Download PDF

Download Word

Materialien zum Ethikunterricht

Zur Frage der Willensfreiheit (Kant)

 

aus: R. Eisler, Kant Lexikon, Hildesheim 1994, S. 163 und S. 165

 

(S. 162)

Der Mensch ist nicht bloß Erscheinung der Sinne, sondern erfasst sich auch selbst durch „bloße Apperzeption" als denkend-wollendes, mit Spontaneität begabtes Wesen, dessen geistiges "Vermögen" nicht sinnlich ist. Insbesondere ist die „Vernunft“ des Menschen von allen „empirisch bedingten Kräften“, unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen bestimmt. Und diese Vernunft hat „Kausalität“. Das „Sollen“ (s. d.) gebietet Handlungen, deren "Grund" ein "bloßer Begriff", nicht eine sinnliche Erscheinung ist. Die Vernunft gibt hier nicht der Sinnlichkeit nach, folgt nicht der Ordnung der Erscheinungen, sondern sie "macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen". Der Mensch hat einen empirischen Charakter, d. h. "eine gewisse Kausalität seiner Vernunft, sofern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt".

Aus diesem Charakter und den mitwirkenden Ursachen folgen alle Handlungen des Menschen naturgesetzlich, so dass wir alle mit Gewissheit voraussagen könnten, wenn wir sein Wollen bis auf den Grund erforschen könnten. Wenn wir aber dieselben Handlungen "in praktischer Absicht" (normativ) beurteilen, so beziehen wir sie auf "Gründe der Vernunft", nach denen sie geschehen sollen, bisweilen auch wirklich geschehen. Vernunft, wenn sie eine (nicht der Zeit unterworfene) Kausalität ausübt, ist "ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt". Im intelligiblen Charakter ist "kein Vorher oder Nachher".

Jede Handlung ist der Zeit nach die Wirkung empirischer Ursachen, abgesehen davon aber zugleich die "unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt". Die Zurechnung stützt sich auf diese Macht und Zeitlosigkeit (Unveränderlichkeit) der Vernunft. Warum aber die Vernunft die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders 25 bestimmt, warum der intelligible Charakter gerade diesen empirischen Charakter gibt, das ist nicht zu beantworten. Es ist zu beachten, dass hier (noch) nicht die Wirklichkeit oder auch nur Möglichkeit der F. bewiesen werden sollte, was aus Begriffen niemals angängig ist. Es wird nur gezeigt, dass die Antinomie zwischen Natur und F. auf einem bloßen Scheine beruht und dass Natur der Kausalität aus F. wenigstens nicht widerstreitet.

 (S. 164 f.)

Eine solche Vernunft "muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen", folglich muss sie als frei angesehen werden. F. muss also als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen "vorausgesetzt" werden. Aus dieser Voraussetzung fließt das Bewusstsein eines Gesetzes, so zu handeln, "dass die subjektiven Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, dass sie auch objektiv, d. i. allgemein als Grundsätze gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen können". "Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen, und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle anderen mit Vernunft begabten Wesen? Ich will einräumen, dass mich hierzu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muss doch hiervon notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre." "Woher das moralische Gesetz verbinde", ist die Frage. Es scheint hier ein unabweisbarer "Zirkel" vorzuliegen. "Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die F. des Willens beigelegt haben", denn F. und Autonomie sind "Wechselbegriffe", die einander nicht erklären können. "Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob wir, wenn wir uns durch F. als apriori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen." Wie die Dinge, so erfasst der Mensch auch sich selbst einerseits als zur "Sinnenwelt" gehörige "Erscheinung", anderseits denkt er sich als ein zur "intellektuellen Welt" gehörendes "Ding an sich". Ein vernünftiges (der Ideen fähiges, mit "Spontaneität" begabtes) Wesen muss sich selbst als Intelligenz, als zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; es hat also "zwei Standpunkte" der Selbstbetrachtung: "einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind".

 

... Es liegt also kein Zirkel vor. "Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei denken, so

versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich als zur Verstandeswelt gehörig". "Alle Menschen denken sich dem 10 Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind." F. ist kein Erfahrungsbegriff, sondern "nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist", während Natur ein Verstandesbegriff ist, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweisen muss. In spekulativer Absicht ist der "Weg der Naturnotwendigkeit viel gebahnter und brauchbarer", in praktischer aber ist „der Fußsteig der F. der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen“, so dass sie nicht "wegzuvernünfteln" ist. Es kann also kein wahrer Widerspruch zwischen F. und Naturnotwendigkeit bestehen, die "Dialektik" der Vernunft ist nur eine scheinbare. Der Mensch setzt sich als Intelligenz und Wille in "eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältnis zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art". Die Kausalität liegt hier im Menschen als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen "nach Prinzipien einer intelligiblen Welt, von der er wohl nichts weiter weiß, als darin lediglich die Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gebe". Der Begriff einer Verstandeswelt ist aber "nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken", als Intelligenz, mithin als "vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache". Wie aber diese F. selbst möglich ist, lässt sich nicht weiter erklären. "Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann", was mit der Freiheit, die ja eine bloße "Idee" ist, nicht der Fall ist. Nur verteidigen lässt sich die F., die eine praktisch notwendige Voraussetzung und als Eigenschaft des Wesens an sich durchaus denkbar, wenn auch nicht erkennbar ist. Mit dem praktischen Vermögen der Vernunft steht auch die transzendentale F. fest, deren objektive Realität für die theoretische Vernunft nur problematisch ist. Die F. "offenbart sich durchs moralische Gesetz". Sie ist "die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit apriori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen“. 35 Praktische Vernunft verschafft einem "übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität" (d. h. der F.), Realität, obzwar nur "zum praktischen Gebrauche“. Möglich ist die Vereinigung der Kausalität als F. mit ihr als Naturmechanismus in demselben Subjekte nur dadurch, dass dieses in Beziehung auf das erstere als "Wesen an sich selbst" (Noumenon) im "reinen" Bewusstsein, in Beziehung auf das zweite aber als "Erscheinung" im „empirischen“ Bewusstsein vorgestellt wird. F. ist (negativ) Unabhängigkeit vom "Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität. Ein freier Wille ist (positiv) der, "dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann. "F. und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise aufeinander zurück“. Der F. können wir uns weder unmittelbar bewusst werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch auf sie aus der Erfahrung schließen, denn diese gibt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, also den "Mechanismus der Natur", zu erkennen.


Download PDF

Download Word