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Rosa Luxemburg

(1871-1919)

Freidenkerin und Sozialistin

 

Rosa Luxemburg

Dass sich Rosa Luxemburg in einer programmatischen Schrift mit dem Thema "Kirche und Sozialismus" auseinandergesetzt hat, ist bisher weithin unbekannt geblieben. 1905, das Jahr der Erstveröffentlichung ihrer Schrift "Kirche und Sozialismus" war eines der bewegendsten in ihrem Leben überhaupt. Am 22. Januar hatte die russische Revolution in Petersburg begonnen, deren Bedeutung Rosa sehr bald erkannte: "Die innere Verknüpfung des politischen und sozialen Lebens zwischen den kapitalistischen Ländern ist heutzutage eine so intensive, dass die Rückwirkung der russischen Revolution auf die soziale Lage in Europa, ja in der ganzen so genannten zivilisierten Welt eine enorme sein wird - eine viel tiefer gehende als die internationale Rückwirkung der früheren bürgerlichen Revolutionen". Darum wollte sie eine "wahre Flut von Publikationen loslassen". Dabei waren die Christen im traditionell katholischen Polen eine nicht unwichtige Zielgruppe, die noch dazu - nach der Darstellung von Rosa Luxemburg - der stark reaktionären Propaganda des Klerus ausgesetzt war. Sie konnte in Polen Religion und Kirche nicht so verächtlich behandeln wie etwa Marx und Engels in Deutschland. Sie verstand Religions- und Kirchenkritik in erster Linie als eine Herrschaftskritik.

1871

5. März: Rosalia Luxemburg wird in Zamost in Russisch-Polen als Tochter des Holzhändlers Eliasz Luxemburg und dessen Frau Line (geb. Löwenstein) geboren.

1880

Nach dem Umzug der Familie nach Warschau besucht sie das Zweite Warschauer Mädchengymnasium. Schon als Schülerin engagiert sie sich in illegalen politischen Zirkeln.

1889

Vor einer drohenden Verhaftung flieht sie in die Schweiz.

1890/91

Immatrikulation an der Philosophischen Fakultät der Züricher Universität.

In den folgenden Semestern besucht sie Seminare zur Staatswissenschaft, zur mittelalterlichen Geschichte sowie zur Geschichte der Wirtschafts- und Börsenkrisen.

1893

Unterbrechung des Studiums wegen politischer Aktivitäten wie der Gründung der polnischen sozialdemokratischen Zeitschrift "Sache der Arbeiter" in Paris.

1894

Erster (illegaler) Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei des Königreichs Polen in Warschau. Luxemburg gehört mit Leo Jogiches zu den führenden Mitgliedern dieser Partei.

1897

Promotion in Zürich zum Thema "Die industrielle Entwicklung Polens".

1898 - 1903

Scheinehe mit dem deutschen Staatsbürger Gustav Lübeck. Durch die Heirat erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft, die ihr die Mitarbeit in der deutschen Arbeiterbewegung ermöglicht.

1898

Umzug nach Berlin.

Luxemburg schließt sich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an.

Oktober: Am SPD-Parteitag in Stuttgart nimmt sie als Expertin für polnische Angelegenheiten teil.

1900

Durch ihre Broschüre "Sozialreform oder Revolution?" greift sie in die "Revisionismusdebatte" ein. Sie verteidigt den revolutionären Standpunkt gegen den revisionistischen Eduard Bernsteins und fordert den Ausschluß der "Reformisten" aus der Partei. In Zeitungsartikeln nimmt Luxemburg zu wirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen in Rußland, Österreich-Ungarn, Belgien, England, Frankreich und Deutschland Stellung.

Immer wieder greift sie den deutschen Militarismus und Imperialismus an.

1904

Januar: Sie wird wegen Majestätsbeleidigung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.

1905

Erstveröffentlichung ihrer Schrift "Kirche und Sozialismus", in der sie die gesellschaftliche Rolle des Klerus kritisiert.

1906

12. Dezember: Sie wird in Weimar zu zwei Monaten Haft wegen "Anreizung zum Klassenhaß" verurteilt.

1907

Mai: Teilnahme am V. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) in London zusammen mit Jogiches.

Oktober: Beginn ihrer Lehrtätigkeit an der SPD-Parteischule in Berlin.

1910

Bruch mit Karl Kautsky aufgrund politischer Differenzen, u.a. bezüglich der Frage des Einsatzes des Generalstreiks als Kampfmittel.

1913

Bei einer Kundgebung in Frankfurt/Main ruft Luxemburg zur Kriegsdienst-Verweigerung auf.

1914

20. Februar: Wegen dieses Aufrufs wird gegen sie Anklage wegen "Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und gegen Anordnungen der Obrigkeit" erhoben. Sie wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

29. - 30. Juli: Die Teilnahme an der Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros bringt für sie die Ernüchterung, daß auch innerhalb der sozialistischen Parteien der Nationalismus stärker ist als die internationale Solidarität.

1915

Februar: Das Gerichtsurteil des vorangegangenen Jahres wird vollstreckt: Luxemburg wird im Frauengefängnis in Berlin inhaftiert.

Juli: Hoch- und Landesverratsverfahren in Düsseldorf.

1916

Entlassung aus dem Frauengefängnis.

10. Juli: Beginn der "Sicherheitsverwahrung", die bis November 1918 dauert. Luxemburg wird zweimal verlegt, zuerst in die Festung Wronke in der Provinz Posen, dann nach Breslau.

1918

9. November: In Breslau aus der Haft entlassen, fährt Luxemburg nach Berlin und arbeitet als Redakteurin bei der "Roten Fahne", der Zeitung des Spartakusbunds.

17. Dezember: In ihrem Artikel "Nationalversammlung oder Räteregierung?" in der "Roten Fahne" tritt sie für eine Räteregierung ein. Obwohl sie die Revolution unterstützt, behält sie ihren grundsätzlichen pazifistischen Standpunkt bei.

1918/19

30. Dezember - 1. Januar: Beteiligung an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Luxemburg steht auf der Seite derer, die eine Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung fordern, aber von der Mehrheit überstimmt werden.

1919

Bei den Januarunruhen muß sie wegen Verhaftungsgefahr ständig ihre Wohnung wechseln, weigert sich aber, Berlin zu verlassen.

15. Januar: Gemeinsam mit Karl Liebknecht wird sie von Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützendivision verschleppt. Sie werden im Eden-Hotel verhört und mißhandelt. Wahrscheinlich beim Abtransport wird Rosa Luxemburg ermordet. Ihre Leiche wird in den Landwehrkanal geworfen.

31. Mai: Im Landwehrkanal wird ihr Leichnam gefunden


 

Kirche und Sozialismus
Rosa Luxemburg, 1905


 

  1. Seit in unserem ganzen Land - ebenso wie in Russland - die Arbeiter den unermüdlichen Kampf mit der zaristischen Regierung und den kapitalisti­schen Ausbeutem aufgenommen haben, hören wir immer häufiger, dass Priester in ihren Predigten gegen die kämpfenden Arbeiter auftreten. Besonders scharf wendet sich unsere Geistlichkeit gegen die Sozialisten, wobei sie sich mit allen Kräften bemüht, sie in den Augen der Arbeiter zu verunglimpfen. Immer häufiger geschieht es jetzt, dass gläubige Men­schen, die an Sonn- und Feiertagen in die Kirche gehen, um Predigten zu hören und religiösen Trost zu finden, statt dessen eine scharfe, manchmal heftige Rede über Politik, über Sozialisten anhören müssen. Statt die durch ihr schweres Leben bekümmerten und verarmten Menschen, die gläubig zur Kirche kommen, zu stärken, wettern die Priester gegen die streikenden oder gegen die Regierung kämpfenden Arbeiter, reden ihnen zu, Not und Unterdrückung demütig und geduldig zu ertragen, und ma­chen überhaupt aus Kirche und Kanzel einen Ort politischer Agitation.

    Jeder Arbeiter muss aus eigener Erfahrung zugeben, dass dieses kämpferische Auftreten der Geistlichkeit gegen die Sozialdemokraten ihrerseits durch nichts hervorgerufen wurde. Die Sozialdemokraten haben niemals den Kampf mit Kirche oder Geistlichkeit gesucht. Die Sozialdemokraten bemühen sich, die Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital zu mobilisieren und zu organisieren, das heißt zum Kampf gegen die Aus­beutung der Unternehmer, die ihnen das Blut aussaugen, zum Kampf gegen die zaristische Regierung, die dem Volk auf Schritt und Tritt die Kehle zuschnürt, aber niemals ermuntern die Sozialdemokraten die Ar­beiter zum Kampf gegen die Geistlichkeit und niemals versuchen sie, ihnen den religiösen Glauben zu nehmen. Im Gegenteil. Die Sozialdemo­kraten halten sich bei uns wie auf der ganzen Welt an den Grundsatz, dass Gewissen und Überzeugung des Menschen heilig und unantastbar sind. Jedem steht es frei, den Glauben und die Überzeugung zu haben, die ihn glücklich machen. Niemand darf die religiösen Überzeugungen der Men­schen verfolgen oder beleidigen. So sagen die Sozialdemokraten. Und deshalb rufen sie auch unter anderem das ganze Volk zum Kampf gegen die zaristische Regierung auf, die das Gewissen der Menschen vergewaltigt und Katholiken, Uniierte, Juden, Ketzer und Konfessionslose verfolgt.

    So verteidigen gerade die Sozialdemokraten leidenschaftlich die Ge­wissensfreiheit und das Bekenntnis eines jeden Menschen. Und deshalb würde man meinen, die Geistlichkeit müsse die Sozialdemokraten fördern und begünstigen, da sie dem arbeitenden Volk Bildung bringen.

    Aber damit nicht genug. Wenn wir uns überlegen, wonach die Sozialdemokraten überhaupt streben und welche Lehren sie der Arbeiterklasse verkünden, so wird der Hass der Geistlichkeit gegen sie immer weniger verständlich.

