seins mit der Natur: der Mensch war dem göttlichen Willen ebenso untergeordnet wie Pflanzen und Tiere, wobei dieses Unterordnen eher als Hingabe denn als Opfer empfunden wurde.

Das Selbstverständnis des Menschen änderte sich jedoch im 15. und 16. Jahrhundert grundlegend durch eine Fülle von naturwissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen, die den Schleier, der bis dahin vor den Geheimnissen der Natur gehangen hatte, lüftete. Der Mensch glaubte sich von nun an in der Lage, dem Schöpfergott in die Karten schauen zu können und darüber hinaus die Regeln des Spiels selber zu bestimmen. Das Ohnmachtsgefühl wich gottähnlichen Allmachtsgedanken, die alsbald in Theorien über die völlige Beherrschbarkeit der Natur mündeten: sie müsse - so Francis Bacon - gefoltert und gequält werden um ihre Geheimnisse preiszugeben - die offene Feindschaft zu ihr war erklärt.

Der Aufschwung, den die Wissenschaften nun nahmen, korrespondierte mit einer seelischen Zwickmühle, deren vermeintliche Auflösung verheerende Folgen bis in unsere Tage haben sollte. Es erwies sich als problematisch, nach dem Verlust des alten Maßes ein neues Maß zu finden, denn in dem Paradies, dass sich der Mensch nun zu errichten anschickte, hatten die tradierten Vorstellungen von einem Weltenschöpfer keinen Platz mehr. Mit der Vertreibung Gottes aus diesem Garten Eden stellte sich der Mensch die Vollendung der Schöpfung selbst anheim.

Unsere Wahrnehmung ist etwas und nicht alles. Lange bevor Emotionale Intelligenz zu einem Schlagwort wurde, sah Pascal im Fühlen die einzige Garantie, dass das Denken sich nicht über die Natur stellte. Dass sich Descartes' Methodenlehre und die seiner Nachfolger bis in das Alltagsleben letztendlich durchsetzen konnte, ist Gegenstand umfangreicher theoriekritischer Arbeiten, für unseren Zusammenhang sind jedoch nur zwei Aspekte von Bedeutung:

  • Am Beginn der Neuzeit steht eine Methodik, die das Ich außerhalb der zu erforschenden Welt stellt.

  • Je distanzierter sich der Betrachtende zu seinen Objekten verhält, je weniger er unmittelbar und direkt beeindruckt ist, je mehr er sich in die Isolation treibt, desto Erfolg versprechender sind seine Operationen.

Die Definition des Ichs wird zu diesem Zweck stark eingegrenzt: Erkenntnisvermögen und Kreativität werden nur mehr dem Verstand zugesprochen, seine Fähigkeiten allein bestimmen Wert und Verwertbarkeit. Die Emotionalität, die Sinnlichkeit, die Antworten des Herzens werden entwertet, abgespalten und in Bereiche gedrängt, denen der Geruch des weltfremden anhaftet: Kunst, Literatur, Musik. Die Bibel sowie die mystischen Schriften des Mittelalters werden ihrer spirituellen Komponenten beraubt. Jede Art von Wahrnehmung, die nicht rational nachvollziehbar ist, ist einer vernichtenden Kritik ausgesetzt. Im wahrsten Sinne des Wortes geht es ab jetzt um Wahrnehmung: Inbesitznahme, Begreifen.

Wiederentdeckung des Lebendigen - Die Santiago-Theorie

Als fundamental neue Zugehensweise auf die Natur der Wahrnehmung erwies sich die von den chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela begründete Santiago-Theorie, die in dem 1987 erschienenen Buch "Der Baum der Erkenntnis" ihre Grundsteinlegung erfuhr. In ihrer mittlerweile zum Klassiker einer Annäherung von Natur- und Geisteswissenschaften gewordenen Arbeit fanden die Autoren einen Zusammenhang zwischen Evolution und Wahrnehmung, der geeignet sein könnte, unser Weltbild zu verändern.

Der zentrale Begriff der Santiago-Theorie lautet Autopoiesis, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern autos (selbst) und poiein (machen): die allem Lebendigen zugrunde liegende Kraft liegt in der Aufrechterhaltung eben dieser Fähigkeit zur Selbstorganisation.

Dies bedingt eine völlig neue Sichtweise der Evolution. Sah der herkömmliche Evolutionsbegriff ein ausgeprägtes Konkurrenz- und Kampfprinzip in der Natur am Werk, so entdeckten Varela und Maturana ein kooperatives Moment, dem sie den Namen "strukturelle Kopplung" gaben: das Überleben eines Individuums oder einer Art muss nicht zwingend mit seiner Fähigkeit zu Stärke und Anpassung zusammenhängen, sondern vielmehr damit, wie es in der Lage ist, sich mit der Umwelt zusammen zu entwickeln (daher "strukturell" und nicht "organisatorisch").

