Bertrand Russell (1872 - 1970)
Der Philosoph, Logiker, Mathematiker und
Sozialkritiker Bertrand Russell wurde am 18.Mai 1872 als drittes Kind von
Lord John Amberlys und seiner Frau Lady Kate in Südwales geboren. Er
studierte Mathematik und Philosophie am Trinity College in Cambridge, wo
er 1895-1901 als Fellow und 1910-1916 als Dozent für Logik und Mathematik
arbeitete. In dieser Zeit lernte er Ludwig Wittgenstein kennen, der ihn
eine Zeit lang maßgeblich beeinflusste. Aufgrund seines aktiven Pazifismus
verlor Russell seine Dozentur und musste 1917 von Mai bis September eine
Gefängnissstrafe wegen eines Zeitungsartikels verbüßen. Zwischen den
Weltkriegen bereiste Russell China, Sowjetrussland und die Vereinigten
Staaten. 1922/23 wurde Russell als Kandidat für die Parlamentswahlen
aufgestellt. Von 1927-1934 leitete er mit seiner zweiten Frau das
fortschrittliche Schulprojekt Beacon Hill. 1938 erhielt er eine
Gastprofessur für Philosophie an der University of Chicago. Eine Professur
am College of the City of New York wurde 1940/1 durch die
Anti-Russell-Bewegung verhindert, die ihn u.a. wegen seiner Forderung nach
gesetzlicher Tolerierung der Homosexualität angriff. 1944 kehrte er nach
England zurück und erhielt wieder einen Lehrauftrag am Trinity College in
Cambridge. Erstmals wurden seine Reden im Rundfunk übertragen. Die
Universität Aix-Provence verlieh ihm 1949 die Ehrendoktorwürde und er
wurde in England mit dem Order of Merit ausgezeichnet. 1950 erhielt er für
seine präzise wissenschaftliche Prosa den Nobelpreis für Literatur. 1958
erfolgte die Gründung der "Campaign for Nuclear Disarment" unter der
Präsidentschaft Russells, in der er aktiv für die atomare Abrüstung
eintrat. Noch als Achtundachtzigjähriger wurde er 1961 wegen "Aufhetzung
der Öffentlichkeit gegen die Staatsgewalt" - er nahm an einem Sitzstreik
teil - zu zwei Monaten Haft verurteilt. Nach öffentlichen Protesten wurde
er nach einer Woche wegen ”ärztlicher Bedenken” entlassen. 1963 wurde die
Bertrand Russell Peace Foundation gegründet. 1966 gründete er das
Internationale Tribunal gegen Kriegsverbrecher, das ein Jahr später in
Schweden als ‘Russell-Tribunal’ wegen des Vietnamkrieges verhandelte.
Am 2. Februar 1970 starb Bertrand Russell in
Penrhyndendraeth in Wales.
Russells Philosophie:
Russell war beeindruckt von der Gewissheit der mathematischen Erkenntnis,
der Sinneserfahrung und der Naturwissenschaft. Dieser Gewissheit glaubte
er am ehesten durch den Nachweis gerecht zu werden, dass die Mathematik
ein Teil der Logik ist. Daher schloss er sich Freges Programm des
Logizismus an, durch welches alle mathematischen Begriffe definitorisch
auf Begriffe der Logik zurückgeführt werden und alle mathematischen
Theoreme auf der Basis solcher Definitionen unter ausschließlicher
Benutzung logischer Prinzipien bewiesen werden sollten. Bei seinen
Bemühungen um die logische Grundlegung der Mathematik stieß Russell auf
eine Paradoxie, die man heute Russell's Paradoxie nennt. Aus dem
Bestreben, das logizistische Programm unter Vermeidung der
mengentheoretischen und verwandten Paradoxien für die gesamte Mathematik
anzuwenden, erwuchsen die gemeinsam mit A. N. Whitehead verfassten
Principia Mathematica (1910-1913). Die dort durchgeführte Analyse der
Antinomien ergeben, dass sie durch fehlerhafte Definitionen zustande
kommen.
Russell kritisierte die Religionen als unwahr und
schädlich in ihren Auswirkungen. Für schädlich hält er z.B., dass ein
unerschütterlicher Glaube als Wert angesehen wird. Gegenargumente, die
Zweifel verursachen, müssen daher unterdrückt werden. Das verhärtet den
Glauben auf beiden Seiten und bereitet den Boden für Kriege. Die
Überzeugung, dass es wichtig ist, etwas zu glauben, obwohl unabhängige
Untersuchungen diesen Glauben nicht bestätigen würden, ist etwas, dass
fast allen Religionen gemeinsam ist und alle staatlichen
Bildungseinrichtungen beeinflusst. Die Konsequenz ist, dass die geistige
Entwicklung der Jugendlichen gehemmt wird und dass sie erfüllt werden von
fanatischer Feindschaft gegenüber denen, die einem anderen Fanatismus
anhängen oder, was noch schlimmer ist, gegenüber denen, die Fanatismus
überhaupt ablehnen. Eine Haltung, die Überzeugungen auf Beweise und Gründe
aufbaut, würde die meisten Übel, an der die Welt leidet, kurieren.
Ein Weiterleben der Seele nach dem Tode hält er für ein
Wunschdenken. Er weist darauf hin, dass die Persönlichkeit, die
Erinnerungen und Eigenarten eines Menschen an seine Gehirnstruktur
gebunden ist. Bereits durch eine geringfügige Gehirnverletzung kann das
Gedächtnis ausgelöscht werden. Ein intelligentes Kind kann bereits durch
Jodmangel schwachsinnig werden. Angesichts solcher bekannten Tatsachen ist
es kaum wahrscheinlich, dass der Geist den totalen Zerfall der
Gehirnstruktur übersteht, wie es durch den Tod geschieht. Es sind nicht
rationale Argumente sondern Emotionen, die den Glaube an ein Leben nach
dem Tode hervor rufen. Die wichtigste dieser Emotionen ist die Todesangst,
die instinktiv und biologisch sinnvoll ist. Es zeigte sich aber in der
Geschichte der Menschheit, dass der Glaube an das Paradies großen
militärischen Wert hat, da er die natürliche Kampfbereitschaft erhöht. Es
ist offensichtlich, dass Militaristen klug handeln, wenn sie den Glauben
an die Unsterblichkeit fördern.
Zitate:
Die 10 Gebote des
Liberalismus
1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss.
2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages
kommen die Fakten bestimmt ans Licht
3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern; es
könnte dir gelingen.
