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Materialien zum Ethikunterricht

Die Gottesdebatte

Der Gipfel: An einem wolkigen Tag in Kalifornien traf sich der Atheist und Buchautor Sam Harris  ("The End of Faith") mit dem christlichen Pastor Rick Warren um die „größte Frage des Lebens“ zu besprechen: Gibt es Gott? 

Sam Harris

Rick Warren

Rick Warren ist so groß wie ein Bär, mit dröhnender Stimme und unbekümmertem Charme. Sam Harris ist gedrungen, zurückhaltend und, trotz des polemischen Tonfalls in seinen Büchern, freundlich und sanftmütig. Warren, einer der bekanntesten Priester der Welt, gründete die Saddleback Church 1980. Heutzutage besuchen 25.000 Menschen jeden Sonntag seine Kirche. Harris spricht leiser; Details sprudeln aus ihm heraus, komplex und faktenreich, wie es sich für jemanden geziemt, der in Neurowissenschaften promovieren möchte. Eingeladen von NEWSWEEK trafen sie sich kürzlich in Warrens Büro und plauderten, größtenteils freundlich, vier Stunden lang. Jon Meacham moderierte. Hier einige Auszüge.

 

JON MEACHAM: Rick, da Sie den Heimvorteil haben, fangen wir mit Sam an. Sam, gibt es einen Gott, wie ihn sich die meisten [US-]Amerikaner vorstellen?

SAM HARRIS: Es gibt keinen Beleg für solch einen Gott. Es ist aufschlussreich, anzumerken, dass wir alle Atheisten sind in Bezug auf Zeus und die tausenden anderen toten Götter, die jetzt keiner mehr verehrt.

Rick, welchen Beleg gibt es für die Existenz eines abrahamitischen Gottes?

RICK WARREN: Ich sehe überall Gottes Fingerabdrücke. Ich sehe sie in der Kultur. Ich sehe sie in den Gesetzen. Ich sehe sie in der Literatur. Ich sehe sie in der Natur. Ich sehe sie in meinem eigenen Leben. Der Versuch, Gottes Ursprung zu verstehen, ist wie der Versuch einer Ameise, das Internet zu verstehen. Sogar die geistreichsten Wissenschaftler würden zustimmen, dass wir nur einen Bruchteil eines Prozents vom Wissen des Universums kennen.

HARRIS: Jeder Wissenschaftler muss eingestehen, dass wir das Universum nicht vollständig verstehen. Aber weder die Bibel noch der Koran geben unser aktuelles Verständnis des Universum wieder. Das ist glasklar.

WARREN: Für Sie.

Sam, muss der Christ, den Sie in Ihren Büchern ansprechen, glauben, dass Gott die Bibel schrieb und sie wörtlich zu nehmen ist?

HARRIS: Nun, es gibt eine gewisse Bandbreite an Textvertrauen. Ich meine, es gibt das „Es ist buchstäblich wahr, nichts darf symbolisch interpretiert werden“ und es gibt das „Das ist einfach das beste Buch, das wir haben, geschrieben von den klügsten Menschen, die jemals gelebt haben, und es ist nach wie vor gerechtfertigt, unser Leben - unbeeinflusst von anderen Büchern - davon leiten zu lassen“. Überall in dieser Bandbreite habe ich ein Problem, weil die Bibel und der Koran meiner Meinung nach nur Bücher sind, die von Menschen geschrieben wurden. Es gibt Bibelabschnitte, die absolut brilliant und, glaube ich, in ihrer Lyrik unerreicht sind. Es gibt aber auch Bibelabschnitte, die schieres Barbarentum sind, aber behaupten, eine göttlich beauftragte Moral vorzuschreiben. Wo soll ich anfangen? Nach dem 2., 3. oder 5. Buch Moses, dem 1. und 2. Buch der Könige oder dem 2. Buch Samuel müssten die Hälfte aller Könige und Propheten Israels vor [das Kriegsverbrechergericht in] Den Haag gebracht und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden, wenn diese Ereignisse zu unserer Zeit geschehen wären.