In bewusster Anlehnung an den darwinistischen Terminus der "natürlichen Auslese" als charakteristisches Moment in der Natur, beschreiben Varela und Maturana den Prozesscharakter der Evolution als natürliches Driften:

Ein Skifahrer, der einen Hang hinuntersaust, berücksichtigt ständig die Beschaffenheit des Geländes, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei befindet er sich aber paradoxerweise häufig in einem Zustand des Ungleichgewichts, der es ihm erst ermöglicht, seine Bahn zu halten: er weicht aus, vollführt Manöver, die seinem Können entsprechen, reagiert auf plötzlich auftauchende Hindernisse, nimmt kleine Umwege in Kauf, etc. In Kooperation mit den Gegebenheiten vollführt er seine Selbstorganisation, er driftet.

Evolution definiert sich hier als Landschaft, die nur in ihrer Gesamtheit funktionieren und sich entwickeln kann; Evolution zeigt sich als Potential kooperativer Kreativität, die es jedem einzelnen Bestandteil ermöglicht, eine Fülle zu nutzen, sich zu entwickeln. Der Organismus arbeitet zwar mit der Umwelt, indem er sich in sie einordnet und mit ihr schwimmt, er ist aber keineswegs durch die Umwelt gezwungen, nur einen, von ihr bestimmten Weg einzuschlagen. Das Wort Schöpfung bekommt nun einen veränderten Sinn: das einzelne Lebewesen wird zum Mitgestalter seiner eigenen Bedingungen, die Außenwelt ist nicht unveränderbar gegeben und abgeschlossen.

"Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt"

Diese Neuformulierung der Evolution zieht eine neue Sicht der Wahrnehmung nach sich. Wenn jedes Lebewesen durch die strukturelle Kopplung an seine Umwelt gebunden ist, nicht als Einzelkämpfer mit dem egoistischen Ziel des Sieges in der Natur agiert, bedeutet dies für das Lebewesen auch eine gefächertere Art der Wahrnehmung: es kann unmöglich nur mit seiner ureigensten Wahrnehmungsweise alleine überleben, sondern muss den Lebensraum der ihn umgebenden Geschöpfe mit einbeziehen. Würde das Lebewesen das nicht tun, könnte es für eine gewisse Zeit - im darwinistischen Sinne des größtmöglichen Erfolges - überleben. Aber auf lange Sicht würde es sich selbst das Wasser abgraben. Das ist jedoch die Folge, mit der die Menschheit heute aufgrund der fehlenden Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit konfrontiert wird. Ozonloch, radioaktiver Müll, Gewässerverschmutzung sind Ausdruck einer geradezu selektiven Wahrnehmung.

In diesem Sinne meint "strukturelle Kopplung" jedoch noch Weitergehendes: wenn ich als einzelner Mensch akzeptiere, das ich nur zusammen mit meiner Umwelt überleben kann, dann bedeutet dies auch, dass meine Beobachtungen Produkt eben dieser Zusammenarbeit sind. Um noch einmal auf das Skifahrer-Beispiel zurückzugehen: um einigermaßen heil im Tal anzukommen, kann ich nicht so tun, als gäbe es die mich umgebenden Hindernisse und Unebenheiten des Bodens nicht; es ist aber auch nicht so, dass ich lediglich reagiere, denn schließlich will ich mich ja bewegen, auf diese Art vorwärts kommen. Um das zu bewerkstelligen, bin ich gezwungen, die Leistung meiner Wahrnehmung beständig zu überprüfen, gemeinsam mit der "äußeren" Welt bringe ich eine eigene zustande und bin wiederum Teil von ihr. Ich überlebe also nicht nur die Abfahrt am Skihang, sondern wedle genussvoll und in Kooperation mit der Struktur der Wirklichkeit ins Tal, ich verleihe mir Souveränität, indem ich mich zum aktiven Mitspieler mache.

Nach der bisher allgemein gebräuchlichen Lehrmeinung sind unsere Sinnesorgane isolierte Fenster zum Gehirn, das deren Leistungen in ebenso isolierter Form nach Art einer elektrischen Reihenschaltung hintereinander passiv verarbeitet. Neuere Ergebnisse auf dem Gebiet der Gehirnforschung bestätigen allerdings, dass diese Arbeit weder passiv noch hintereinander geleistet wird. Es findet ein vernetzter Interpretationsprozess statt, eine Entsprechung Eins-zu-Eins vom Gegenstand der Wahrnehmung und seiner Bedeutung anzunehmen, ist demnach nicht haltbar. Wir sehen nicht, was da ist, sondern eher das, was uns bekannt vorkommt, wir erkennen. Das Bild, dass so von der Realität entsteht, gibt mindestens ebensoviel Auskunft über die sie konstruierende Person wie das Bild selbst. Das Gehirn liefert zureichende Bedeutungsmuster, die Entstehung von Bedeutung dagegen ist ein emergenter Akt, d.h. aus vielen Komponenten, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben, entsteht etwas Neues, das mehr ist als die Summe seiner Teile.