4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehegatte oder dein
Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der
Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär.
5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem
Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansichten sind.
6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich
hälst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich.
7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede
heutige Meinung war einmal exzentrisch.
8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive
Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert
sein sollte, dann liegt im Widerspruch eine tiefere Zustimmung.
9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept
passt; denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie
zu verbergen.
10. Neide nicht denen das Glück, die in einem Narrenparadies leben;
denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten.
(Bertrand Russell, New York Times, 16.12.1951)
Warum ich kein Christ bin
von Bertrand Russell
Russell hielt diesen Vortrag am 6. März 1927 für die National Secular
Society, South London Branch in der Battersea Town Hall. Im selben Jahr
veröffentlicht erlangte der Aufsatz später neuen Ruhm durch Paul Edwards
Ausgabe des Russell-Buches ‚Warum ich kein Christ bin und andere
Aufsätze’ (1957)
Wie Sie gehört haben, lautet das Thema, über das ich
heute zu Ihnen sprechen möchte: "Warum ich kein Christ bin." Vielleicht
sollte man zu allererst klarzustellen versuchen, was unter dem Wort
"Christ" zu verstehen sei. Es wird heutzutage von sehr vielen Menschen in
einer recht allgemeinen Bedeutung gebraucht. Manche verstehen darunter
bloß eine Person, die sich bemüht, ein gutes Leben zu führen. In diesem
Sinne gäbe es vermutlich in allen Sekten und Bekenntnissen Christen; ich
glaube jedoch nicht, dass das die wahre Bedeutung des Wortes ist, und zwar
schon deshalb nicht, weil das heißen würde, dass alle Menschen, die keine
Christen sind - alle Buddhisten, Konfuzianer, Mohammedaner usw. -‚ nicht
bemüht wären, ein gutes Leben zu führen. Ich verstehe unter einem Christen
nicht irgendeine Person, die sich entsprechend ihren geistigen Fähigkeiten
bemüht, anständig zu leben. Nach meiner Ansicht muss man ein gewisses
Mindestmaß an festem Glauben besitzen, bevor man das Recht hat, sich einen
Christen zu nennen. Das Wort hat heute nicht mehr die gleiche lebendige
Bedeutung wie zu Zeiten des heiligen Augustinus oder des heiligen Thomas
von Aquino. Wenn in jenen Tagen jemand sagte, er sei ein Christ, so wusste
man, was er meinte. Er erkannte eine ganze Reihe von genauestens
festgelegten Glaubenssätzen an und glaubte an jede einzelne Silbe davon
mit der ganzen Kraft seiner Überzeugung.
Was ist
ein Christ?
Heutzutage ist
das nicht ganz der Fall. Für uns hat Christentum eine etwas unbestimmtere
Bedeutung. Ich finde jedoch, dass es zwei Punkte gibt, die für jeden, der
sich einen Christen nennt, wesentlich sind. Der erste ist dogmatischer
Natur - dass man nämlich an Gott und die Unsterblichkeit glauben muss.
Wenn Sie an diese beiden Begriffe nicht glauben, so können Sie sich streng
genommen nicht einen Christen nennen. Darüber hinaus muss man, wie schon
der Name sagt, in irgendeiner Form an Christus glauben. Die Mohammedaner
glauben zum Beispiel auch an Gott und die Unsterblichkeit, und dennoch
würden sie sich nicht Christen nennen. Ich meine, man muss wenigstens
daran glauben, dass Christus, wenn schon nicht göttlich, so doch zumindest
der Beste und Weiseste der Menschen war. Wenn Sie nicht einmal soviel von
Christus glauben, haben Sie meiner Ansicht nach kein Recht, sich als
Christen zu bezeichnen. Natürlich gibt es noch eine andere Bedeutung, die
Sie in Whitaker's Almanach und in Geographiebüchern antreffen, wo die
Bevölkerung der Erde in Christen, Mohammedaner, Buddhisten, Fetischanbeter
usw. eingeteilt wird; in ihrem Sinn sind wir alle Christen. Die
Geographiebücher zählen uns alle dazu, doch hat das nur rein geographische
Bedeutung, die wir übergehen können. Ich nehme daher an, dass ich Ihnen
zweierlei berichten muss, wenn ich Ihnen sage, warum ich kein Christ bin:
erstens, warum ich nicht an Gott und die Unsterblichkeit glaube, und
zweitens, warum ich nicht der Ansicht bin, dass Christus der Beste und
Weiseste der Menschen war, obwohl ich ihm einen sehr hohen Grad
moralischer Vortrefflichkeit zugestehe.
Hätte es nicht die
erfolgreichen Bemühungen von Zweiflern gegeben, könnte ich das Christentum
nicht so dehnbar definieren. Wie ich schon sagte, hatte das Wort in alter
Zeit eine viel lebendigere Bedeutung. So war beispielsweise darin der
Glaube an die Hölle inbegriffen. Bis vor recht kurzer Zeit war der Glaube
an das ewige Höllenfeuer ein wesentlicher Punkt in der christlichen
Religion. Wie Sie wissen, ist er es in unserem Lande nicht mehr, und zwar
kraft einer Entscheidung des Staatsrates, der der Erzbischof von
Canterbury und der Erzbischof von York nicht zustimmten. Da hierzulande
aber der Glaube durch Parlamentsbeschluss festgelegt wird, konnte sich der
Staatsrat über Ihre Exzellenzen hinwegsetzen, und die Hölle war für einen
Christen nicht mehr nötig. Ich werde daher nicht darauf bestehen, dass ein
Christ an die Hölle glauben muss.
Die Existenz Gottes
Um nun zur Frage der
Existenz Gottes zu kommen: sie ist eine umfangreiche und ernste Frage, und
wollte ich versuchen, sie in angemessener Weise zu behandeln, müsste ich
Sie bis zum Jüngsten Tag hierbehalten. Sie müssen mich daher
entschuldigen, wenn ich sie nur kurz abhandle. Wie Ihnen bekannt ist, hat
die katholische Kirche zum Dogma erhoben, dass sich die Existenz Gottes
durch die Vernunft beweisen lässt. Dieses Dogma ist zwar etwas eigenartig,
aber es ist immerhin eines ihrer Dogmen. Sie musste es einführen, als die
Freidenker die Gewohnheit annahmen zu behaupten, es gebe diese und jene
Argumente, die die reine Vernunft gegen die Existenz Gottes vorbringen
könnte, aber natürlich seien sie durch ihren Glauben überzeugt, dass es
Gott gebe. Die Beweise und Gründe wurden sehr ausführlich dargelegt, und
die katholische Kirche erkannte, dass sie dem ein Ende machen musste.