[An Warren] Ist die Bibel fehlerfrei?

WARREN: Ich glaube, sie ist fehlerfrei in dem, was sie behauptet. Die Bibel behauptet in vielen Bereichen nicht, ein wissenschaftliches Buch zu sein.

Glauben Sie, dass die Schöpfung so geschah, wie das 1. Buch Moses sie beschreibt?

WARREN: Wenn Sie mich fragen, ob ich an die Evolution glaube, ist meine Antwort „nein“, mach ich nicht. Ich glaube, dass Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt den Menschen geschaffen hat. Ich glaube, dass die Genesis wörtlich zu nehmen ist, aber ich weiß auch, dass metaphorische Begriffe benutzt werden. Kam Gott herunter und blies in die Nase des Mannes? Wenn Sie an Gott glauben, haben Sie kein Problem damit, Wunder zu akzeptieren. Also, wenn Gott es so machen möchte, ist es für mich auch in Ordnung.

HARRIS: Ich promoviere in Neurowissenschaften; ich bin mit der Literatur in der Evolutionsbiologie vertraut. Und der grundlegende Punkt besteht darin, dass Evolution durch natürliche Selektion zufällige genetische Mutationen bedeutet, über Millionen Jahre hinweg im Zusammenwirken mit Umweltbeschränkungen, wodurch Fitness ausgewählt wird.

WARREN: Wer wählt aus?

HARRIS: Die Umgebung. Sie brauchen keinen intelligenten Designer anzuführen, um die Komplexität um uns herum zu erklären.

WARREN: Sam stellt alle möglichen Arten von Behauptungen auf, ausgehend von seinen Voraussetzungen. Ich bin bereit, meine Voraussetzungen anzugeben: Es gibt Hinweise auf Gott. Ich spreche jeden Tag zu Gott. Er spricht jeden Tag zu mir.

HARRIS: Was soll das denn bedeuten?

WARREN: Einer der größten Beweise für Gott ist ein erhörtes Gebet. Ich habe einen Freund, einen kanadischen Freund, der ein Einwanderungsproblem hat. Er ist Praktikant in dieser Kirche; deshalb sagte ich: „Gott, ich brauche Dich, um mir dabei zu helfen“, als ich das Haus für meinen Abendspaziergang verließ. Während ich spazieren ging, traf ich eine Dame. Sie sagte: „Ich bin Anwältin für Einwanderungsfragen; ich kann mich des Falls gerne annehmen.“ Nun, wenn dies einmal in meinem Leben passiert wäre, würde ich sagen: „So ein Zufall.“ Wenn es zehntausende Male passiert, ist es kein Zufall.

Sie haben sicher während Ihrer Priesterschaft für jemanden gebetet, um ihn - sagen wir, ein kleines Mädchen mit Krebs - von der Krankheit zu befreien und es hat nicht funktioniert.

WARREN: Ja, absolut.

Wollen wir‘s mal analysieren. Gott bescherte Ihnen einen Einwanderungsanwalt, aber Gott tötete ein kleines Mädchen.

WARREN: Nun, ich glaube an die Güte Gottes, und ich glaube, dass er es besser weiß als ich. Gott sagt manchmal „Ja“, Gott sagt manchmal „Nein“ und Gott sagt manchmal „Warte.“ Ich musste den Unterschied zwischen „nicht“ und „noch nicht“ lernen. Der Punkt hier ist die Demut. Eine Menge Atheisten verstecken sich hinter dem Rationalismus. Wenn Sie nachfassen, werden Sie merken, dass ihre Reaktionen ziemlich emotional sind. Wirklich, ich habe noch keinen Atheisten getroffen, der nicht wütend war.

HARRIS: Lassen Sie mich der erste sein.

WARREN: Ich denke, Ihre Bücher sind recht wütend.