    Die Sozialdemokraten streben danach, die Herrschaft der reichen Schinder und Ausbeuter über das arme arbeitende Volk abzuschaffen. Aber dabei, so sollte man meinen, müssten die Diener der christlichen Kirche als erste die Sozialdemokraten unterstützen und ihnen die Hand reichen, denn die Lehre Christi, deren Diener die Priester sind, sagt doch, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht. als dass ein Reicher in den Himmel kommt!

    Die Sozialdemokraten streben danach, in allen Ländern eine gesell­schaftliche Ordnung einzuführen, die sich auf Gleichheit aller Menschen, auf Freiheit und Brüderlichkeit gründet. Aber auch hierin müsste die Geistlichkeit mit Freuden die Agitation der Sozialdemokraten begrüßen, wenn sie aufrichtig dafür wäre, dass der christliche Grundsatz: ,,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", im Leben der Menschheit angewendet würde.

    Die Sozialdemokraten bemühen sich in unermüdlichem Kampf das Arbeitervolk durch Bildung und Organisation aus Erniedrigung und Not emporzuheben, ihm ein besseres Leben und seinen Kindern eine bessere Zukunft zu sichern. Auch dafür - das muss jeder zugeben - müssten die Priester die Sozialdemokraten nur segnen, da doch Christus, dessen Diener die Priester sind, gesagt hat: ,,Was ihr diesen Geringsten tut, das tut ihr mir." Statt dessen sehen wir aber, dass die Geistlichkeit die Sozialdemokraten exkornmuniziert und verfolgt und den Arbeitern zuredet, ihr Los geduldig zu ertragen, das heißt sich geduldig von den Reichen - den Kapitalisten - ausbeuten zu lassen. Die Geistlichkeit wettert gegen die Sozialdemokraten und redet den Arbeitern zu, sich nicht gegen die Regierungsgewalt ,,zu erheben", das heißt geduldig die Unterdrückung einer Regierung zu ertragen, die wehrlose Menschen ermordet, die das Volk zu Hundertausenden in den Krieg, also in ein entsetzliches Blutbad schickt, die Katholiken, Uniierte und Altgläubige um ihres Glaubens und Bekenntnisses willen verfolgt.

    So steht die Geistlichkeit, wenn sie die Reichen, wenn sie Ausbeutung und Unterdrückung verteidigt, im ausdrücklichen Gegensatz zur christlichen Lehre. Bischöfe und Priester treten nicht als Kaplane der Lehre Christi auf, sondern als Kaplane des goldenen Kalbes und der Knute, die Arme und Wehrlose geißelt.

    Außerdem weiß jeder aus Erfahrung, wie oft die Priester selbst das arme arbeitende Volk quälen, indem sie für Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen dem Arbeiter manchmal den letzten Groschen abnehmen. Und wie oft ist es vorgekomrnen, dass ein Priester, der zu einer Beerdigung gerufen wurde, erklärte, er rühre sich nicht aus dem Haus, wenn man nicht im Voraus soundsoviel Rubel auf den Tisch lege, und der Arbeiter mit Verzweiflung im Herzen davonging, schnell das letzte Möbel aus der Stube verkaufen oder verpfänden musste, um religiösen Trost für seine Liebsten zu erkaufen!

    Es gibt allerdings auch andere Geistliche. Es gibt auch solche, die voll Güte und Mitleid nicht auf den Verdienst schauen und bereit sind, selbst zu helfen, wo sie Not sehen. Aber jeder gibt zu, dass das Ausnahmen sind, weiße Raben. Die Mehrzahl der Priester hat ein lächelndes Gesicht und untertänige Verbeugungen für die Reichen und Mächtigen, denen sie jedes Unrecht und jede Ausschweifung schweigend vergibt. Für die Arbeiter jedoch hat die Geistlichkeit meistens nur unerbittliche Schinderei und strenge Predigten gegen ihre „Anmaßung". wenn sie sich ein wenig vor der unverschämten Ausbeutung der Kapitalisten schützen wollen.

    Dieser ausdrückliche Widerspruch zwischen dem Vorgehen der Geistlichkeit und der christlichen Lehre muss jeden denkenden Arbeiter verwundern, so dass er unwillkürlich fragt: wie kommt es, dass die Ar­beiterklasse bei ihrem Streben nach Befreiung in den Dienern der Kirche nicht Freunde, sondern Feinde findet? Wie kommt es, dass die Kirche heute nicht Zuflucht der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist, sondern Festung und Schutz des Reichtums und der blutigen Ausbeutung?

    Um diese erstaunliche Erscheinung zu begreifen, muss man zumindest kurz die Geschichte der Kirche kennen lernen und sich ansehen, was sie einmal war und wozu sie dann im Laufe der Zeiten geworden ist.

  2. Einer der schwersten Vorwürfe, den die Geistlichkeit den Sozialdemo­kraten macht, ist der, dass sie den ,,Kommunismus" einführen wollen, das heißt gemeinsames Eigentum aller irdischen Güter. Es wird hier vor allem interessant sein festzustellen, dass die heutigen Priester, wenn sie gegen den ,,Kommunismus" wettern, eigentlich gegen die ersten Apostel der Christenheit wettern. Denn gerade sie waren die leidenschaftlichsten Kommunisten.

    Die christliche Religion entstand bekanntlich im alten Rom zur Zeit des größten Verfalls dieses einstmals starken und mächtigen Reiches, das damals das ganze heutige Italien, Spanien, einen Teil Frankreichs, einen Teil der Türkei, Palästina und verschiedene andere Länder umfasste. Die Verhältnisse, die in Rom zur Zeit der Geburt Christi herrschten, waren den heutigen Verhältnissen in Russland sehr ähnlich. Einerseits eine Handvoll Reicher, die in Müßiggang unermesslichen Luxus und Überfluss genossen, andererseits eine riesige Volksmasse, die in entsetzlicher Not zugrunde ging, und über allem eine Regierung von Despoten, die, auf Gewalt und moralische Verkommenheit gestützt, unsagbaren Druck ausübte und das Letzte aus der Bevölkerung herauspresste, im ganzen Reich Zerrüttung, äußere Feinde, die den Staat von verschiedenen Seiten bedrohten, eine Soldateska, die in wildem Übermut die arme Bevölkerung traktierte, öde und entvölkerte Dörfer mit immer unfruchtbarer werden­den Äckern, die Stadt aber, die Hauptstadt Rom nämlich, überfüllt von abgezehrtem Volk, das voll Hass an den Palästen der Reichen rüttelte, von Volk ohne Brot, ohne Obdach, ohne Kleidung, ohne Hoffnung und Aussicht auf irgendeinen Ausweg aus dem Elend.

    Nur in einer Hinsicht besteht zwischen dem verfallenden Rom und dem heutigen Reich des Zaren ein großer Unterschied. In Rom gab es damals keinen Kapitalismus, d.h. es gab keine Fabrikindustrie, die durch die Arbeit von Lohnarbeitern Waren zum Verkauf produzierte. Damals herrschte in Rom Sklaverei, und die Adelsfamilien befriedigten ebenso wie die Reichen und die Financiers alle ihre Bedürfnisse durch die Arbeit von Sklaven, die sie aus dem Krieg mitgebracht hatten. Diese Reichen rafften allmählich fast den ganzen Grundbesitz in Italien an sich, indem sie den römischen Bauern das Land raubten, und da das Getreide kosten­los als Tribut aus den unterworfenen Provinzen herangeschafft wurde, wandelten sie ihren eigenen Grundbesitz in riesige Plantagen, Gemüse­gärten, Weinberge, Weiden und Lustgärten um, bestellt von einem großen Sklavenheer, das durch den Stock des Aufsehers zur Arbeit angetrieben wurde. Des Landes und Brotes beraubt, strömte die Landbevölkerung aus der ganzen Provinz in die Hauptstadt Rom, fand hier aber keinen Ver­dienst, weil auch jedes Handwerk von Sklaven betrieben wurde. So sammelte sich in Rom allmählich eine riesige Volksmenge ohne jedes Eigentum an - ein Proletariat, das jedoch nicht einmal seine Arbeitskraft verkaufen konnte, da niemand seine Arbeit benötigte. Dieses Proletariat also, das vom Lande hereinströmte, wurde nicht wie heute in den Städten von der Fabrikindustrie aufgesogen, sondern musste in hoffnungslose Not und an den Bettelstab geraten. Da eine solche Vorstädte, Straßen und Plätze Roms füllende Volksmasse, ohne Brot und Dach über dem Kopf, eine ständige Gefahr für die Regierung und die herrschenden Reichen war, musste die Regierung irgendwie ihre Not lindern. Von Zeit zu Zeit wurden also aus den Regierungsspeichern Getreide oder gleich Lebensmittel an das Proletariat verteilt, um für eine gewisse Zeit sein drohendes Murren zu besänftigen, auch wurden kostenlose Spiele im Zirkus veran­staltet, um Gedanken und Gefühle des erregten Volkes zu beschäftigen. So lebte das ganze riesenhafte Proletariat in Rom eigentlich vom Betteln, nicht so wie heute, da das Proletariat im Gegenteil durch seine Arbeit die ganze Gesellschaft erhält. Damals in Rom lag jedoch die ganze Arbeit für die Gesellschaft auf den Schultern der unglücklichen, wie Arbeitsvieh traktierten Sklaven. Und in diesem Meer von Not und menschlicher Erniedrigung feierte eine kleine Anzahl römischer Magnaten wilde Or­gien des Überflusses und der Ausschweifung. Einen Ausweg aus diesen ungeheuerlichen gesellschaftlichen Verhältnissen gab es nicht. Das Pro­letariat murrte zwar und drohte von Zeit zu Zeit mit Aufstand. aber die Klasse der Bettler, die nicht arbeiteten und nur von den Knochen lebten, die ihnen vom Tische der Reichen und des Staates zugeworfen wurden, konnte keine neue gesellschaftliche Ordnung schaffen. Die Volksklasse aber, die durch ihre Arbeit die ganze Gesellschaft erhielt, die Sklaven waren zu sehr erniedrigt, zersprengt. ins Joch gespannt, standen allzu sehr außerhalb der Gesellschaft, von ihr abgesondert wie heute Arbeitsvieh vom Menschen, als dass sie eine Reform der ganzen Gesellschaft hätten zuwege bringen können. Die Sklaven erhoben sich zwar von Zeit zu Zeit gegen ihre Herren, versuchten, sich mit Feuer und Schwert aus dem Joch zu befreien, aber das römische Heer unterdrückte am Ende immer ihre Aufstände, und sie wurden dann zu Tausenden ans Kreuz geschlagen oder völlig niedergemetzelt.