Daher behauptete sie, die Existenz Gottes lasse sich durch die menschliche
Vernunft beweisen, und um diese Behauptung zu begründen, musste sie
Argumente vorbringen, die sie für stichhaltig hielt. Natürlich gibt es
davon eine ganze Anzahl, aber ich werde nur einige herausgreifen.
Der Beweis einer ersten
Ursache
Das Argument, das wohl am
einfachsten und leichtesten zu verstehen ist, ist das einer ersten
Ursache. (Es wird behauptet, dass alles, was wir auf dieser Welt sehen,
eine Ursache hat und dass man zu einer ersten Ursache gelangen muss, wenn
man die Kette der Ursachen immer weiter zurückverfolgt, diese erste
Ursache nennt man Gott.) Dieses Argument hat heute kaum noch Gewicht, vor
allem, weil der Begriff der Ursache nicht mehr die gleiche Bedeutung hat
wie früher. Die Philosophen und Wissenschaftler haben sich darüber
hergemacht, und der Begriff hat viel von seiner früheren Vitalität
verloren. Aber auch unabhängig davon muss man einsehen, dass das Argument,
es müsse eine erste Ursache geben, keinerlei Bedeutung haben kann. Ich
muss zugeben, dass ich als junger Mann, als ich diese Fragen sehr
ernsthaft erwog, lange Zeit das Argument der ersten Ursache gelten ließ,
bis ich eines Tages, im Alter von achtzehn Jahren, John Stuart Mills
Autobiographie las und darin folgenden Satz fand: »Mein Vater lehrte mich,
dass es auf die Frage »Wer hat mich erschaffen?«
keine Antwort gibt, da diese sofort die weitere Frage nahelegt:
»Wer hat Gott erschaffen?«
Wie ich noch immer glaube, machte mir dieser ganz einfache Satz den
Trugschluss im Argument der ersten Ursache deutlich. Wenn alles eine
Ursache haben muss, dann muss auch Gott eine Ursache haben. Wenn es etwas
geben kann, das keine Ursache hat, kann das ebensogut die Welt wie Gott
sein, so dass das Argument bedeutungslos wird. Es liegt genau auf der
gleichen Linie wie die Ansicht des Hindus, die Welt ruhe auf einem
Elefanten und der Elefant stehe auf einer Schildkröte; als man ihn fragte:
»Und was ist mit der Schildkröte?«, sagte der Inder: »Sprechen wir von
etwas anderem!« Das Argument ist wirklich um keinen Deut besser. Es gibt
weder einen Grund dafür, warum die Welt nicht auch ohne eine Ursache
begonnen haben könnte, noch, warum sie nicht schon immer existiert haben
sollte. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Welt überhaupt einen
Anfang hatte. Die Idee, dass alles einen Anfang haben müsse, entspringt
nur der Armut unserer Vorstellungskraft. Deshalb brauche ich wohl keine
weitere Zeit mehr auf das Argument der ersten Ursache zu verschwenden.
Der Beweis durch das
Naturgesetz
Ferner gibt es das
weitverbreitete Argument des Naturgesetzes. Es war im ganzen achtzehnten
Jahrhundert besonders unter dem Einfluss von Sir Isaac Newton und seiner
Weltentstehungslehre sehr beliebt. Man beobachtete, dass sich die Planeten
nach dem Gravitationsgesetz um die Sonne bewegen, und glaubte, Gott habe
ihnen befohlen, sich gerade auf diese Art zu bewegen, und das sei der
Grund für ihr Verhalten. Das war natürlich eine einfache und bequeme
Begründung, die den Menschen die Mühe abnahm, nach weiteren Erklärungen
des Gravitationsgesetzes zu suchen. Heute begründen wir das
Gravitationsgesetz auf eine etwas komplizierte Weise, die Einstein
entwickelt hat. Ich habe nicht vor, Ihnen eine Vorlesung über das
Gravitationsgesetz, wie es von Einstein erklärt wird, zu halten; das würde
auch zuviel Zeit beanspruchen. Für uns sind jedenfalls die Naturgesetze
nicht mehr dieselben wie im Newtonschen System, wo sich die Natur aus
irgendeinem Grund, den niemand verstehen konnte, einheitlich verhielt.
Jetzt erkennen wir, dass sehr vieles, was wir für ein Naturgesetz gehalten
haben, in Wahrheit menschliches Übereinkommen ist. Sie wissen, dass noch
in den entferntesten Tiefen des Weltraums ein Meter hundert Zentimeter
hat. Das ist zweifellos eine bemerkenswerte Tatsache, aber man würde es
kaum ein Naturgesetz nennen. Vieles, was für ein Naturgesetz gehalten
wird, ist von dieser Art. Andererseits muss man, soweit man überhaupt in
das wirkliche Verhalten von Atomen Einblick gewinnen kann, feststellen,
dass sie viel weniger einem Gesetz unterworfen sind, als angenommen wurde,
und dass die Gesetze, auf die man schließlich kommt, statistische
Durchschnittswerte genau der gleichen Art sind, wie sie sich aus dem
Zufall ergeben. Es gibt bekanntlich ein Gesetz, dass sich beim Würfeln nur
etwa jedes 36. Mal zwei Sechsen ergeben; aber das betrachtet man nicht als
Beweis, dass das Fallen der Würfel planmäßig gesteuert wird. Im Gegenteil,
wenn jedesmal zwei Sechsen kämen, würden wir dahinter eine Absicht
vermuten. Viele Naturgesetze sind von dieser Art. Sie sind statistische
Durchschnittswerte, die sich aus dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit
ergeben, wodurch die ganze Frage der Naturgesetze viel weniger imponierend
erscheint als früher. Aber ganz abgesehen von diesen Überlegungen, die dem
augenblicklichen Stand der Wissenschaft entsprechen, der sich schon morgen
ändern kann, beruht die ganze Auffassung, dass Naturgesetze einen
Gesetzgeber bedingen, darauf, dass Naturgesetze und menschliche Gesetze
durcheinandergebracht werden. Menschliche Gesetze schreiben uns ein
bestimmtes Verhalten vor, und wir können sie befolgen oder nicht; aber die
Naturgesetze beschreiben das tatsächliche Verhalten der Dinge, und daher
kann man nicht einwenden, dass es einen geben muss, der es ihnen
vorschreibt; denn selbst angenommen, es gäbe einen, so drängt sich die
Frage auf: "Warum hat Gott gerade diese Naturgesetze erlassen und keine
andern?" Wenn Sie sagen, er tat es ohne jeglichen Grund, weil es ihm so
gefiel, so müssen Sie zugeben, dass es etwas gibt, das dem Gesetz nicht
unterworfen ist, und Ihre Kette von Naturgesetzen wird unterbrochen. Wenn
Sie wie die orthodoxeren Theologen sagen, Gott habe bei all seinen
Gesetzen einen Grund gehabt, gerade diese Gesetze zu erlassen und keine
andern - wobei natürlich der Grund der ist, dass er das beste Universum
erschaffen wollte, obwohl man das bei näherer Betrachtung nie annehmen
würde -‚ wenn es also einen Grund für Gottes Gesetz gab, so war Gott
selbst Gesetzen unterworfen, und es bietet Ihnen keinen Vorteil, Gott als
Zwischenglied einzuschalten. Sie haben dann nämlich ein Gesetz außerhalb
und vor dem göttlichen Gesetz, und Gott entspricht nicht Ihrem Zweck, da
er nicht der letzte Gesetzgeber ist. Kurz, dieser ganze Streit über das
Naturgesetz hat bei weitem nicht mehr das Gewicht, das er früher hatte.