HARRIS: Ich würde es eher ungeduldig als wütend nennen. Lassen Sie mich auf diese Bemerkung über erhörte Gebete antworten, weil diese - um es mal statistisch auszudrücken - ein klassischer Stichprobenfehler sind. Wir wissen, dass Menschen ein unzulängliches Gespür für Wahrscheinlichkeiten haben. Häufig glauben wir, unsere Vorurteile über die Welt bestätigt zu bekommen, und wir glauben dies, weil wir nur die Bestätigungen wahrnehmen und Widersprechendes nicht registrieren. Sie könnten zur Genugtuung jedes Wissenschaftlers mit einem einfachen Experiment beweisen, dass fürsprechende Gebete funktionieren. Sorgen Sie dafür, dass eine Milliarde Christen für einen einzelnen Amputierten beten. Lassen Sie sie beten, dass Gott die fehlenden Gliedmaßen nachwachsen lässt. Salamander gelingt dies jeden Tag, vermutlich ohne Gebet; das gehört zu Gottes Fähigkeiten. [Warren lacht.] Ich halte es für bemerkenswert, dass gläubige Menschen dazu neigen, nur für Zustände zu beten, die sich selbst begrenzen.

WARREN: Hier liegt ein Missverständnis vor.

HARRIS: Lassen Sie uns zur Bibel zurückkehren. Der Grund, weshalb Sie glauben, dass Jesus der Sohn Gottes sei, ist Ihr Glaube, dass das Evangelium einen verlässlichen Bericht der Wunder von Jesus darstellt.

WARREN: Das ist einer der Gründe.

HARRIS: Ja. Das ist einer der Gründe. Nun, es gibt viele Zeugnisse über Wunder, jedes einzelne so erstaunlich wie die Wunder von Jesus, in der Literatur anderer Weltreligionen. Sogar Wunder unserer Zeit. Es gibt Millionen Leute, die glauben, dass Sathya Sai Baba, der südindische Guru, von einer Jungfrau geboren wurde, Tote auferweckt hat und Gegenstände materialisiert. Ich meine - Sie können einige seiner Wunder auf YouTube ansehen. Stellen Sie sich darauf ein, unterwältigt zu werden. Er ist ein Bühnenmagier. Als Christ können Sie entgegnen, Sathya Sai Babas Wundererzählungen seien nicht interessant, ignorieren wir sie. Wenn Sie sie aber in das vorwissenschaftliche, religiöse Milieu des Römischen Reiches im ersten Jahrhundert versetzen, erscheinen plötzlich Wundererzählungen besonders unwiderstehlich.

Sam, was sind die weltlichen Quellen eines akzeptablen Moralkodex?

HARRIS: Nun, ich glaube nicht, dass religiöse Bücher die Quelle sind. Bezogen auf die Bibel richten wir darüber, was gut ist. Wir erkennen die Goldene Regel [“Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ (d. Übers.)] als großartige Destillation der ethischen Antriebe an, aber die Goldene Regel ist nicht alleinig der Bibel oder Jesus zuzuordnen. Sie treffen sie in vielen, vielen Kulturen an - und in bestimmten Formen ist sie auch bei nichtmenschlichen Primaten anzutreffen. Ich bin überhaupt kein Werte-Relativist. Ich denke, dass unter religiösen Menschen der Glaube recht verbreitet ist, dass Atheismus moralischen Relativismus nach sich zieht. Ich glaube, dass es ein absolutes „richtig und falsch“ gibt. Meiner Meinung nach sind Ehrenmorde eindeutig „falsch“ - Sie können das Wort „böse“ gebrauchen. Eine Gesellschaft, die Frauen und Mädchen wegen sexueller Verfehlungen ermordet, sogar wegen dem Fehler, vergewaltigt zu werden, ist eine Gesellschaft, die Mitleid getötet hat, die versagt hat, Männer zu lehren, Frauen zu achten und in der jegliches Mitgefühl ausgemerzt wurde. Mitgefühl und Mitleid sind unsere grundlegendsten moralischen Antriebe und wir können die Goldene Regel lehren, ohne uns oder unseren Kindern irgendetwas vorzumachen über den Ursprung gewisser heiliger Bücher oder die Jungfrauengeburt bestimmter Leute.