Die Konsequenzen des Gesagten sind radikal. Wir müssen uns klarmachen, dass Wahrnehmung nichts anderes ist, als eine künstliche Leistung unseres Erkenntnisapparates, der aus mehreren Elementen ein Bild der Wirklichkeit zusammensetzt, das in diesen oder jenen Moment passt. Die entstehende Illusion ist dabei allerdings, dass wir damit ein wahres und zutreffendes Bild der Wirklichkeit zu besitzen glauben. Das Wahrzunehmende ist unsere ureigenste Schöpfung, dessen Existenz in keinster Weise zwingend nachgewiesen werden könnte. Aus der modernen Physik ist uns das Phänomen der Unschärferelation bekannt: ein Gegenstand nimmt erst durch den Vorgang der Beobachtung Eigenschaften an, bei einer Wiederholung des Vorgangs verändern sich diese erneut, exakte Messbarkeit ist unmöglich ohne die sinnschaffende Leistung des Beobachtenden miteinzubeziehen. Ähnlich verhält es sich mit unserer Wahrnehmung: wir stehen vor einer Vielzahl von Wirklichkeiten, lassen jedoch beileibe nicht alle wirken.

Getrennt von dem Rest der Schöpfung nehmen wir nurmehr unser eingerüstetes intellektuelles Ich zur Kenntnis, das angeblich über allem steht. Somit lassen wir der Möglichkeit wenig Raum, dass unser Fühlen wesentlich näher an der Evolution sein könnte. Durch diese Trennung begreifen wir auch nicht das ungeheure Maß an Einfluss, den wir auf den fließenden Entwicklungsprozess haben, denn wir schwimmen in diesem Fluss nicht mit, sondern beobachten von den Ufern aus das Geschehen, greifen ein durch Dämme, Befestigungen oder Begradigungen, um den Lauf der Dinge in unserem Sinne zu ändern.

Dabei ist es heute nötiger denn je, sowohl Fluss als auch Ufer zu sein, Eisberg und Meer. Diesen Trennungsakt rückgängig machen zu können, dürfte kaum möglich sein, doch es liegt im Bereich unserer Fähigkeiten, uns zunächst diese Trennung als Wesensmerkmal unserer Wahrnehmungskultur bewusst werden zu lassen um deren Rahmenbedingungen dann vielleicht zu ändern. Ebenso liegt es im Bereich unserer Möglichkeiten, uns zumindest eine kurzfristige Erfahrung von Einheit zu verschaffen und das darin verborgene Entwicklungspotential zur selbstbestimmten Veränderung einer größeren Wahrnehmungskultur zu nutzen.

Reise um den Tag in achtzig Welten

Jules Verne schickte bekanntlich seinen Helden Phileas Fogg, der eine Wette mit einigen spleenigen Londoner Gentlemen eingegangen war, in achtzig Tagen um die Welt. Dem Abenteuerroman entnehmen wir, dass Fogg nach vielen Gefahren in der festgesetzten Zeit wohlbehalten nach England zurückkehrt, nachdem er den Beweis angetreten hat, dass die technischen Erfindungen dem Menschen schier unglaubliche Dinge ermöglichen.

Wenn wir jedoch Wahrnehmung und Evolution als eine permanente Herausforderung zu Kreativität und Zusammenarbeit verstehen, wenn wir es für gültig erachten, dass die Welt in jedem Moment durch uns neu erschaffen wird, wenn wir uns auf einer Ebene bewegen, wo Verstand und Gefühl sich treffen, müssten wir uns auf eine andere Reise begeben, die uns genauso unglaubliche Dinge ermöglichen könnte wie Vernes Phantasieprodukt: die Reise um den Tag in achtzig Welten.

In unserem Geist sind mehr Signale und Echos enthalten, als wir durch den flüchtigen Blick unserer Erkenntnisgeschichte und -kultur gewahr werden können. Wir müssen uns nicht an äußeren Faktoren orientieren, um diese Signale und Echos wieder zuzulassen, jeder Mensch hat in sich das Potential zu dieser Öffnung, die Koffer zur inneren Reise stehen längst bereit.

Um diese Reise antreten zu können, ist gleichwohl eine andere Kultur der Wahrnehmung vonnöten, und dies ist die eigentliche Aufgabe der Zukunft. Diese noch zu schaffende Wahrnehmungskultur müsste sowohl ästhetische wie religiöse Elemente enthalten, Aspekte des Fühlens und Spürens, der körperlichen Intelligenz.

Wenn wir uns in die Lage versetzen, andere Wahrnehmungsweisen anzuschauen, uns auf sie einzulassen, wird sich unser Horizont beträchtlich erweitern. Dies setzt nichts Geringeres voraus als die Schaffung einer neuen Ethik, die menschliche Wahrnehmung nur als eine von vielen betrachtet, und die bereits an unseren Schulen zum Fächerkanon gehören müsste. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Wahrnehmung nicht einfach gelehrt werden kann, sie hat den Willen desjenigen, der sie sich aneignen will, zur Voraussetzung, seine Öffnung - zunächst für sich selbst. Sie muss eingeübt werden: will ich den Fluss verstehen, so muss ich dem Fluss in mir vertrauen, ich muss selber zu einem Teil von ihm werden.

Literatur:

[1]  Capra, Fritjof: Wendezeit, München, 1991

[2]  Maturana, Humberto R./ Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern und München 1987


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