Ich möchte die Beweise in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachten.
Die Argumente, die für die Existenz Gottes angeführt werden, ändern mit
der Zeit ihren Charakter. Zuerst waren es unumstößliche intellektuelle
Argumente, die ganz bestimmte Trugschlüsse enthielten. Je mehr wir uns den
modernen Zeiten nähern, um so unansehnlicher werden sie in intellektueller
Hinsicht, aber dafür um so stärker von einer Art moralisierender
Unklarheit angekränkelt.
Der teleologische
Gottesbeweis
Der nächste Schritt in
dieser Entwicklung bringt uns zum teleologischen Argument. Sie alle kennen
es: Die ganze Welt ist genau so beschaffen, dass wir darin leben können,
und wenn sie nur ein wenig anders wäre, könnten wir darin nicht leben. Das
ist das Argument der zweckmäßigen Weltordnung. Manchmal nimmt es eine
etwas eigenartige Form an. So wird zum Beispiel behauptet, Kaninchen
hätten weiße Schwänze, damit man sie leicht abschießen könne. Ich weiß
nicht, wie sich die Kaninchen zu dieser Auffassung stellen. Es ist ein
Argument, das sich leicht parodieren lässt. Sie alle kennen Voltaires
Äußerung, die Nase sei offenbar so geschaffen, dass darauf eine Brille
passe. Es hat sich gezeigt, dass solche Parodien nicht annähernd soweit
daneben treffen, wie es im achtzehnten Jahrhundert den Anschein haben
mochte, weil wir seit Darwin viel besser verstehen, warum Lebewesen ihrer
Umwelt angepasst sind. Nicht die Umwelt wurde so geschaffen, dass sie für
die Lebewesen geeignet war, sondern die Lebewesen entwickelten sich so,
dass sie für die Umwelt geeignet wurden. Das ist die Grundlage der
Anpassung, und es ist keinerlei Absicht dabei erkennbar. Wenn man das
teleologische Argument näher betrachtet, ist es höchst erstaunlich, dass
Menschen glauben können, diese Welt mit allem, was sich darin befindet,
und mit all ihren Fehlern sei das Beste, was Allmacht und Allwissenheit in
Millionen von Jahren erschaffen konnten. Ich kann das wirklich nicht
glauben. Meinen Sie, wenn Ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu
Jahrmillionen gegeben wären, um Ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann
nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen
könnten? Wenn man die gewöhnlichen Gesetze der Wissenschaft gelten lässt,
so muss man überdies annehmen, dass auf diesem Planeten das menschliche
Leben und das Leben überhaupt zu einem gewissen Zeitpunkt aussterben
werden: es ist nur ein Übergangsstadium im Verfall des Sonnensystems. In
einem bestimmten Verfallsstadium ergeben sich jene Temperaturbedingungen
und anderes, was dem Protoplasma zuträglich ist, und für eine kurze
Periode in der Dauer des gesamten Sonnensystems gibt es Leben. Der Mond
führt uns vor Augen, worauf die Erde zusteuert: auf etwas Totes, Kaltes
und Lebloses. Eine solche Ansicht sei deprimierend, sagt man mir, und
manche behaupten, sie könnten nicht weiterleben, wenn sie daran glaubten.
Glauben Sie es nicht, es ist alles Unsinn. In Wahrheit macht sich niemand
viel Gedanken darüber, was in Millionen von Jahren sein wird. Selbst wenn
die Leute glauben, sie machten sich deshalb Sorgen, so täuschen sie sich
nur. Sie machen sich Sorgen über etwas viel Irdischeres, oder vielleicht
leiden sie auch nur an schlechter Verdauung, aber der Gedanke an etwas,
das in Millionen und Abermillionen von Jahren mit dieser Welt geschehen
wird, macht keinen ernsthaft unglücklich. Obwohl es natürlich eine düstere
Aussicht ist, wenn man annimmt, dass das Leben aussterben wird -
wenigstens glaube ich, dass wir das so ausdrücken können, obwohl ich es
manchmal, wenn ich so sehe, was die Menschen aus ihrem Leben machen, fast
für einen Trost halte -‚ so ist die Aussicht doch nicht so düster, dass
sie deshalb unser Leben elend machte. Sie veranlasst uns nur, unsere
Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden.