Rick, das Christentum hat sich von Zeit zu Zeit in einer verwerflichen, bösartigen Weise gezeigt. Wie bringen Sie dies mit dem christlichen Evangelium der Liebe in Übereinstimmung?

WARREN: Ich fühle mich nicht in der Pflicht, Sachen zu verteidigen, die zwar im Namen Gottes begangen wurden, die aber meiner Meinung nach Gott weder gut hieß noch verteidigte. Wurden im Namen des Christentums manche Dinge falsch getan? Ja. Sam behauptet in seinem Buch, dass die Religion für die Welt schlecht sei, aber weitaus mehr Menschen sind durch Atheisten als durch alle Religionskriege zusammen getötet worden. Tausende starben durch die Inquisition; Millionen starben unter Mao, Stalin und Pol Pot. Heute gibt es in der Welt eine Heimat für Atheisten - Nord Korea. Ich kenne keine Atheisten, die dorthin wollen. Ich lebe lieber unter Tony Blair, oder sogar George Bush. Das Fazit ist, dass Atheisten, die Christen wegen ihrer Intoleranz angreifen, gleichermaßen intolerant sind.

HARRIS: Inwiefern bin ich intolerant? Ich bin nicht dafür, dass wir Menschen wegen ihres Glaubens einsperren. Sie können in Westeuropa eingesperrt werden, wenn Sie den Holocaust leugnen. Meiner Ansicht nach eine furchtbare Art, um dem Problem zu begegnen. Dies ist wirklich eines der größten Irrtümer in der religiösen Auseinandersetzung, die Idee, dass die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts aufgrund des Atheismus verübt wurden. Das Kernproblem ist für mich entzweiender Dogmatismus. Es gibt viele Arten von Dogmatismus. Da gibt es Nationalismus, Stammesdünkel, Rassismus und Chauvinismus. Und es gibt Religion. Religion ist hierbei die einzige Sphäre der Auseinandersetzung, in der „Dogma“ als guter Begriff gewertet wird, wo es als edelnd gilt, etwas auf der Basis von starkem Glauben zu vertreten.

WARREN: Sie glauben nicht, dass Atheisten dogmatisch sind?

HARRIS: Nein, das glaube ich nicht.

WARREN: Tut mir leid, ich bin da anderer Meinung. Sie sind ziemlich dogmatisch.

HARRIS: OK, ich freue mich darauf, dass Sie meine Dogmen herausarbeiten, aber lassen Sie mich zunächst auf Stalin zurückkommen. Die Todesfelder und die Gulags waren nicht das Machwerk von Menschen, die zu vorsichtig waren, Dinge aufgrund unzureichender Belege zu glauben. Sie waren nicht das Machwerk von Menschen, die zu viele Beweise und zu viele Argumente für das brauchen, woran sie glauben. Es gibt Menschen, die Flugzeuge in unsere Gebäude fliegen, weil sie theologische Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen haben. Mir fällt auf, dass Christen explizit aus religiösen Gründen schreckliche Dinge tun - zum Beispiel, dass sie die [embryonale] Stammzellenforschung nicht fördern. Die Beweggründe sind für mich immer das Wichtigste. Noch nie hat eine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte gelitten, weil sie zu vernünftig geworden war.

WARREN: Wir stimmen hier exakt überein. Ich glaube nur, dass das Christentum die Vernunft bewahrt hat. Wir hätten keine Bill of Rights [Grundrechte der US-Verfassung, d. Übers.] ohne Christentum.

HARRIS: Das ist sicherlich ein umstrittener Anspruch. Der Gedanke, dass wir irgendwie unsere Moralvorstellungen aus der jüdisch-christlichen Tradition beziehen, zeugt von schlechtem Geschichts- und Wissenschaftsverständnis.

WARREN: Woher beziehen Sie Ihre Moralvorstellungen? Wenn es keinen Gott gibt, wenn ich nur komplizierter Schlamm bin, dann ist doch die Wahrheit: Ihr Leben zählt nicht, mein Leben zählt nicht.