    Unter diesen entsetzlichen Bedingungen der verfallenden Gesell­schaft, wo es für die riesige Volksmenge keinen sichtbaren Ausweg gab, keine Hoffnung auf ein besseres Los auf Erden, begannen die Unglückli­chen, diese Hoffnung im Himmel zu suchen. Die christliche Religion erschien den Verachteten und Elenden als eine Rettungsplanke, als Trost und Linderung, und wurde vom ersten Augenblick an die Religion der römischen Proletarier. Und entsprechend der materiellen Lage dieser Volksklasse begannen die ersten Christen, die Forderung nach gemein­samem Eigentum - den Kommunismus - zu verkünden. Natürlich: das Volk hatte keine Mittel zum Leben, ging aus Not zugrunde, daher rief die Religion. die dieses Volk verteidigte, dazu auf, dass die Reichen mit den Armen teilen sollten, dass die Reichtümer allen gehören sollten und nicht einer Handvoll Privilegierter, dass unter den Menschen Gleichheit herr­schen sollte. Das waren jedoch keine Forderungen, wie sie heute die Sozialdemokraten stellen, dass die Werkzeuge und überhaupt die Pro­duktionsmittel allen gemeinsam gehören sollen, damit alle gemeinsam arbeiten und von ihrer Hände Arbeit leben können. Die damaligen Prole­tarier lebten, wie wir sahen, nicht von ihrer Arbeit, sondern von den Almosen der Regierung. Darum verkündeten die Christen die Forderung nach gemeinsamem Eigentum nicht hinsichtlich der Arbeitsmittel, sondern der Lebensmittel, das heißt sie forderten nicht, dass Ländereien, Werkstätten, überhaupt Arbeitswerkzeuge allen gemeinsam gehören sollten, sondern dass alle miteinander Wohnung. Kleidung, Nahrung und ähnliche fertige Gebrauchsgegenstände des Menschen teilen sollten. Woher diese Reichtümer kommen, darüber machten sich die christlichen Kommunisten keine Sorgen. Die Arbeit blieb Sache der Sklaven. Das Volk der Christen forderte nur, dass diejenigen, die Reichtümer besitzen, diese beim Übertritt zur christlichen Religion dem Eigentum der Allge­meinheit übergeben und dass alle brüderlich und in Gleichheit von diesen Reichtümern leben sollten.

    So richteten sich auch die ersten christlichen Gemeinden ein. ,,Für diese Leute" - so beschreibt es ein Zeitgenosse - ,,bedeutet Reichtum nichts, dafür preisen sie sehr das gemeinsame Eigentum und es gibt keinen unter ihnen, der reicher wäre als andere. Sie halten sich an das Gesetz, dass alle, die in ihren Orden eintreten wollen, ihre Habe zum allgemeinen Eigentum aller abgeben müssen, darum findet man auch bei ihnen weder Not noch Überfluss, alle besitzen alles gemeinsam wie Brüder. (...) Sie wohnen nicht abgesondert in irgendeiner Stadt, sondern haben in jeder Stadt ihre besonderen Häuser, und wenn Leute, die ihrer Religion angehören, aus der Fremde zu ihnen kommen, so teilen sie mit ihnen ihre Habe, über die diese  wie über ihre eigene verfügen können. Diese Leute sind gegenseitig beieinander zu Gast, obwohl sie sich vorher nie gesehen haben, und verkehren so miteinander, als ob sie ihr ganzes Leben lang Freunde gewesen wären. Wenn sie über Land reisen, so nehmen sie nichts mit außer Waffen gegen Räuber. In jeder Stadt haben sie ihren Hofmeister, der Kleidung und Lebensmittel an die Ankömmlinge verteilt. (...) Untereinander treiben sie keinen Handel, sondern wenn einer einem anderen etwas gibt, was dieser braucht, so erhält er dafür wiederum, was er selbst benötigt. Und sogar wenn einer nichts dafür anbieten kann, so kann er doch frei heraus von jedem das fordern, was er benötigt."

    In der Apostelgeschichte (IV, 32, 34, 35) lesen wir ebenfalls eine sol­che Beschreibung der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem: ,,Keiner sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wie viel ihrer waren, die da Acker oder Häuser hatten, die verkauften sie und brachten das Geld des verkauften Guts und legten es zu der Apostel Füßen; und man gab einem jeglichen, was ihm Not war."

    Ebenso schreibt ein gewisser deutscher Historiker Vogel 1780 über die ersten Christen: ,,Ein jeder Christ hatte nach der brüderlichen Verbin­dung ein Recht zu den Gütern aller Mitglieder der ganzen Gemeinde und konnte im Fall der Not fordern, dass die begüterten Mitglieder ihm so viel von ihrem Vermögen mitteilten, als zu seiner Notdurft erfordert ward. Ein jeder Christ konnte sich der Güter seiner Brüder bedienen, und die Chris­ten, die etwas hatten, konnten ihren dürftigen Brüdern den Nutzen und Gebrauch derselbigen nicht versagen. Ein Christ, z.B., der kein Haus hatte, konnte von einem andern Christen, der 2 oder 3 Häuser hatte, begehren, dass er ihm eine Wohnung gebe, deswegen blieb er doch Herr der Häuser. Wegen der Gemeinschaft des Gebrauchs aber musste die eine Wohnung dem andern zum Wohnen überlassen werden." Bewegliche Güter und Geld wurden in einer gemeinsamen Kasse gesammelt, und ein aus der christlichen Bruderschaft besonders gewählter Beamter verteilte die gemeinsame Habe unter alle.

    Damit nicht genug. Die Verbrauchsgemeinschaft wurde so weit ge­trieben, dass in den ersten christlichen Gemeinden gewöhnlich die tägli­che Nahrung an gemeinsamen Tischen eingenommen wurde, wie es die Apostelgeschichte beschreibt. Dadurch wurde das Familienleben der ersten Christen eigentlich zerstört, und alle einzelnen christlichen Fami­lien einer Stadt lebten gemeinsam als eine große Familie. Schließlich muss man noch hinzufügen, dass das, was einige Priester in ihrer Dummheit oder Bosheit den Sozialdemokraten zuzuschreiben versuchen, näm­lich den Wunsch, Frauengemeinschaft einzuführen, was den Sozialdemo­kraten aber natürlich nicht im Traume einfällt, da sie das für eine schänd­liche und tierische Entstellung des ehelichen Verhältnisses halten, tatsächlich teilweise bei den ersten Christen praktiziert wurde. Die Idee des gemeinsamen Eigentums, des Kommunismus, so anstößig und ab­scheulich für die heutige Geistlichkeit, war den ersten Christen so lieb, dass einige Sekten, wie z.B. die Onosfiker, bekannt unter dem Namen Adamiten, im 2. Jahrhundert nach Christus verkündeten, dass alle Männer und Frauen miteinander gemeinsam verkehren sollten, ohne Unterschied, und auch nach dieser Lehre lebten.

  3. So waren die Christen im 1. und 2. Jahrhundert leidenschaftliche Bekenner des Kommunismus, Aber dieser Kommunismus des Verbrauches fertiger Produkte, der nicht auf den Kommunismus der Arbeit gegründet war, konnte keineswegs die Lage der damaligen Gesellschaft verbessern, konnte nicht die Ungleichheit unter den Menschen und die Kluft zwischen den Reichen und dem armen Volk beseitigen. Da die Produktionsmittel, hauptsächlich der Boden, Privateigentum blieben, da die Arbeit für die Gesellschaft weiterhin auf Sklaverei beruhte, flossen also die durch die Arbeit erworbenen Reichtümer weiterhin wenigen Eigentümern zu, das Volk aber blieb der Mittel zum Leben beraubt, die es als Bettelvolk auch nur aus Gnade der Reichen erhielt.

    Wenn die einen, und zwar eine verhältnismäßig kleine Handvoll, als ausschließlich privates Eigentum alles Land, Wälder, Weiden, alle Herden und Wirtschaftsgebäude, alle Werkstätten, Werkzeuge und Materialien zur Produktion besitzen, die anderen aber - die riesige Mehrheit des Volkes - überhaupt nichts besitzen, womit sie für sich arbeiten könnten, so kann bei solchen Verhältnissen unmöglich Gleichheit unter den Menschen entstehen, dann muss es Reiche und Arme, Überfluss und Not geben. Nehmen wir zum Beispiel an, dass heute diese reichen Eigentümer, zerknirscht durch die christlichen Lehren, all ihr Geld und alle beweglichen Reichtümer, die sie an Getreide, Obst, Kleidung, Schlacht­vieh usw. besitzen, zum gemeinsamen Verbrauch des Volkes und zur Verteilung unter alle Bedürftigen hingeben. Was folgt daraus? Nur, dass für einige Zeit die Not verschwindet und das Volk sich recht und schlecht ernährt und kleidet. Aber jene Mittel werden schnell verbraucht. Nach sehr kurzer Zeit wird das besitzlose Volk die verteilten Reichtümer aufgebraucht haben und wieder mit leeren Händen dastehen, die Besitzer des Landes und der Arbeitswerkzeuge aber werden mit Hilfe der Arbeiter - damals der Sklaven - weiter produzieren können so viel sie wollen; demnach bleibt alles beim alten. Darum eben sehen sich die Sozialdemo­kraten heute anders als die christlichen Kommunisten und sagen: wir wollen keine Gnade und keine Almosen, denn das beseitigt nicht die Ungleichheit unter den Menschen. Wir wollen nicht, dass die Reichen mit den Armen teilen, sondern dass es überhaupt keine Reichen und Armen gibt. Aber das wird erst dann möglich, wenn die Quelle jeglichen Reich­tums: Land und alle anderen Arbeitsmittel dem ganzen arbeitenden Volk gemeinsam gehören werden, das für sich selbst die notwendigen Güter nach den Bedürfnissen aller erzeugen wird. Die ersten Christen jedoch wollten den Mangel des riesenhaften, nicht arbeitenden Proletariats durch ständiges Teilen der Reichtümer, die von den Reichen gegeben wurden, decken; aber das bedeutete so viel wie Wasser mit einem Sieb zu schöp­fen.