Die moralischen Gottesbeweise
Wir kommen jetzt zu einem
weiteren Stadium der geistigen Entwicklung, wie ich es bezeichnen möchte,
die die Theisten mit ihren Beweisen durchgemacht haben, und zwar zu den
sogenannten moralischen Argumenten für die Existenz Gottes. Früher gab es
bekanntlich drei Vernunftbeweise für die Existenz Gottes, die alle von
Immanuel Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" entkräftet wurden; aber
kaum hatte er sie abgetan, erfand er einen neuen, einen moralischen
Beweis, und dieser überzeugte ihn vollkommen. Wie so viele Menschen war er
in intellektuellen Fragen skeptisch, aber in Dingen der Moral glaubte er
bedingungslos an die Maximen, die er auf dem Schoß seiner Mutter in sich
aufgenommen hatte. Das veranschaulicht nur, was die Psychoanalytiker so
sehr betonen - nämlich, wie unendlich stärker wir von unseren
frühkindlichen Assoziationen beeinflusst werden als von denen späterer
Altersstufen. Wie gesagt, Kant erfand ein neues, moralisches Argument für
die Existenz Gottes, das in verschiedenen Fassungen im neunzehnten
Jahrhundert außerordentlich beliebt war. Man hört es in allen möglichen
Versionen. Eine davon besagt, ohne die Existenz Gottes gäbe es weder Gut
noch Böse. Im Augenblick befasse ich mich nicht damit, ob zwischen Gut und
Böse überhaupt ein Unterschied besteht; das ist eine andere Frage. Das
Problem, mit dem ich mich auseinandersetze, ist folgendes. Wenn man ganz
sicher ist, dass zwischen Gut und Böse ein Unterschied besteht, sieht man
sich vor folgende Frage gestellt: Besteht dieser Unterschied durch einen
Machtspruch Gottes oder nicht? Wenn er durch einen Machtspruch Gottes
besteht, dann gibt es für Gott selbst keinen Unterschied zwischen Gut und
Böse, und es bedeutet nichts mehr, wenn man feststellt, Gott sei gut. Wenn
man wie die Theologen sagt, Gott sei gut, so muss man auch sagen, Gut und
Böse haben eine Bedeutung, die vom Machtspruch Gottes unabhängig ist; denn
dass Gottes Befehle gut und nicht schlecht sind, ist unabhängig von der
bloßen Tatsache, dass er sie gab. Dann muss man aber einräumen, dass Gut
und Böse nicht durch Gott entstanden sind, sondern ihrem Wesen nach
logisch vor Gott kommen. Wenn man wollte, könnte man natürlich sagen, es
gebe eine übergeordnete Gottheit, die dem Gott, der unsere Welt erschaffen
hat, Befehle erteilt, oder man könnte sich die Auffassung einiger
Gnostiker zu eigen machen -die ich oft ganz plausibel finde -‚ dass
nämlich unsere Welt in einem Augenblick, als Gott nicht achtgab, vom
Teufel erschaffen wurde. Man könnte für diese Auffassung eine ganze Menge
Grunde anführen, und es ist nicht meine Aufgabe, sie zu widerlegen.
Das Argument der
ausgleichenden Gerechtigkeit
Dann gibt es noch ein
sehr eigenartiges moralisches Argument, nämlich die Behauptung, die
Existenz Gottes sei nötig, um Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. In
dem Teil des Universums, den wir kennen, herrscht große Ungerechtigkeit.
Oft leiden die Guten, während es den Schlechten wohlergeht, und es ist
schwer zu sagen, was ärgerlicher ist. Wenn jedoch im Universum als Ganzem
Gerechtigkeit herrschen soll, muss man annehmen, dass ein zukünftiges
Leben den Ausgleich zum irdischen Leben herstellen wird. So wird also
behauptet, es müsse einen Gott geben und es müsse Himmel und Hölle geben,
damit auf die Dauer Gerechtigkeit herrschen könne. Das ist ein sehr
merkwürdiges Argument. Wollte man die Angelegenheit vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus betrachten, so müsste man sagen: "Schließlich kenne ich nur
diese Welt. Ich weiß nicht, wie das übrige Universum beschaffen ist, aber
soweit man überhaupt mit der Wahrscheinlichkeit argumentieren kann, muss
man annehmen, dass diese Welt ein gutes Beispiel für das Universum ist,
und dass, wenn es hier Ungerechtigkeit gibt, sie höchstwahrscheinlich auch
anderswo vorhanden sein wird." Nehmen wir an, Sie bekommen eine Kiste
Orangen und beim Öffnen stellen Sie fest, dass die ganze oberste Lage
Orangen verdorben ist. Sie würden daraus nicht schließen: "Die unteren
müssen dafür gut sein, damit es sich ausgleicht." Sie würden vielmehr
sagen: "Wahrscheinlich ist die ganze Kiste verdorben." Und so würde auch
ein wissenschaftlich denkender Mensch das Universum beurteilen. Er würde
sagen: "Hier in dieser Welt finden wir sehr viel Ungerechtigkeit, und das
ist ein Grund anzunehmen, dass nicht Gerechtigkeit die Welt regiert; es
liefert uns ein moralisches Argument gegen Gott und nicht für Gott."
Natürlich weiß ich, dass nicht solche verstandesmäßigen Argumente, wie ich
sie Ihnen dargelegt habe, die Menschen wirklich bewegen. Was sie dazu
bewegt, an Gott zu glauben, ist überhaupt kein verstandesmäßiges Argument.
Die meisten Menschen glauben an Gott, weil man es sie von frühester
Kindheit an gelehrt hat, und das ist der Hauptgrund. Der zweitstärkste
Beweggrund ist wohl der Wunsch nach Sicherheit, nach einer Art Gefühl,
dass es einen großen Bruder gibt, der sich um einen kümmert. Das trägt
sehr wesentlich dazu bei, das Verlangen der Menschen nach einem Glauben an
Gott hervorzurufen.
Der Charakter Christi
Ich möchte nun ein paar
Worte über ein Thema sagen, das meiner Ansicht nach von den Rationalisten
nicht ausreichend behandelt wird. Es ist die Frage, ob Christus der beste
und weiseste der Menschen war. Im allgemeinen wird es als
selbstverständlich angesehen, dass wir alle darin übereinstimmen sollten.
Ich selbst bin nicht dieser Ansicht. Es gibt, glaube ich, sehr viele
Punkte, in denen ich mit Christus weit mehr einig bin als die
Bekenntnischristen. Ich bin nicht in allem mit ihm einig, aber ich stimme
mit ihm weit mehr überein als die meisten Bekenntnischristen. Sie werden
sich erinnern, dass er sagte: "Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen,
sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch
die andere hin." Das ist kein neues Gebot oder Prinzip. Es wurde von
Laotse und Buddha schon etwa fünf bis sechshundert Jahre vor Christus
verkündet, aber es ist kein Grundsatz, den die Christen wirklich befolgen.