HARRIS: Das ist eine komplette Karikatur des -

WARREN: Nein, lassen Sie mich das zu Ende bringen. Ich lasse Sie das Christentum karikieren. Falls das Leben nur Zufall ist, dann zählt nichts wirklich und es gibt keine Moral - es bleibt das Überleben des Stärkeren. Wenn das Überleben des Stärkeren bedeutet, dass ich Sie töten muss, um zu überleben, dann sei es so. Seit Jahren sagen Atheisten, es gibt keinen Gott, aber sie möchten so leben, als ob Gott existierte. Sie möchten leben, als ob ihr Leben eine Bedeutung hätte.

HARRIS: Unsere Moralvorstellungen, die Bedeutung, die wir im Leben finden, ist eine gelebte Erfahrung, die, meiner Meinung nach, um einen vorbelasteten Begriff einzuführen, eine spirituelle Komponente hat. Ich glaube, dass wir unsere Erfahrung der Welt radikal zum Besseren wenden können, sehr ähnlich dem, wie es jemand wie Jesus oder jemand wie Buddha bezeugten. Unsere spirituelle Literatur, unsere Erbauungsliteratur steckt voller Weisheit; und ich bin ziemlich interessiert daran, sie zu verstehen. Ich glaube, dass Meditation und Gebet auf uns verbessernd wirken. Die Frage ist, was wir auf der Grundlage solcher Bewusstseinsveränderungen vernünftigerweise glauben können?

WARREN: Sie werden nicht zugeben, dass es Ihre Erfahrung war, die Sie zum Atheisten werden ließ, nicht Vernunft.

HARRIS: Was in Ihren Erfahrungen hat Sie zu jemandem werden lassen, der kein Moslem ist? Ich unterstelle mal, dass Sie nicht schlaflos jede Nacht darüber grübeln, ob Sie zum Islam konvertieren. Und falls nicht, dann bestimmt, weil die Moslems sagen: „Wir haben ein Buch, welches das makellose Wort des Schöpfers unseres Universums ist, es ist der Koran, er wurde Mohammed in seiner Höhle vom Erzengel Gabriel diktiert“ und Sie darin eine Vielzahl von Behauptungen erkennen, die nicht durch genügend Belege untermauert sind. Wenn die Belege dagegen ausreichend wären, wären Sie genötigt, Moslem zu sein.

WARREN: Das stimmt genau.

HARRIS: Also stehen Sie und ich in einer atheistischen Beziehung zum Islam.

WARREN: Wir beide stehen in einer Beziehung zum Glauben. Sie glauben, dass es keinen Gott gibt. 1974 lebte ich den Großteil des Jahres in Japan und studierte alle Weltreligionen. Alle diese Religionen weisen grundsätzlich auf die Wahrheit hin. Buddha machte seine berühmte Aussage am Ende seines Lebens: "Ich suche immer noch nach der Wahrheit." Mohammed sagte: "Ich bin ein Prophet der Wahrheit." Die Veden sagen: "Die Wahrheit ist schwer zu fassen, wie ein Schmetterling, du musst nach ihr suchen." Dann kommt Jesus vorbei und sagt: "Ich bin die Wahrheit." Plötzlich erzwingt das eine Entscheidung.

HARRIS: Viele, viele andere Propheten und Gurus haben das auch gesagt.

WARREN: Hier ist der Unterschied. Jesus sagt: "Ich bin der alleinige Weg zu Gott. Ich bin der Weg zum Vater." Entweder lügt er oder nicht.

Sam, ist Rick intellektuell unredlich?

HARRIS: Ich würde es nicht so gehässig ausdrücken, aber -

Tun wir so, als ob Rick nicht hier wäre und wir uns zufällig in seinem Büro aufhielten.

HARRIS: Es ist intellektuell unredlich, ganz offen, wenn Sie sagen, dass Sie sicher sind, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde.