    Doch damit nicht genug. Der christliche Kommunismus konnte nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ändern und verbessern, er konnte sogar sich selbst nicht lange halten.

    Solange es am Anfang noch wenige Bekenner des neuen Evangeliums gab, solange sie nur eine kleine Sekte von Begeisterten in der römischen Gesellschaft bildeten, solange war es möglich, den Besitz zur gemeinsa­men Verteilung zusammenzutragen, die Mahlzeiten gemeinsam einzu­nehmen und oft auch unter gemeinsamem Dach zu wohnen.

    Aber in dem Maße, in dem immer mehr Menschen dem Christentum beitraten, in dem die Gemeinden sich schon über das ganze Reich ver­breiteten, wurde das gemeinsame Zusammenleben der Bekenner immer schwieriger. Die Sitte der gemeinsamen täglichen Mahlzeiten verschwand bald vollständig, und gleichzeitig nahm auch die Hingabe des eigenen Besitzes zum gemeinsamen Verbrauch einen anderen Charakter an. Da die Christen jetzt schon nicht mehr in einer gemeinsamen Familie lebten, sondern jeder sich um seine eigene selbst kümmern musste, wurde auch schon nicht mehr die ganze Habe zum gemeinsamen Verbrauch der christlichen Brüder abgegeben, sondern das was übrig blieb, nachdem die Bedürfnisse der eigenen Familie gedeckt waren. Was jetzt die Wohlha­benden dem christlichen Gemeinwesen abgaben, war schon nicht mehr Anteil am kommunistischen Zusammenleben, sondern Opfer für andere, nicht wohlhabende Brüder, war schon Wohltätigkeit, Almosen. Aber als die reichen Christen aufhörten, selbst den gemeinsamen Besitz in Anspruch zu nehmen, und nur einen Teil für andere abgaben, da fiel auch dieser Teil, der für die armen Brüder geopfert wurde, verschieden aus, größer oder kleiner, je nach Willen und Natur der einzelnen Bekenner. So entstand allmählich im Schoße der chrisflichen Gemeinde derselbe Unterschied zwischen Arm und Reich wie ringsum in der römischen Gesell­schaft, gegen den die ersten Christen den Kampf aufgenommen hatten. Nur die armen Christen, die Proletarier, erhielten noch gemeinsame Mahlzeiten von ihrer Gemeinde, die Reichen hielten sich jedoch fern von diesen Mahlzeiten und opferten einen Teil ihres Überflusses dafür. So wiederholten sich also eigentlich bei den Christen dieselben Verhältnisse, die in der römischen Gesellschaft herrschten: das Volk lebte von Almo­sen, und eine Minderheit von Reichen gab Almosen. Gegen dieses Einreißen sozialer Ungleichheit innerhalb der christlichen Gemeinde kämpf­ten die Kirchenväter noch lange mit flammenden Worten, indem sie die Reichen geißelten und ständig zur Rückkehr zum Kommunismus der ersten Apostel aufriefen.

    Der heilige Basilius drohte den Reichen im 4. Jahrhundert nach Christus zum Beispiel folgendermaßen: ,,O ihr Elenden, wie wollt ihr euch vor dem himmlischen Richter rechtfertigen? Ihr antwortet mir: Welche Schuld trifft uns, wenn wir nur das für uns behalten, was uns gehört? Ich aber frage euch: Was nennt ihr euer Eigentum? Von wem habt ihr es erhalten? (...) Wodurch bereichern sich die Reichen, wenn nicht dadurch, dass sie an sich raffen, was allen gehört? Wenn jeder nicht mehr für sich hätte, als er zum Unterhalt benötigt, den Rest aber anderen überließe, so gäbe es keine Armen und keine Reichen."

    Am eindringlichsten bekehrte der heilige Johannes Chrysostomos die Christen zum ursprünglichen Kommunismus der Apostel, der Patriarch von Konstantinopel, 347 in Antiochien geboren und 407 in der Verban­nung in Armenien gestorben. In seiner elften Predigt über die Apostelgeschichte sagte dieser berühmte Prediger:

    ,,Große Gnade war bei ihnen allen [den Aposteln], und es gab nie­manden unter ihnen, der Not gelitten hätte. Das aber kam daher, dass niemand von seinem Eigentum sagte, es gehöre ihm, sondern alles bei ihnen allen gemeinsam gehörte. Gnade war deshalb hei ihnen, weil nie­mand Not litt, das heißt deshalb, weil sie so eifrig gaben, dass niemand arm blieb. Denn sie gaben nicht nur einen Teil und behielten den anderen für sich, auch betrachteten sie das, was sie gaben, nicht als ihr Eigentum. Sie hoben die Ungleichheit auf und lebten in großem Wohlstand und taten das auf die rühmenswerteste Weise. Sie unterstanden sich nicht, das Opfer in die Hände der Bedürftigen zu legen, schenkten es auch nicht aus hochmütiger Gefälligkeit, sondern legten es den Aposteln zu Füßen und machten sie zu Herren und Verteilern ihrer Gaben. Was man brauchte, das wurde von den Vorräten der Gemeinschaft und vom privaten Eigen­tum der einzelnen genommen. Dadurch wurde erreicht, dass die Spender nicht in Hochmut verfielen."

    ,,Wenn wir heute so handeln würden, würden wir weit glücklicher le­ben, die Reichen wie die Armen, und die Armen würden dadurch nicht mehr Glück gewinnen als die Reichen, da die Opfernden nicht nur selbst nicht arm würden, sondern auch die Armen reich machen würden."

    ,,Stellen wir uns Folgendes vor: Alle geben das, was sie besitzen, zum gemeinsamen Eigentum hin. Mag sich niemand dabei beunruhigen. weder Arm noch Reich. Was glaubt ihr, wie viel Geld sich auf diese Weise ansammeln würde? Ich glaube, denn mit Sicherheit kann man das nicht feststellen, dass, wenn jeder einzelne sein ganzes Geld, alles Land, alles Vieh, seine Häuser abgäbe (von den Sklaven werde ich nicht reden, denn die ersten Christen besaßen sicherlich keine, da sie sie wahrscheinlich frei ließen), so sammelt sich sicher insgesamt eine Million Pfund Gold an, ach, sicherlich auch zwei oder dreimal so viel. Denn sagt mir, wie viele Menschen leben in unserer Stadt [Konstantinopel]? Wie viele Christen? Werden es nicht hunderttausend sein? Und wie viele sind Heiden und Juden! Wie viel tausend Pfund Gold müssen sich ansammeln! Und wie viele Arme haben wir? Ich glaube nicht dass es mehr als fünfzigtausend sind. Wie viel würde es erfordern, sie täglich zu verpflegen? Wenn sie die Speise am gemeinsamen Tisch einnehmen, so werden die Kosten nicht groß sein. Was fangen wir also mit unserem riesigen Schatz an? Glaubst du, dass er sich irgendwann einmal erschöpfen könnte? Und ergießt sich der göttliche Segen nicht tausendmal reicher über uns? Werden wir nicht aus der Erde ein Paradies machen'? Wenn sich das so wunderbar bei den drei- oder fünftausend [ersten Christen] bewahrheitete und keiner von ihnen Not litt, um wie viel mehr muss es bei einer so großen Zahl von Menschen gelingen? Wird nicht jeder neu Eintretende etwas dazu ge­ben?"

    ,,Die Zerstrenung der Reichtümer bewirkt größere Ausgaben und da­her Armut. Nehmen wir ein Haus mit Mann und Frau und zehn Kindern. Sie beschäftigt sich mit Weben, er sucht seinen Unterhalt auf dem Markt. Werden sie mehr brauchen, wenn sie zusamrnen in einem Haus wohnen oder wenn jeder für sich lebt? Natürlich wenn sie getrennt leben; wenn die zehn Söhne in verschiedene Richtungen auseinander gehen, brauchen sie zehn Häuser, zehn Tische, zehn Diener und alles andere im selben Verhältnis vermehrt. Aber wie verhält es sich mit der Zahl der Sklaven? Speist man sie nicht alle an einem Tisch, um Kosten zu sparen? Zersplit­terung führt gewöhnlich zu Verschwendung, Gemeinsamkeit zu Ersparnis von Hab und Gut. So lebt man heute in den Klöstern und so lebten jene Gläubigen. Wer starb damals an Hunger? Wer wurde nicht reichlich gesättigt? Und doch fürchten die Menschen diese Ordnung mehr als den Sprung in die offene See. Machen wir doch einen Versuch und gehen wir kühn ans Werk! Wie groß wäre dann der Segen! Denn wenn damals, als die Zahl der Gläubigen so klein war, kaum drei- bis fünftausend, wenn damals, als die ganze Welt uns feindlich war, als es nirgends Trost gab. unsere Vorfalrren sich so standhaft daran hielten, wie viel mehr Sicherheit müssten wir jetzt haben, da es durch Gottes Gnade überall Gläubige gibt. Wer hätte damals noch Heide bleiben wollen? Niemand, denke ich. Alle hätten wir angezogen und für uns gewonnen.  Das so eindringliche Zureden und die flammenden Predigten des Johannes Chrysostomos blieben erfolglos. Es wurde kein Versuch unternommen, den Kommu­nismus in Konstantinopel oder anderswo einzuführen. Mit der Ausbrei­tung des Christentums, das schon seit Anfang des 4. Jahrhunderts in Rom die herrschende Religion war, kehrten die Gläubigen nicht zum Beispiel der ersten Apostel, zum gemeinsamen Eigentum zurück, sondern ent­fernten sich immer weiter von ihm. Die Ungleichheit zwischen Reichen und Armen innerhalb der Gemeinde der Gläubigen vergrößerte sich immer mehr.