Ich zweifle beispielsweise nicht daran, dass der gegenwärtige
Premierminister (Steven Baldwin) ein durch und durch aufrichtiger Christ
ist, aber ich würde keinem von Ihnen raten, hinzugehen und ihn auf eine
Wange zu schlagen. Sie würden wahrscheinlich feststellen, dass er der
Ansicht ist, dieser Text sei in übertragenem Sinne gemeint. Dann gibt es
noch einen andern Punkt, den ich für ausgezeichnet halte. Sie werden sich
erinnern, dass Christus sagte: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet
werdet." Ich glaube nicht, dass Sie feststellen könnten, dieses Prinzip
sei an den Gerichtshöfen christlicher Länder sehr verbreitet. Ich habe zu
meiner Zeit eine ganze Anzahl von Richtern gekannt, die eifrige Christen
waren, und keiner von ihnen hatte das Gefühl, sein Tun stehe im
Widerspruch zu christlichen Grundsätzen. Ferner sagt Christus: "Wer dich
um etwas bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, von dem wende dich
nicht ab." Das ist ein sehr gutes Prinzip. Ihr Vorsitzender hat Sie daran
erinnert, dass wir nicht hier sind, um über Politik zu sprechen, aber ich
kann nicht umhin zu bemerken, dass der letzte Wahlkampf über die Frage
ausgetragen wurde, ob es wünschenswert sei, sich von dem abzuwenden, der
borgen will, so dass man annehmen muss, dass sich die Liberalen und
Konservativen in unserem Land aus Leuten zusammensetzen, die der Lehre
Christi nicht zustimmen, weil sie bei jener Gelegenheit sehr entschieden
abwehrten. Dann gibt es eine weitere Maxime Christi, in der meiner Ansicht
nach seht viel steckt; aber ich kann nicht feststellen, dass sie bei
einigen unserer Christenfreunde sehr beliebt ist. Er sagte: "Willst du
vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib den
Erlös den Armen." Es ist eine ausgezeichnete Maxime, aber wie ich schon
sagte, wird sie nicht sehr häufig in die Tat umgesetzt. Das alles sind
meiner Ansicht nach gute Grundsätze, wenn es auch ein wenig schwierig ist,
sein Leben danach einzurichten. Ich behaupte nicht, dass ich selbst danach
lebe, aber schließlich ist das für mich nicht ganz dasselbe wie für einen
Christen.
Mängel in der Lehre Christi
Nachdem ich die
Vortrefflichkeit dieser Maximen eingeräumt habe, komme ich zu gewissen
Einzelheiten, bei denen man meiner Meinung nach Christus, wie er in den
Evangelien geschildert wird, weder die höchste Weisheit noch die höchste
Güte zuerkennen kann; und hier darf ich noch einfügen, dass ich mich nicht
mit der historischen Frage befasse. Geschichtlich gesehen ist es ziemlich
zweifelhaft, ob Christus überhaupt jemals gelebt hat, und wenn ja, so
wissen wir nichts über ihn. Deshalb beschäftige ich mich nicht mit der
historischen Frage, die sehr schwierig ist, sondern mit Christus, wie er
in den Evangelien auftritt, wobei ich die Erzählungen der Evangelien so
nehme, wie sie geschrieben stehen. Da findet sich nun einiges, das nicht
sehr weise erscheint. Zunächst einmal glaubte er gewiss, dass er noch vor
dem Tode aller seiner Zeitgenossen in Wolken der Glorie wiederkehren
würde. Es gibt viele Textstellen, die das beweisen. Er sagt
beispielsweise: "Ihr werdet noch nicht fertig sein mit den Städten
Israels, bis der Menschensohn kommt." Dann sagt er: "Einige von denen, die
hier stehen, werden den Tod nicht kosten, bis sie den Menschensohn in
seinem Reiche kommen sehen." Und es gibt noch viele Stellen, in denen es
ganz deutlich ist, dass er der Meinung war, er werde zu Lebzeiten vieler
damals Lebender wiederkehren. Das war auch der Glaube seiner frühen
Anhänger und die Grundlage eines großen Teils seiner Sittenlehre. Wenn er
sagte: "Sorget nicht ängstlich für den morgigen Tag", und ähnliches, so
größtenteils deshalb, weil er glaubte, er werde sehr bald wiederkehren und
alle gewöhnlichen irdischen Angelegenheiten seien bedeutungslos. Ich habe
tatsächlich einige Christen gekannt , die glaubten, seine Wiederkehr stehe
kurz bevor. Ein Geistlicher, den ich kannte, jagte seiner Gemeinde eine
schreckliche Angst ein, indem er ihr sagte, die Wiederkehr Christi stehe
wahrhaftig unmittelbar bevor; aber als sie sahen, dass er in seinem Garten
Bäume pflanzte, waren sie wieder beruhigt. Die frühen Christen glaubten
wirklich daran, und sie unterließen solche Dinge, wie in ihren Gärten
Bäume zu pflanzen, da sie von Christus den Glauben übernahmen, dass die
Wiederkehr nahe bevorstehe. In dieser Hinsicht war er eindeutig nicht so
klug wie manche andere Menschen, und die höchste Weisheit besaß er ganz
gewiss nicht.
Das moralische Problem
Wenden wir uns nunmehr
moralischen Fragen zu. Christus hatte nach meiner Ansicht einen sehr
schweren Charakterfehler, nämlich dass er an die Hölle glaubte. Ich
meinerseits finde nicht, dass jemand, der wirklich zutiefst
menschenfreundlich ist, an eine ewigwährende Strafe glauben kann.
Christus, wie er in den Evangelien geschildert wird, glaubte ganz gewiss
an eine ewige Strafe, und wiederholt findet man in ihnen eine rachsüchtige
Wut auf jene Menschen, die auf seine Predigten nicht hören wollten - eine
bei Predigern nicht ungewöhnliche Haltung, die aber die höchste
Vortrefflichkeit etwas in Frage stellt. Bei Sokrates beispielsweise findet
man diese Einstellung nicht. Er ist gegenüber den Menschen, die nicht auf
ihn hören wollten, höflich und verbindlich, und meiner Meinung nach ist
diese Haltung eines Weisen viel würdiger als die der Entrüstung. Sie
erinnern sich wahrscheinlich alle daran, was Sokrates vor seinem Tode
sprach, und an jene Worte, die er im allgemeinen zu Leuten sagte, die mit
ihm nicht übereinstimmten. Christus sagte in den Evangelien: »Ihr
Schlangen und Natterngezücht! Wie werdet ihr der Verurteilung zur Hölle
entrinnen?«, und zwar sagte er es zu Leuten, denen seine Predigten nicht
gefielen.