WARREN: Ich akzeptiere dies durch meinen Glauben. Und ich meine, dass es von Ihnen intellektuell unredlich ist, zu behaupten, dass Sie Beweise dafür haben, dass es nicht geschehen ist. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Ich stehe der Möglichkeit offen gegenüber, dass ich in manchen Bereichen falsch liege. Sie nicht.

HARRIS: Oh, ich stehe dem durchaus offen gegenüber.

WARREN: Also stehen Sie der Möglichkeit offen gegenüber, dass Sie sich bei Jesus irren könnten?

HARRIS: Und Zeus. Absolut.

WARREN: Und was unternehmen Sie, um das zu untersuchen?

HARRIS: Ich betrachte dies als Ereignis mit einer so geringen Wahrscheinlichkeit, dass ich -

WARREN: Eine geringe Wahrscheinlichkeit? Mit 96 Prozent Gläubigen auf der Welt? Ist jeder andere ein Schwachkopf?

HARRIS: Es ist gut möglich, dass die meisten Menschen falsch liegen - so, wie die meisten [US-]Amerikaner glauben, dass die Evolution nicht stattfand.

WARREN: Das ist eine arrogante Position.

HARRIS: Es ist eine ehrliche Position.

Rick, wären Sie in Ägypten oder im Iran geboren, hätten Sie dann einen anderen religiösen Glauben?

WARREN: Zweifellos beeinflusst, wo Sie geboren sind, Ihren anfänglichen Glauben. Unabhängig vom Geburtsort gibt es manches, was Sie über Gott wissen können, sogar ohne die Bibel. Zum Beispiel blicke ich auf diese Welt und sage: "Gott mag Vielfalt." Ich behaupte: "Gott mag Schönheit." Ich behaupte: "Gott mag Ordnung." Und je mehr wir die Ökologie verstehen, desto mehr verstehen wir, wie empfindlich diese Ordnung ist.

HARRIS: Dann mag Gott auch Pocken und Tuberkulose.

WARREN: Ich würde eine Menge dieser Sünden in der Welt mir selbst zuschreiben.

HARRIS: Sind Sie für Pocken verantwortlich?

WARREN: Ich bin verantwortlich dafür, etwas dagegen zu tun. Ohne Zweifel. Ich bin dafür verantwortlich, etwas gegen die 500 Millionen zu unternehmen, die jedes Jahr Malaria bekommen, und die 40 Millionen, die AIDS haben, weil ich für mein Leben verantwortlich gemacht werde. Und wenn ich frage: "Gott, warum unternimmst du nichts dagegen?" wird Gott antworten: "Nun, warum tust du nichts? Du warst selbst die Antwort auf dein Gebet."

HARRIS: Ich gebe Rick völlig Recht: Es liegt in unserer Verantwortung, diese Ungerechtigkeiten zu begradigen, aber ich glaube, dass Sie möglicherweise noch motivierter werden, Menschen zu helfen, wenn Sie sich klar machen, dass es keinen guten Grund, sicherlich keinen übernatürlichen guten Grund, für die Tatsache gibt, dass ich so viel habe und mein Nachbar so wenig hat.

Glauben Sie, dass religiös motivierte gute Taten tatsächlich schädlich sind?

HARRIS: Was mich an glaubensbasiertem Altruismus ärgert, ist, dass er mit religiösen Gedanken durchdrungen ist, die nichts mit dem Lindern des menschlichen Leids zu tun haben. Nehmen wir einen christlichen Priester in Afrika, der wirklich Gutes tut, Hungernden hilft, Kranke behandelt. Und doch, als Teil seiner Arbeit, glaubt er, die Göttlichkeit Jesus' in Gemeinschaften predigen zu müssen, in denen wörtlich Millionen von Menschen wegen interreligiöser Konflikte zwischen Christen und Moslems getötet wurden und werden. Dieses Extra erscheint mir unnötiges Leid zu verursachen. Ich würde dort lieber jemand sehen, der einfach nur die Hungernden speist und die Kranken behandelt.