    Noch im 6. Jahrhundert, d.h. es vergingen 500 Jahre nach Christi Ge­burt, hören wir den Aufruf Gregors des Großen: "Es genügt nicht, ande­ren ihr Eigentum nicht wegzunehmen, ihr seid nicht ohne Schuld, wenn ihr Güter für euch behaltet, die Gott für alle geschaffen hat. Wer anderen nicht das gibt, was er selbst besitzt, ist ein Räuber und Mörder, denn wenn er für sich behält, was zum Unterhalt der Armen dienen würde, kann man sagen, dass er Tag für Tag so viele ermordet, wie von seinem Überfluss leben könnten. Wenn wir mit denen teilen, die in Not sind, so geben wir ihnen nicht, was uns gehört, sondern was ihnen gehört. Das ist keine Tat des Mitleids, sondern das Bezahlen einer Schuld."

    Aber diese Aufrufe waren vergeblich. Infolge der Hartherzigkeit der damaligen Christen, die sicher noch empfänglicher waren für die Predig­ten der Kirchenväter als die heutigen. Aber nicht zum erstenmal in der Geschichte der Menschen zeigte sich, dass die wirtschaftlichen Bedin­gungen stärker sind als die schönsten Predigten. Dieser Kommunismus, diese Verbrauchsgemeinschaft, die die ersten Christen verkündet hatten, konnte sich unmöglich ohne gemeinsame Arbeit der ganzen Bevölkerung auf gemeinsamem Land und in gemeinsamen Werkstätten halten, aber solch gemeinsame Arheit mit gemeinsamen Produktionsmitteln einzufüh­ren, war damals nicht möglich, da die Arbeit, wie gesagt, Sache der Sklaven war, die außerhalb der Gesellschaft standen, nicht aber Sache der freien Menschen. Das Christentum unternahm von Anfang an nichts und konnte es auch nicht, die Ungleichheit in der Arbeit und im Besitz der Arbeitsmittel aufzuheben; dadurch waren seine Bemühungen hoffnungs­los, die ungleiche Verteilung der Reichtümer zu beseitigen. Deshalb mussten die Stimmen der Kirchenväter, die zum Kommunismus bekehr­ten, die eines Rufers in der Wüste bleiben. Aber nicht lange, und auch diese Stimmen wunden immer seltener, bis sie völlig verstummten. Schon die Kirchenväter selbst hörten auf, zur Gemeinschaft und zur Verteilung der Reichtümer aufzurufen, denn mit dem Anwachsen der Gemeinde der Gläubigen änderte sich auch die Kirche selbst von Grund auf.

  4. Zu Anfang, als die Zahl der Gläubigen noch klein war, war eine eigentli­che Geistlichkeit gar nicht vorhanden. In jeder Stadt sammelten sich die Gläubigen, bildeten eine selbständige religiöse Gemeinde und wählten jedes Mal einen der Brüder aus ihrer Mitte, der den Gottesdienst leitete und die religiösen Handlungen ausführte. Jeder Gläubige konnte damals Bischof oder Presbyter werden, es waren dies zeitlich begrenzte Ämter, die keine Macht vergaben außer der, mit der die Gemeinde sie freiwillig ausstattete, und sie waren völlig unbezahlt. In dem Maße jedoch, wie die Zahl der Bekenner wuchs und die Gemeinden immer größer und reicher wurden, wurden die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten und das Abhalten der Gottesdienste zu einer Beschäftigung, die viel Zeit und völlige Hingabe erforderte. Da einzelne christliche Brüder mit diesen Aufgaben neben ihrem privaten Beruf nicht mehr fertig werden konnten, begann man also, Gemeindemitglieder für geistliche Ämter als aus­schließliche Tätigkeit zu wählen. So kommt es, dass solche Beamte schon dafür, dass sie sich den Angelegenheiten der Kirche und der Gemeinde widmeten, irgendeinen Lohn erhalten mussten, der einem zum Leben genügte. So entstand innerhalb der christlichen Gemeinde eine neue Schicht: aus der Menge der Gläubigen sonderte sich der besondere Stand der kirchlichen Beamten ab - die Geistlichkeit. Neben der Ungleichheit zwischen Reichen und Armen entstand eine neue Ungleichheit zwischen Geistlichkeit und Volk. Obwohl sie anfangs aus ihnen gleichberechtigten Bekennern zur zeitweiligen Vertretung der Gemeinde im kirchlichen Dienst gewählt waren, erhoben sich die Geistlichen bald zu einer Kaste, die über dem Volk stand. Je mehr christliche Gemeinden in allen Städten des großen römischen Reiches entstanden, desto stärker fühlten die von Regierung und Andersgläubigen verfolgten Christen das Bedürfnis, sich untereinander zusammenzuschließen, um ihre Kräfte zu vergrößern. Die verstreuten Gemeinden beginnen, sich zu einer Kirche auf dem ganzen Reichsgebiet zu vereinigen. aber das ist schon jetzt hauptsächlich ein Zusammenschluss nicht des Volkes, sondern der Geistlichkeit. Im 4. Jahr­hundert nach Christus beginnen die Geistlichen der einzelnen Gemeinden, regelmäßig auf Konzilen zusammenzukommen; das erste derartige Konzil fand 325 in Nicäa statt. Dadurch wunde der enge Zusammenschluss der Geistlichen zu einem vom Volk abgesonderten Stand vollendet. Gleichzeitig waren auf den Konzilen natürlich die Bischöfe der mächtigsten und reichsten Gemeinden führend unter den Geistlichen, und deshalb stand der Bischof der christlichen Gemeinde der Stadt Rom bald an der Spitze der ganzen Christenheit, als Haupt der Kirche, als Papst. So entstand die ganze Hierarchie der Geistlichkeit, die sich immer mehr vom Volk ab­sonderte und sich immer höher über es erhob.

    Gleichzeitig änderte sich auch das ökonomische Verhältnis zwischen Volk und Geistlichkeit. Früher war alles, was reiche Kirchenmitglieder der Gemeinschaft opferten, als Fonds für das arme Volk betrachtet wor­den. Dann begann man, aus eben diesem Fonds einen immer größeren Teil dafür abzuzweigen, die Geistlichkeit zu bezahlen und die Bedürf­nisse der Kirche zu bestreiten. Als Anfang des 4. Jahrhunderts das Chris­tentum in Rom zur herrschenden, d.h. zur einzigen vom Staat anerkann­ten und unterstützten Religion ausgerufen wurde und die Christenverfol­gungen aufhörten, fanden die Gottesdienste nicht mehr in unterirdischen Höhlen oder bescheidenen Kammern statt, sondern man begann, immer prächtigere Kirchen zu bauen. Die Ausgaben dafür verminderten den Fonds für die Armen immer mehr. Schon im 5. Jahrhundert nach Christus wurden die Einkünfte der Kirche in vier gleiche Teile aufgeteilt, von denen einen der Bischof erhielt, einen die übrige niedere Geistlichkeit, einer für Bau und Erhaltung der Kirchen abging und nur ein vierter für die Unterstützung des armen Volkes verwendet wurde. Das ganze christ­liche Armenvolk erhielt zusammen jetzt nur noch so viel wie der Bischof allein. Und mit der Zeit hörte man überhaupt auf, einen bestimmten Teil für die Armen bereitzustellen. Je reicher und mächtiger die Geistlichkeit wurde, desto mehr verlor das Volk der Gläubigen jede Kontrolle über Besitz und Einkünfte der Kirche. Die Bischöfe verteilten so viel an die Armen, wie es ihnen gefiel. Das Volk erhielt schon damals Almosen von seiner Geistlichkeit.

    Aber das ist noch nicht das Ende. Waren anfangs alle Gaben der Gläubigen für die christliche Allgemeinheit freiwillig, so begann die Geistlichkeit mit der Zeit, besonders, seit die Religion Staatsreligion geworden war, zwangsweise Gaben zu fordern, und das von allen Gläu­bigen, begüterten und unbegütenten. Im 6. Jahrhundert wurde von der Geistlichkeit eine besondere Kirchenabgabe eingeführt: der Zehnte (d.h. die zehnte Kornähre, das zehnte Stück Vieh usw.). Diese Abgabe fiel als neue Last auf die Schultern des Volkes und wurde später im Mittelalter eine Gottesgeißel für die armen, durch Fronarbeit ausgepressten Bauern. Mit dem Zehnten wurde jeder Zollbreit Land, jedes Gut belegt, und der Fronbauer musste ihn im blutigen Schweiße seines Angesichts für die Herren abarbeiten. Jetzt erhielt das arme Volk nicht nur keine Hilfe und Unterstützung von der Kirche, sondern im Gegenteil, die Kirche verband sich mit den anderen Ausbeutern und Schindern des Volkes: mit Fürsten, Landadel und Wucherern.

    Als im Mittelalter das arbeitende Volk durch die Fron in immer größere Not fiel, bereicherte sich die Geistlichkeit immer mehr. Außer den Einkünften aus dem Zehnten und anderen Abgaben und Zahlungen erhielt die Kirche zu jener Zeit riesige Schenkungen und Vermächtnisse von frommen Reichen oder reichen Wüstlingen beiderlei Geschlechts, die sich durch reichliches Vermächtnis an die Kirche in ihrer letzten Stunde von ihrem sündigen Leben loskaufen wollten. Geld, Häuser, ganze Dörfer samt Fronbauern, einzelne Renten und Arbeitsleistungen, die zum Land gehörten, wurden der Kirche geschenkt und vermacht. So sammelten sich in den Händen der Geistlichkeit riesige Reichtümer an. Und jetzt hörte der Klerus schon auf, Verwalter des ihm anvertrauten Besitzes der Kir­che, d.h. der Gemeinde der Gläubigen und zumindest der armen Brüder zu sein. Im 12. Jahrhundert verkündete die Geistlichkeit schon offen und stellte es als scheinbar aus den Worten der heiligen Schrift herleitbares Recht dar, dass aller Reichtum der Kirche nicht Eigentum der Gemein­schaft der Gläubigen sei, sondern privates Eigentum der Geistlichkeit und vor allem ihres Oberhauptes, des Papstes. Geistliche Ämter waren somit der beste Weg, große Einkünfte und Reichtümer zu erwerben, und jeder Geistliche, der über den Besitz der Kirche wie über sein Eigentum ver­fügte, stattete seine Verwandten, Kinder und Enkel mit vollen Händen aus. Da die Kirchengüter sich dadurch beträchtlich verminderten und in den Händen der Familien der Geistlichen zusammenschmolzen, befahlen die Päpste also in ihrer Sorge, den Reichtum im Ganzen zu erhalten, und indem sie sich zu obersten Eigentümern des ganzen Kirchenbesitzes erklärten, der Geistlichkeit den Zölibat, d.h. die Frauenlosigkeit, um zu verhindern, dass der Besitz durch Vererben gemindert wurde. Der Zölibat wurde ursprünglich schon im 11. Jahrhundert eingeführt, aber wegen des großen Starrsinns der Priester allgemein erst Ende des 13. Jahrhunderts angenommen. Damit die Kirche auch nicht den geringsten Teil des Reichtums aus den Händen ließe, gab Papst Bonifatius VIlI. 1227 einen Erlass heraus, der jeglichem Geistlichen untersagte, ohne Erlaubnis des Papstes weltlichen Menschen Schenkungen aus seinen Einkünften zu machen.