Nach meiner Meinung ist das nicht gerade das beste
Verhalten. Es gibt jedoch viele derartige Stellen über die Hölle, zum
Beispiel den bekannten Ausspruch über die Sünde wider den Heiligen Geist:
»Wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser noch in
der künftigen Welt vergeben werden.» Diese Stelle hat in der Welt
unaussprechliches Elend verursacht, denn alle möglichen Leute glaubten,
sie hätten wider den Heiligen Geist gesündigt und es würde ihnen weder in
dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden. Ich finde wahrhaftig
nicht, dass ein Mensch, dessen Natur ein rechtes Maß an Güte enthält,
soviel Angst und Schrecken in die Welt gesetzt hätte. Dann sagt Christus:
»Der Menschensohn wird seine Engel aussenden. Diese werden aus seinem
Reiche alle Verführer und Übeltäter sammeln und werden sie in den
Feuerofen werfen. Da wird Heulen und Zähneknirschen sein." Und über das
Heulen und Zähneknirschen spricht er immer wieder. Es kommt in einem Vers
nach dem andern vor, und deshalb ist es für den Leser ganz offenbar, dass
ihm die Vorstellung des Heulens und Zähneknirschens ein gewisses Vergnügen
bereitete. Dann erinnern Sie sich natürlich alle an die Stelle über die
Schafe und Böcke, wie er bei seiner Wiederkehr zu den Böcken sagen wird:
»Weicht von mir, all ihr Übeltäter, in das ewige Feuer." Er fährt fort:
"Und sie werden in das ewige Feuer gehen." Dann wieder sagt er: "Wenn
deine Hand dir Ärgernis gibt, so haue sie ab; es ist für dich besser,
verstümmelt ins Leben einzugehen, als mit zwei Händen in die Hölle zu
fahren, in das unauslöschliche Feuer, wo der Wurm nicht stirbt und das
Feuer nicht erlischt." Auch das wiederholt er immer wieder. Ich muss
sagen, dass diese ganze Lehre vom Höllenfeuer als Strafe für die Sünde
eine grausame Lehre ist. Sie hat Grausamkeit in die Welt gebracht und für
Generationen unbarmherzige Foltern. Und könnte man annehmen, dass der
Christus der Evangelien auch in Wirklichkeit so war, wie ihn seine
Chronisten darstellen, so müsste man ihn gewiss zum Teil dafür
verantwortlich machen. Es gibt aber noch andere Dinge von geringerer
Bedeutung. Da ist die Begebenheit mit den Gadarener Säuen, wo es den
Schweinen gegenüber ganz gewiss nicht sehr nett war, die Teufel in sie
fahren zu lassen, so dass sie den Hügel hinab ins Meer stürmten. Sie
müssen bedenken, dass er allmächtig war und die Teufel einfach hätte
fortschicken können; aber er zog es vor, sie in die Säue fahren zu lassen.
Sie erinnern sich sicher auch an die seltsame Geschichte vom Feigenbaum,
von der ich nie wusste, was ich davon halten solle. »Des anderen Tages
aber, da sie von Bethanien weggingen, hungerte ihn. Er sah von ferne einen
Feigenbaum, der Blätter hatte, und ging hinzu, ob er wohl etwas an ihm
fände. Als er aber hinzukam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht
Feigenzeit. Da sprach er zu ihm: Niemals esse jemand wieder eine Frucht
von dir in Ewigkeit! ... Und Petrus... sagte zu ihm: Meister, sieh, der
Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt." Das ist eine sehr
eigenartige Geschichte, weil man dem Feigenbaum wirklich keinen Vorwurf
daraus machen konnte, dass es nicht die rechte Jahreszeit für Feigen war.
Ich meinerseits kann nicht finden, dass Christus an Weisheit oder Tugend
ganz so hoch steht wie einige andere geschichtliche Persönlichkeiten. In
dieser Hinsicht würde ich Buddha oder Sokrates noch über ihn stellen.
Das gefühlsmäßige Moment
Wie gesagt, glaube ich
nicht, dass der wahre Grund, warum die Menschen einer Religion anhängen,
etwas mit Beweisen zu tun hat. Sie sind religiös aus Gründen des Gefühls.
Häufig ist zu hören, es sei unrecht, die Religion anzugreifen, weil sie
die Menschen tugendhaft mache. So sagt man, ich selbst habe nichts davon
bemerkt. Sie kennen wohl die Parodie auf dieses Argument in Samuel Butlers
Buch "Erewhon Revisited". Wie Sie sich erinnern werden, kommt in "Erewhon"
ein gewisser Higgs vor, der in ein fernes Land verschlagen wird und nach
einiger Zeit in einem Ballon aus diesem Land flieht. Nach zwanzig Jahren
kehrt er zurück und findet dort eine neue Religion vor, in der er unter
dem Namen "Sonnenkind" verehrt wird und die behauptet, er sei in den
Himmel aufgefahren. Er erfährt, dass das Himmelfahrtsfest unmittelbar
bevorstehe, und hört, wie die Professoren Hanky und Panky zueinander
sagen, sie hätten den Mann Higgs niemals gesehen und hofften, ihn auch
niemals zu Gesicht zu bekommen; sie sind aber die Hohenpriester der
Religion des Sonnenkindes. Er ist überaus empört, geht auf sie zu und
sagt: »Ich werde diesen ganzen Schwindel entlarven und dem Volk von
Erewhon sagen, dass es nur ich war, der Mann Higgs, und dass ich in einem
Ballon aufgestiegen bin." Man erwidert ihm jedoch: "Das dürfen Sie nicht
tun; die ganze Moral dieses Landes ist an diesen Mythos gebunden. Wenn die
Leute erfahren, dass Sie nicht in den Himmel aufgefahren sind, werden sie
alle schlecht werden." Und so lässt er sich überzeugen und entfernt sich
unauffällig. Das ist der Grundgedanke: dass wir alle schlecht wären,
hielten wir uns nicht an die christliche Religion. Mir scheint es, dass
der größte Teil der Menschen, die sich daran gehalten haben,
außerordentlich schlecht waren. Es ergibt sich die seltsame Tatsache, dass
die Grausamkeit um so größer und die allgemeine Lage um so schlimmer
waren, je stärker die Religion einer Zeit und je fester der dogmatische
Glaube war. In den sogenannten Epochen des Glaubens, als die Menschen an
die christliche Religion in ihrer vollen Ganzheit wirklich glaubten, gab
es die Inquisition mit ihren Foltern, wurden Millionen unglückseliger
Frauen als Hexen verbrannt und im Namen der Religion an unzähligen
Menschen alle erdenklichen Grausamkeiten verübt. Wenn man sich auf der
Welt umsieht, so muss man feststellen, dass jedes bisschen Fortschritt im
humanen Empfinden, jede Verbesserung der Strafgesetze, jede Maßnahme zur
Verminderung der Kriege, jeder Schritt zur besseren Behandlung der
farbigen Rassen oder jede Milderung der Sklaverei und jeder moralische
Fortschritt auf der Erde durchweg von den organisierten Kirchen der Welt
bekämpft wurde. Ich sage mit vollster Überlegung, dass die in ihren
Kirchen organisierte christliche Religion der Hauptfeind des moralischen
Fortschrittes in der Welt war und ist.