WARREN: Sie würden lieber jemanden - einen Atheisten - die Hungernden speisen sehen als jemanden, der an Gott glaubt? Alle großen fortschrittlichen Strömungen in der westlichen Zivilisation wurden von Gläubigen getragen. Es waren Priester, die die Abschaffung der Sklaverei voranbrachten. Es waren Priester, die das Frauenwahlrecht voranbrachten. Es waren Priester, welche die Bürgerrechtsbewegung anführten. Nicht Atheisten.

HARRIS: Sie erwähnen Sklaverei - das finde ich ziemlich ironisch. Sklaverei, alles in allem, wird von der Bibel befürwortet und nicht von ihr verdammt. Sie wird im Alten Testament sehr ausdrücklich befürwortet, wie Sie wissen. Paulus befürwortet sie im 1. Brief an Timotheus, im Epheser- und im Kolosser-Brief und Petrus -

WARREN: Nein, macht er nicht. Er lässt sie zu. Er befürwortet sie nicht.

HARRIS: Ok, er lässt sie zu. Ich behaupte, dass wir die Sklaverei nicht losgeworden sind, weil wir die Bibel genauer gelesen haben. Wir sind die Sklaverei trotz der tiefgreifenden Unzulänglichkeiten der Bibel losgeworden. Wir haben die Sklaverei hinter uns gelassen, weil uns klar wurde, dass es zutiefst bösartig war, menschliche Wesen wie landwirtschaftliche Geräte zu behandeln. So wie es das auch immer noch ist.

Rick, was ist Ihre Rolle als Priester, wenn es darum geht, die Reformation anderer Glaubenssysteme zu ermutigen?

WARREN: Alle großen Fragen des 21. Jahrhunderts werden religiöse Fragen sein. Wird der Islam sich friedlich modernisieren? Wie werden die Moslems auf das säkulare Europa einwirken, welches seinen Glauben an das Christentum verlor und nichts hat, um diesem Verlust an Religiösem entgegenzuwirken? Was wird den Marxismus in China ersetzen? Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es das Christentum sein. Wird Amerika zu seinen historischen Wurzeln zurückkehren - wird es eine dritte religiöse Erweckung geben? Oder wird Amerika den Weg Europas beschreiten?

HARRIS: Die Antworten, spirituell und ethisch, werden, meiner Ansicht nach, nicht konfessionsgebunden sein. Wir leiden derzeit unter der Konfrontation von Konfessionen, speziell mit dem Islam. Was immer wahr über uns sein mag, es ist nicht christlich. Und es ist nicht moslemisch. Physik ist nicht christlich, obwohl sie von Christen erfunden wurde. Algebra ist nicht moslemisch, obwohl sie von Moslems erfunden wurde. Wann immer wir der Wahrheit nahe kommen, überschreiten wir Kulturen, überschreiten wir unsere Erziehung. Die Entwicklung der Wissenschaft ist ein gutes Beispiel dafür, wo wir die Hoffnung bewahren können, unseren Stammesdünkel zu überwinden.

WARREN: Warum ist Atheismus nicht ansprechender, wenn er angeblich intellektuell am ehrlichsten ist?

HARRIS: Offen gesagt hat er eine furchtbare PR-Kampagne.

WARREN: [Lacht] Es liegt nicht an der Werbung.

HARRIS: Es kommt direkt nach Kinderschändern als etwas, das man nicht sein möchte. Aber dies ist ein Ergebnis, behaupte ich, von dem, was sich religiöse Menschen untereinander über den Atheismus erzählen.

Sam, eine Sache finde ich an Ihren Argumenten wirklich Besorgnis erregend: Ich werde, um "The End of Faith" zu zitieren, einer "wahnwitzigen Obszönität" beschuldigt, wenn ich meine Kinder zur Kirche mitnehme. Das ist ziemlich hart ausgedrückt und es fördert nicht gerade den Dialog.