    So häufte die Kirche in ihren Händen unermessliche Reichtümer an, besonders Grundbesitz. In allen christlichen Ländern wurde die Geist­lichkeit zum größten Grundbesitzer. Gewöhnlich besaß sie den dritten Teil der ganzen Ländereien im Staate, manchmal noch mehr. Nicht nur auf allen Königs-, Fürsten- und Adelsgütern musste also das Landvolk außer seiner Fronarbeit den Zehnten für die Geistlichkeit abarbeiten, auch auf den ganzen riesigen Flächen der Kirchengüter arbeiteten Millionen von Bauern und Hunderttausende von Handwerkern unmittelbar für die Bischöfe, Erzbischöfe, Domherren, Pröpste und Klöster. Unter den Fronausbeutern des Volkes war im Mittelalter, zur Zeit des Feudalismus, die Kirche der mächtigste Herr und Ausbeuter. Zum Beispiel besaß die Geistlichkeit in Frankreich vor der Großen Revolution, also gegen Ende des 18. Jahrhunderts, ein Fünftel des ganzen Bodens in Frankreich, aus dem sie ein jährliches Einkommen von ungefähr 100 Millionen Franken einstrich.

    Die aus den Privatgütern eingenommenen Zehnten betrugen 23 Mil­lionen. Davon wurden 2.800 Prälaten und Obervikare, 5.600 Äbte und Priore, 60.000 Pröpste und Vikare und in Klöstern 24.000 Mönche und 36.000 Nonnen ernährt und unterhalten. Dieses ganze Heer des Klerus war völlig frei von Abgaben und vom Kriegsdienst und gab nur in Jahren allgemeinen Unglücks wie Krieg, Missernten, Seuchen, eine ,,freiwillige Abgabe" an die Staatskasse, die jedoch niemals 16 Millionen Franken überstieg.

    Die so begüterte Geistlichkeit bildete mit dem Fronadel zusammen einen Stand, der über das arme Volk herrschte und von seinem Blut und Schweiß lebte. Höhere Kirchenämter wurden als die einträglichsten immer dem Adel gegeben und in adeligen Familien gehalten. Auch deshalb hielt die Geistlichkeit zur Zeit der Fronarbeit überall mit dem Adel zusammen, unterstützte seine Herrschaft, zog zusammen mit dem Adel dem Volk das Fell über die Ohren und brachte es dazu, Not und Erniedri­gung in Demut, ohne Murren und Widerspenstigkeit zu ertragen. Die Geistlichkeit war auch der erklärte Feind des Stadt- und Landvolkes, als dieses sich schließlich erhob, um in der Revolution die Fronausbeutung abzuschaffen und die Menschenrechte zu erringen. Allerdings gab es auch innerhalb der Kirchenhierarchie zwei Klassen: die höhere Geistlichkeit raffte den ganzen Reichtum an sich, der Masse der Landpfarrer aber gab man arme Pfarreien, die zum Beispiel in Frankreich jährliche Einkünfte von 500 bis 2000 Franken einbrachten. Diese benachteiligte niedere Klasse des Klerus erhob sich auch gegen den höheren Klerus, und in der Großen Revolution, die im Jahre 1789 ausbrach, verbündete sie sich mit dem kämpfenden Volk gegen die Herrschaft des weltlichen und geistli­chen Adels.

  5. So wurde im Laufe der Zeit das Verhältnis der Kirche zum Volk völlig auf den Kopf gestellt. Das Christentum entstand als Evangelium des Trostes für die armen und enterbten Klassen. Ursprünglich war es eine Lehre gegen gesellschaftliche Ungleichheit und verkündete die Vermö­gensgemeinschaft zur Beseitigung der Ungleichheit zwischen Reichen und Armen. Aber allmählich wurde die Kirche aus einem Hort der Gleichheit und Brüderlichkeit zum neuen Verbreiter von Ungleichheit und Unrecht. Nachdem sie den Kampf der ersten Apostel des Christen­tums gegen das Privateigentum aufgegeben hatte, begann die Geistlich­keit, selbst Reichtümer zu sammeln und an sich zu raffen, und verbündete sich mit den besitzenden Klassen, die von der Ausbeutung der Arbeit, des Volkes und von der Herrschaft über das Volk lebten. Im Mittelalter, als der Feudaladel über die Fronbauern herrschte, gehörte die Kirche zum herrschenden Adelsstand und verteidigte ihre Herrschaft mit allen Kräften gegen die Revolution. Als dann Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Mitte des 19. in ganz Mitteleuropa das Volk Fron und Adelsprivile­gien in der Revolution hinwegfegte und die Herrschaft des modernen Kapitalismus begann, da verband sich die Kirche wieder mit den herr­schenden Klassen, mit dem Handels- und Industriebürgertum. Mit dem Wandel der Zeiten besitzt die Geistlichkeit jetzt nicht mehr so viel Land wie früher, aber dafür besitzt sie Kapital und bemüht sich, damit so zu spekulieren, dass sie von der Ausbeutung der Arbeit des Volkes in Indus­trie und Handel, die die Kapitalisten betreiben, einen möglichst großen Teil an sich rafft. So besaß die katholische Kirche in Österreich zum Beispiel nach eigenen kirchlichen Angaben (vor fünf Jahren) ein Vermö­gen von über 813 Millionen Kronen, davon ungefähr 300 Millionen an Grund und Boden, 387 Millionen an Obligationen, das heißt an verschie­denen Börsenpapieren, die Prozente bringen, und rund 70 Millionen verleiht die Kirche zu gutem Zins an private ausbeuterische Fabrikanten, Börsenleute usw. So wurde die Kirche aus dem Fronherrn des Mittelalters zum modernen Industrie- und Finanzkapitalisten, und wie sie früher zu der Klasse gehörte, die Blut und Schweiß aus dem Bauern presste, so gehört sie jetzt zu der Klasse, die sich durch Ausbeutung des Fabrik- und Landarbeiters, durch Ausbeutung des Proletariats bereichert.

    Dieser Wandel ist am deutlichsten in den Klöstern sichtbar. In einigen Ländern, wie in Deutschland und Russland, wurden die katholischen Klöster schon vor längerer Zeit verboten und aufgehoben. Aber dort, wo sie sich bis heute noch fest erhalten haben, wie in Frankreich, Italien, Spanien, dort zeigt sich auch, wie weitgehend die Kirche Teilhaber des heute über das Volk herrschenden Kapitalismus ist.

    Im Mittelalter waren die Klöster noch die letzte Zuflucht des armen Volkes. Dort verbarg sich das unterdrückte Volk vor der Grausamkeit der weltlichen Fürsten und Herren, vor den Schrecken des Krieges, dort suchte es Brot und Obdach in letzter Not. Und damals versagten die Klöster dem Bedürftigen kein Krümchen Brot und keinen Löffel Suppe. Man braucht wohl auch nicht daran zu erinnern, dass es im Mittelalter, als es noch nicht diesen allgemeinen Warenhandel gab wie heute, sondern jeder Hof, jedes Kloster fast alles für den eigenen Bedarf mit Hilfe der Fronbauern und Handwerker selbst produzierte, dass es damals für überflüssige Vorräte keinen Absatz gab. Wenn sich mehr Getreide, Gemüse, Holz oder Milchprodukte ansammelten, als die Klosterbrüder selbst verbrauchen konnten, so hatte der Rest fast keinen Wert. Es gab nieman­den, dem man es hätte verkaufen können, und Vorräte aufzubewahren, war nicht immer und nicht bei allem möglich. Also ernährten und schätz­ten die Klöster gerne das arme Volk, indem sie ihm einen geringen Teil von dem abgaben, was sie selbst aus dem ihnen untertänigen Fronbauern herausgepresst hatten, um so mehr, als das zu jener Zeit auch jeder be­deutendere Adelshof tat. Aber besonders für die Klöster war das eine nützliche Wohltätigkeit, da sie gerade als Zuflucht der Armen berühmt waren und dafür große Geschenke und Vorräte von den Reichen und Mächtigen erhielten.

    Als jedoch mit dem Entstehen der Warenproduktion und der kapitalistischen Industrie alles in der Wirtschaft einen Preis bekam und Han­delsobjekt wurde, gaben die Klöster und die Höfe der geistlichen Herren ihre ganze Wohltätigkeit auf und schlossen vor den Armen ihre Pforten. Nun fand das arme Volk nirgends mehr Zuflucht und Hilfe, und unter anderem auch deshalb entstand zu Beginn der Herrschaft des Kapitalis­mus im 18. Jahrhundert, als die Arbeiter sich noch überhaupt nicht zum Schutz gegen die Ausbeutung organisiert hatten, in den Hauptindustrieländern, in England und Frankreich, eine so entsetzliche Not unter dem Volk, wie sie die Bevölkerung lediglich vor 18 Jahrhunderten, beim Niedergang des römischen Reiches schon einmal durchlebt hatte.