Wie die Kirchen den
Fortschritt verzögert haben
Vielleicht sind Sie der
Meinung, ich gehe zu weit, wenn ich behaupte, dass das noch immer so ist.
Ich bin nicht dieser Ansicht. Nehmen Sie nur eine Tatsache als Beispiel.
Sie müssen entschuldigen, wenn ich sie erwähne. Es ist keine erfreuliche
Tatsache, aber man wird von den Kirchen dazu gezwungen, unerfreuliche
Dinge auszusprechen. Nehmen wir an, dass in unserer heutigen Welt ein
unerfahrenes Mädchen einen syphilitischen Mann heiratet. In diesem Fall
sagt die katholische Kirche: »Das Sakrament ist unauflösbar. Ihr müsst bis
an euer Lebensende zusammenbleiben." Und die Frau darf nichts unternehmen,
um zu verhindern, dass sie syphilitische Kinder zur Welt bringt. So sagt
die katholische Kirche. Ich aber nenne das eine unmenschliche Grausamkeit.
Niemand, dessen natürliches Mitgefühl nicht durch das Dogma verkümmert
oder dessen moralisches Empfinden nicht für alles Leiden vollkommen tot
ist, kann behaupten, es sei recht und billig, dass dieser Zustand
weiterhin bestehen bleibt. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele
Methoden, mit denen gegenwärtig die Kirche durch ihr Beharren auf ihrer
sogenannten Sittenlehre allen möglichen Menschen unverdientes und
unnötiges Leiden zufügt. Und natürlich ist sie, wie wir wissen, zum
größten Teil immer noch ein Gegner des Fortschritts und aller
Verbesserungen, die das Leiden in der Welt verringern könnten, weil sie
unter Moral eine Anzahl von Verhaltensregeln versteht, die mit
menschlichem Glück überhaupt nichts zu tun haben. Wenn man sagt, dies oder
jenes müsse geschehen, da es zum menschlichen Glück beitragen würde, so
findet die Kirche, das habe mit der Sache überhaupt nichts zu tun. »Was
hat menschliches Glück mit der Sittenlehre zu tun? Es ist nicht das Ziel
der Sittenlehre, die Menschen glücklich zu machen.»
Angst als Grundlage der
Religion
Die Religion stützt sich
vor allem und hauptsächlich auf die Angst. Teils ist es die Angst vor dem
Unbekannten und teils, wie ich schon sagte, der Wunsch zu fühlen, dass man
eine Art großen Bruder hat, der einem in allen Schwierigkeiten und Kämpfen
beisteht. Angst ist die Grundlage des Ganzen - Angst vor dem
Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Die Angst ist
die Mutter der Grausamkeit, und es ist deshalb kein Wunder, dass
Grausamkeit und Religion Hand in Hand gehen, weil beide aus der Angst
entspringen. Wir beginnen nun langsam, die Welt zu verstehen und sie zu
meistern, mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich gewaltsam Schritt für
Schritt ihren Weg gegen die christliche Religion, gegen die Kirchen und im
Widerspruch zu den überlieferten Geboten erkämpft hat. Die Wissenschaft
kann uns helfen, die feige Furcht zu überwinden, in der die Menschheit
seit so vielen Generationen lebt. Die Wissenschaft, und ich glaube auch
unser eigenes Herz, kann uns lehren, nicht mehr nach einer eingebildeten
Hilfe zu suchen und Verbündete im Himmel zu ersinnen, sondern vielmehr
hier unten unsere eigenen Anstrengungen darauf zu richten, die Welt zu
einem Ort zu machen, der es wert ist, darin zu leben, und nicht zu dem,
was die Kirchen in all den Jahrhunderten daraus gemacht haben.
Was wir tun müssen
Wir wollen auf unsern
eigenen Beinen stehen und die Welt offen und ehrlich anblicken - ihre
guten und schlechten Seiten, ihre Schönheit und ihre Hässlichkeit; wir
wollen die Welt so sehen, wie sie ist, und uns nicht davor fürchten. Wir
wollen die Welt mit unserer Intelligenz erobern und uns nicht nur
sklavisch von dem Schrecken, der von ihr ausgeht, unterdrücken lassen. Die
ganze Vorstellung von Gott stammt von den alten orientalischen
Gewaltherrschaften. Es ist eine Vorstellung, die freier Menschen unwürdig
ist. Wenn man hört, wie sich die Menschen in der Kirche erniedrigen und
sich als elende Sünder usw. bezeichnen, so erscheint das verächtlich und
eines Menschen mit Selbstachtung nicht würdig. Wir sollten uns erheben und
der Welt frei ins Antlitz blicken. Wir sollten aus der Welt das
Bestmögliche machen, und wenn sie nicht so gut ist, wie wir wünschen, so
wird sie schließlich immer noch besser sein als das, was die andern in all
den Zeitaltem aus ihr gemacht haben. Eine gute Welt braucht Wissen, Güte
und Mut, sie braucht keine schmerzliche Sehnsucht nach der Vergangenheit,
keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit
von unwissenden Männern gesprochen wurden. Sie braucht einen furchtlosen
Ausblick auf die Zukunft und eine freie Intelligenz. Sie braucht
Zukunftshoffnung, kein ständiges Zurückblicken auf eine tote
Vergangenheit, von der wir überzeugt sind, dass sie von der Zukunft, die
unsere Intelligenz schaffen kann, bei weitem übertroffen wird.
Literatur:
* Why I am Not a Christian (Warum ich kein Christ bin), Touchstone Book,
Simon&Schuster, New York,
ISBN 0-671-20323-1
* Eroberung des Glücks. Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung. (
Tb)
Verlag: Suhrkamp, Ffm. ISBN: 3-518-36889-3
* Moral und Politik. ( Tb)Verlag: Fischer-TB.-Vlg.,Ffm ISBN:
3-596-26573-8 Erschienen: 1988
* Philosophische und politische Aufsätze. ( Tb) Sachbuch-Verlag:
Reclam, Ditzingen ISBN: 3-15-007970-5
* Ehe und Moral. Verlag Darmstädter Blätter, ISBN: 3-87139-082-8
"Ich verdanke den Frauen, die ich geliebt habe, viel. Ohne sie wäre ich
viel engstirniger gewesen"
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