    Aber wenn damals die katholische Kirche gerade zur Rettung des römischen Proletariats, das im Elend zugrunde ging, mit dem Evangelium vom Kommunismus, von gemeinsamem Eigentum, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgetreten war, ging die Kirche jetzt, bei der Herrschaft des Kapitals, völlig anders vor. Sie zögerte nicht, selbst die Not auszunutzen. in die das einfache Volk geraten war, um diese billige Arbeitskraft für sich und für die eigene Bereicherung einzuspannen. Die Klöster wurden zu Höhlen kapitalistischer Ausbeutung und das in der entsetzlichsten Form, nämlich der Ausbeutung von Frauen- und Kinderarbeit. Ein be­kanntes Beispiel dieser erbarmungslosen Ausbeutung von Kindern bis auf den heutigen Tag wurde der Welt im Prozess gegen das Kloster ,,zum Guten Hirten" im Jahre 1903 in Frankreich gegeben, wo Mädchen von 12, 10 und 9 Jahren den ganzen Tag ohne Unterbrechung zu schwerster Arbeit gezwungen wurden, bei der sie Augenlicht und Gesundheit verloren, dabei notdürftigst ernährt und wie im strengsten Gefängnis gehalten wurden.

    Heute sind die Klöster auch in Frankreich schon fast abgeschafft. und damit verschwindet für die Kirche die Gelegenheit zur unmittelbaren kapitalistischen Ausbeutung. Ebenso abgeschafft ist schon seit langem der Zehnte, diese Plage des Fronbauern. Aber die Geistlichkeit hat auch heute noch vielerlei Methoden, das arbeitende Volk durch Bezahlung von Messen, Heiraten, Beerdigungen, Taufen und verschiedenartigem Dispens zu schinden. Die Regierungen, die es mit dem Klerus hatten, zwin­gen die Bevölkerung, sich auf Schritt und Tritt von ihm loszukaufen, und außerdem bekommt die Kirche überall, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schweiz, wo die Religion eine Privatangelegenheit ist, dicke Gehälter vom Staat, für die natürlich das Volk im Schweiße seines Angesichts arbeitet. In Frankreich zum Beispiel bezieht der katholische Klerus bis auf den heutigen Tag 40 Millionen Franken Regierungsgehalt. Alles in allem, die Kirche lebt heute zusammen mit der Regierung und der Klasse der Kapitalisten von der schweren Arbeit des ausgebeuteten Volkes. Welche Einkünfte die Kirche gegenwärtig hat, diese ehemalige Zuflucht der Geringsten und Enterbten, das zeigen z.B. die Zahlen über die Einkünfte des katholischen Klerus in Österreich. Vor fünf Jahren betrugen die Kircheneinnahmen in ganz Österreich jährlich 60 Millionen Kronen. Die Ausgaben betrugen nur 35 Millionen, also "sparte" die Kirche in einem Jahr aus dem Blut und Schweiß des arbei­tenden Volkes 25 Millionen.

    Im Einzelnen hat:

    • das Erzbistum Wien jährliche Einkünfte von 300.000 Kronen, Ausgaben weniger als die Hälfte davon, reine "Ersparnisse" demnach jähr­lich 150.000; das Vermögen dieses Erzbistums beträgt dagegen etwa 7 Millionen;

    • das Erzbistum Prag jährliche Einkünfte von über einer halben Million, Ausgaben von etwa 300.000; sein Vermögen beträgt fast 11 Millio­nen;

    • das Erzbistum Olmütz Einkünfte von über einer halben Million, Ausgaben von etwa 400.000; sein Vermögen beträgt mehr als 14 Millionen.

    Nicht schlechter schindet auch der niedere Klerus die Bevölkerung, der sich gewöhnlich über seine Armut und die Hartherzigkeit des Volkes beklagt. Die jährlichen Einkünfte der Pfarreien betragen in Österreich über 35 Millionen Kronen, die Ausgaben dagegen nur 21 Millionen Kronen, so dass die jährlichen ,,Ersparnisse" der Pfarrer zusammen 14 Millionen ausmachen. Das Vermögen der Pfarreien beträgt dagegen in Österreich zusammen über 450 Millionen. Schließlich hatten auch die Klöster in Österreich schon vor fünf Jahren ein ,,Reineinkommen", d.h. nach Abzug der Ausgaben, von über 5 Millionen jährlich, und diese Reichtümer wachsen mit jedem Jahr, während bei dem von Kapitalismus und Staat ausgebeuteten Volk die Not immer mehr wächst. Und ebenso wie in Österreich geht es auch bei uns zulande und überall.

    Nachdem wir jetzt die Geschichte der Kirche und des Klerus kurz kennen gelernt haben, sollten wir uns nicht mehr darüber wundem, dass sich die Geistlichkeit bei uns heute auf die Seite der zaristischen Regie­rung und der Kapitalisten gestellt hat und die um besseres Leben kämpfenden revolutionären Arbeiter heftig beschimpft.

    Die bewussten sozialdemokratischen Arbeiter streben danach, gerade die Idee von sozialer Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen in der Gesellschaft zu verwirklichen, die die Grundlage der christlichen Kirche in ihren ersten Anfängen war. Diese Gleichheit, die damals in der auf Sklaverei gegründeten Gesellschaft und später bei der Herrschaft der Fronarbeit unmöglich war, wird jetzt möglich, da auf der ganzen Welt der Industriekapitalismus herrscht. Was die Apostel des Christentums durch flammendste Predigten gegen die selbstsüchtigen Reichen nicht durchsetzen konnten, das können in naher Zukunft die modernen Proletarier, die Klasse der bewussten Arbeiter, erreichen, wenn sie in allen Ländern die politische Macht an sich gebracht haben und den ausbeuterischen Kapitalisten Fabriken, Land und alle Arbeitsmittel wegnehmen, zum gemeinsamen Eigentum aller Arbeitenden. Der Kommunismus, nach dem die Sozialdemokratie strebt, ist nicht mehr jene Verbrauchsgemeinschaft nichtstuender Bettler, mit denen die Reichen teilen, sondern Gemeinschaft ehrlicher Arbeit und gerechter Genuss der gemeinsamen Früchte dieser Arbeit. Sozialismus heißt nicht mehr, dass Reiche mit Armen teilen, sondern dass eben dieser Unterschied zwischen Reichen und Armen dadurch beseitigt wird, dass man gleiche Arbeitspflicht für alle Arbeitsfähigen einführt und die Ausbeutung der einen durch die anderen völlig abschafft.

    Um diese sozialistische Ordnung einzuführen, müssen sich die Arbeiter in allen Ländern in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei organisie­ren, die dieses Ziel anstrebt. Gerade deshalb sind Sozialdemokratie, Aufklärung der Arbeiter und Arbeiterbewegung den besitzenden Klassen, die heute von der Ausbeutung der Arbeiter leben, so verhasst. Der Klerus aber, ja die ganze Kirche gehört ebenfalls zu diesen herrschenden Klassen. All diese riesigen Reichtümer, die die Kirche angesammelt hat, wurden ohne eigene Arbeit durch Ausbeutung und Benachteiligung des arbeitenden Volkes erworben. Das Vermögen der Erzbischöfe und Bi­schöfe, der Klöster und Pfarreien, ist ebenso mit dem blutigen Schweiß des städtischen und ländlichen Arbeitervolkes erkauft worden wie das Vermögen der Fabrikanten, Kaufleute und Landmagnaten. Denn woher stammen jene Schenkungen und Vermächtnisse der reichen Leute an die Kirche? Offensichtlich nicht aus eigener Arbeit dieser reichen Frömmler, sondern aus der Ausbeutung der Arbeiter, die für sie schufteten: früher entstanden diese dem Klerus geopferten Reichtümer durch die Ausbeu­tung des Fronbauern, heute durch die Ausbeutung des Lohnarbeiters. Was aber die Gehälter betrifft, die heute der Geistlichkeit von der Regierung gezahlt werden, so ist klar, dass sie aus der allgemeinen Staatskasse stammen, die hauptsächlich mit Steuern gefüllt ist, die der Masse des einfachen Volkes abgepresst wurden. Der Klerus sitzt dem Volk also ebenso im Nacken und lebt von seiner Erniedrigung, Unterdrückung und Dumpfheit wie die ganze Kapitalistenklasse. Das aufgeklärte Volk, das um seine Rechte und um Gleichheit unter den Menschen kämpft, ist den Priestern heute ebenso verhasst wie allen schmarotzenden Kapitalisten, da heute Einführung der Gleichheit und Abschaffung der Ausbeutung schon der Todesstoß für eben diese Geistlichkeit wären, die von Ausbeutung und Ungleichheit lebt.

    Aber was das wichtigste ist: der Sozialismus strebt danach, der ganzen Menschheit ehrliches und redliches Glück auf der Erde, dem ganzen Volk größtmögliche Bildung, Wissen und Herrschaft in der Gesellschaft zu geben, und gerade dieses irdische Glück aller Menschen und diese Klar­heit in den Köpfen fürchten die heutigen Diener der Kirche wie ein Ge­spenst. Wie die Kapitalisten den Körper des Volkes in das Gefängnis der Not und Unfreiheit sperrten, so sperrte der Klerus den Kapitalisten zu Hilfe und um der eigenen Herrschaft willen den Geist des Volkes ein, weil er fürchtete, ein aufgeklärtes, vernünftiges Volk, das Welt und Natur mit durch die Wissenschaft geöffneten Augen betrachtet, würde die Herrschaft der Priester abwerfen und sie nicht mehr als höchste Macht und Quelle aller Gnade auf Erden ansehen. Indem er also die ursprüngli­chen Lehren des Christentums, die gerade das irdische Glück der Gering­sten erstrebten, abändert und verfälscht, redet der heutige Klerus dem Volk ein, es leide Not und Erniedrigung nicht auf Grund der schändlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auf Befehl des Himmels, durch Fügung der Vorsehung. Und dadurch eben tötet die Kirche im arbeitenden Menschen den Geist, tötet in ihm die Hoffnung und den Willen nach besserer Zukunft, tötet in ihm den Glauben an sich selbst und seine Kraft, die Achtung vor der eigenen menschlichen Würde. Die heutigen Priester halten sich mit ihren falschen und den Geist vergiftenden Lehren dank der Dumpfheit und Erniedrigung des Volkes und wollen diese Dumpfheit und Erniedrigung für ewige Zeiten bewahren. Es gibt dafür unschlagbare Beweise. In den Ländern, wo der katholische Klerus allmächtig über das Denken des Volkes herrscht wie in Spanien und Italien, dort herrschen auch größte Dumpfheit und - größtes Verbrechen. Nehmen wir bei­spielsweise zwei Länder in Deutschland zum Vergleich: Bayern und Sachsen. Bayern ist hauptsächlich ein Bauernland, wo der katholische Klerus noch großen Einfluss auf das Volk hat. Sachsen ist dagegen ein hochindustrialisiertes Land, wo die Sozialdemokratie schon seit langen Jahren Einfluss auf die arbeitende Bevölkerung hat. In Sachsen sind zum Beispiel in fast allen Wahlkreisen Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt worden, wodurch dieses Land bei der Bourgeoisie verhasst und als ,,rot", sozialdemokratisch, verschrien ist. Und was ergibt sich? Amtli­che Berechnungen zeigen, dass, wenn man die Zahl der im Laufe eines Jahres im klerikalen Bayern und im "roten" Sachsen begangenen Verbre­chen vergleicht (im Jahre 1898), auf 100.000 Personen bei schwerem Diebstahl in Bayern 204, in Sachsen 185 Fälle kommen, bei Körperver­letzungen in Bayern 296, in Sachsen 72, bei Meineid in Bayern 4, in Sachsen 1. Ebenso, wenn man die Zahl der Verbrechen im Posenschen betrachtet, so gab es im selben Jahr auf 100.000 Menschen 232 Körper­verletzungen, in Berlin 172. Und in Rom, dem Sitz des Papstes, wurden im vorletzten Jahr des Bestehens des Kirchenstaates, d.h. der weltlichen Macht des Papstes im Jahre 1869, in einem Monat 279 Menschen wegen Mordes, 728 wegen Körperverletzung, 297 wegen Raubes und 21 wegen Brandstiftung verurteilt! Das waren die Früchte einer ausschließlichen Herrschaft der Geistlichkeit über das Denken der armen Bevölkerung.

    Das heißt natürlich nicht, dass die Geistlichkeit zum Verbrechen er­muntert, im Gegenteil, mit den Lippen reden die Priester viel gegen Diebstahl. Raub und Trunksucht. Aber bekanntlich stehlen, schlagen und trinken die Menschen nicht aus Eigensinn oder Neigung, sondern aus zwei Gründen: aus Not und Dumpfheit. Wer also das Volk in Not und Dumpfheit hält, wie es die Geistlichkeit tut, wer im Volk den Willen und die Energie zu einem Ausweg aus Not und Dumpfheit tötet, wer auf jede Weise diejenigen behindert, die das Volk bilden und aus der Not emporheben wollen, der ist ebenso verantwortlich für die Verbreitung von Verbrechen und Trunksucht, als ob er dazu ermuntern würde.

    Und ebenso ging es bis vor kurzem in den Bergbaugebieten des kleri­kalen Belgien zu, bis die Sozialdemokraten kamen und dem unglückseligen, erniedrigten belgischen Arbeiter laut zuriefen: steh auf, Arbeiter, erhebe dich aus deiner Erniedrigung, schlage nicht, trinke keinen Alkohol, lass nicht vor Verzweiflung den Kopf hängen, sondern lies, bilde dich, schließe dich mit deinen Brüdern in einer Organisation zusammen, kämpfe gegen die Ausbeuter, die dich aussaugen, und du wirst dich aus der Not erheben, du wirst ein Mensch sein!

    So bringen die Sozialdemokraten überall dem Volk die Auferstehung, stärken die Verzweifelten, verbinden die Schwachen zu einer Macht, öffnen den Dumpfen die Augen, zeigen den Weg der Befreiung und rufen das Volk auf, das Königreich der Gleichheit, Freiheit und Nächstenliebe auf der Ende zu errichten. Die Diener der Kirche rufen das Volk dagegen überall nur zu Demut, Verzweiflung und geistigem Tod auf. Wenn Christus heute auf der Erde erschiene, so würde er sicher mit diesen Priestern, Bischöfen und Erzbischöfen, die die Reichen schätzen und vom blutigen Schweiß von Millionen leben, dasselbe tun wie damals mit jenen Händlern, die er mit dem Stock aus der Vorhalle des Tempels vertrieb, damit sie das Haus Gottes nicht durch ihre Schandtaten befleckten.

    Deshalb musste zwischen dem Klerus, der Not und Unfreiheit des Volkes verewigen will, und den Sozialdemokraten, die dem Volk das Evangelium der Befreiung bringen, ein Kampf auf Leben und Tod entste­hen wie zwischen der schwarzen Nacht und der aufgehenden Sonne. Wie die nächtlichen Schatten ungern und widerwillig vor der sonnigen Mor­genröte weichen, so möchten die Kirchenfledermäuse jetzt mit ihren schwarzen Soutanen dem Volk den Kopf verhüllen, damit seine Augen nicht das aufgehende Licht der sozialistischen Befreiung erblicken. Da sie aber den Sozialismus nicht mit Geist und Wahrheit bekämpfen können, flüchten sie sich zu Gewalt und Unrecht. In der Sprache des Judas ver­breiten sie schändliche Verleumdungen derjenigen, die dem Volk die Augen öffnen, durch Lüge und Verleumdung versuchen sie diejenigen zu verunglimpfen, die ihr Blut und Leben dem Volk zum Opfer bringen. Und schließlich heiligen und unterstützen diese Priester, diese Diener des goldenen Kalbes, die Verbrechen der zaristischen Regierung, segnen die Mörder des Volkes, stehen zum Schutz um den Thron des Letzten der Zarendespoten, der das Volk mit Feuer und Schwert unterdrückt, wie jener Nero in Rom die ersten Christen verfolgte!

    Aber vergeblich diese Anstrengungen! Vergebens wütet ihr, entartete Diener der Christenheit, die ihr jetzt Diener Neros seid! Vergebens helft ihr unseren Mördern und Häschern, vergebens schützt ihr mit dem Zei­chen des Kreuzes die Reichen und die Ausbeuter des Volkes! Wie damals keine Grausamkeiten und Verleumdungen den Sieg der christlichen Idee aufhalten konnten, dieser Idee, die ihr durch euren Dienst am goldenen Kalb befleckt habt, so halten alle eure Versuche heute nicht den Sieg des Sozialismus auf. Heute seid ihr euren Lehren, eurem ganzen Lebenswan­del nach Heiden, wir aber, die wir den Armen, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das Evangelium der Brüderlichkeit und Gleichheit bringen, wir erobern heute die Weit wie jener, der gesagt hat: ,,Wahrlich, wahrlich ich sage euch, es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme."

  6. Zum Schluss noch einige Worte. Die Geistlichkeit hat zwei Methoden, die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Dort, wo die Arbeiterbewegung erst beginnt, sich Bürgerrecht zu erwerben, wie gerade bei uns, und wo die herrschenden Klassen noch der Täuschung erliegen, sie mit Gewalt ersticken zu können, dort tritt der Klerus auch nur mit strengen Predigten auf, schwärzt die Sozialisten an und droht den "anmaßenden" Arbeitern. Dort aber, wo schon politische Freiheit herrscht, und die Arbeiterpartei zu einer Macht wird wie z.B. in Deutschland, Frankreich und Holland, dort greift die Geistlichkeit auf andere Methoden zurück. Listig verbirgt sie ihre Wolfszähne und Krallen unter dem Schafspelz, und aus dem ehrli­chen Feind der Arbeiter wird ihr falscher Freund. Die Priester gehen dann selbst daran, die Arbeiter zu organisieren und ,,christliche" Gewerkschaften zu gründen. Sie versuchen so, die Fische vor dem Netz, d.h. die Arbeiter im Netz ihrer falschen Gewerkschaften zu fangen, wo sie sie Demut lehren, bevor sie zu den Gewerkschaften der Sozialdemokratie stoßen, die sie Kampf und Schutz vor der Ausbeutung lehrt.

    Wenn die zaristische Regierung schließlich unter den Schlägen des polnischen und russischen Proletariats gefallen ist und auch bei uns die politische Freiheit aufgeht, werden wir sicher erleben, dass derselbe Erzbischof Popiel und dieselben Priester, die jetzt in den Kirchen die kämpfenden Arbeiter heftig beschimpfen, damit beginnen, sie gewaltsam in "christlichen" und "nationalen" Verbänden zu organisieren, um sie auf neue Art zu verdummen. Schon jetzt haben wir einen kleinen Anfang dieser Maulwurfsarbeit in den Verbänden der "Nationaldemokraten", der zukünftigen Helfershelferin der Priester, die sie heute darin unterstützt, die Sozialdemokratie zu verunglimpfen. Deshalb müssen die Arbeiter vorbereitet sein, nicht morgen, nach dem Sieg der Revolution und der Einführung der politischen Freiheit, den süßen Worten derer auf den Leim zu gehen, die sich heute erdreisten, von der Kanzel herab das Ar­beiter mordende Zarenregime und die Herrschaft des Kapitals, die das Volk ins Elend stürzt, zu verteidigen. Zum Schutz vor dieser Feindschaft der Geistlichkeit heute, während der Revolution, und vor ihrer verräteri­schen Freundschaft morgen, nach der Revolution, müssen sich die Arbeiter schleunigst in ihrer Arbeiterpartei organisieren, sich der Sozial­demokratie anschließen. Und auf alle Angriffe der Priester sollten die bewussten Arbeiter die eine Antwort haben:

    Die Sozialdemokratie nimmt niemandem seinen Glauben und kämpft nicht gegen die Religion! Sie fordert dagegen völlige Gewissensfreiheit für jeden und Achtung vor jeglichem Bekenntnis und jeglicher Überzeugung. Aber wenn die Priester die Kanzeln als Mittel des politischen Kampfes gegen die Arbeiterklasse missbrauchen wollen, so wenden sich die Arbeiter gegen sie wie gegen alle Feinde ihrer Rechte und ihrer Befreiung.

    Denn wer Ausbeuter und Unterdrücker unterstützt und versucht, die heutige schändliche Gesellschaftsordnung zu verewigen, der ist ein Tod­feind des Volkes, ob er nun die Priestersoutane oder die Gendarmenuniform trägt.


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