HARRIS: Zu einem gewissen Teil rührt die Schärfe meiner Worte vom Bemühen, Aufmerksamkeit bei den Menschen zu erregen. Aber ich kann diese Schärfe ehrlich verteidigen, weil ich denke, dass unsere Lage so dringend ist. Ich bin erschrocken über das, was mir als Flaschenhals erscheint, den die Zivilisation gerade durchschreitet. Einerseits haben wir die Verbreitung der atemberaubenden Technologie des 21. Jahrhunderts, andererseits haben wir Aberglauben des 1. Jahrhunderts. Eine Zivilisation wird entweder halbwegs unbeschadet diesen Flaschenhals durchlaufen oder eben nicht. Und vielleicht klingt diese Furcht vollmundig, aber Zivilisationen enden. Schon häufig hat eine Generation die Zerstörung all dessen, was sie und ihre Vorfahren erbaut hatten, miterlebt. Was mich besonders an religiösem Denken erschreckt, ist die Erwartung bei vielen, dass, basierend auf Prophezeiungen, die Zivilisation zu einem Ende verdammt ist und dies Ende glorreich sein wird.

WARREN: Ich glaube, dass sich die Geschichte wegen der Wiederauferstehung in ein v. Chr. und ein n. Chr. aufteilt. Und die Wiederauferstehung ist nicht nur die Wiederauferstehung des Jesus Christus, sie ist die Hoffnung der Welt. Sie besagt, dass es in diesem Leben mehr gibt als nur das hier und jetzt. Das bedeutet nicht, dass ich mich weniger bemühe, es bedeutet, dass dieses Leben eine Prüfung ist, es ist ein Anvertrauen und es ist ein vorübergehender Auftrag. Wenn der Tod das Ende bedeutet, Peng, werde ich keine weitere Minute damit vergeuden, altruistisch zu sein.

HARRIS: Wie erklären Sie sich meinen Altruismus?

WARREN: Sie haben allgemeinen Respekt. Sogar in Menschen, die nicht an Gott glauben, gibt es einen Funken, den Gott in sie gebracht hat und der sagt: "Es muss mehr im Leben geben als nur Geld verdienen und sterben." Dieser Funke, glaube ich, entstammt nicht der Evolution.

Sam schrieb, dass ohne Tod der Einfluss einer glaubensbasierten Religion undenkbar wäre.

WARREN: Weil wir nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden, wurden wir geschaffen, um für immer zu bleiben. Das bedeutet, ich werde mehr Zeit auf jener Seite der Ewigkeit verbringen als auf dieser. Würde ich nicht an das Jüngste Geicht glauben, wenn ich glaubte, dass Hitler mit allem, was er tat, davon käme, wäre das ein Grund für tiefe Verzweiflung. Tatsächlich glaube ich daran, dass es ein Jüngstes Gericht geben wird. Gott ist nicht nur ein Gott der Liebe. Er ist ein Gott der Gerechtigkeit. Deshalb hat der Tod einen Sinn. Andererseits, selbst wenn es so etwas wie einen Himmel nicht gäbe, würde ich mich Christus anvertrauen, weil ich es als bedeutungsvolle, erfüllende und maßgebliche Art des Lebens erkannt habe.

HARRIS: Ist es fair von Gott gewesen, eine Welt zu erschaffen, die so unklare Zeugnisse seiner Existenz enthält? Wie kann es gerecht sein, ein System zu erschaffen, in dem Glaube der entscheidende Teil ist, anstatt ein guter Mensch zu sein? Wie kann es gerecht sein, eine Welt zu erschaffen, in der, durch den reinen Zufall der Geburt, jemand als Moslem aufwächst und damit durch eine falsche Religion verwirrt wird? Ich erkenne nicht, wie die Zukunft der Menschheit mit diesen konkurrierenden Konfessionen wohlbehütet sein könnte.

Rick, mal unverblümt: Ist Sams Seele, Ihrer Ansicht nach, gefährdet, weil er Jesus zurückgewiesen hat?

WARREN: Die politisch inkorrekte Antwort lautet "ja".

HARRIS: Ist das die ehrliche Antwort?

WARREN: Die Wahrheit ist, dass Religionen sich gegenseitig ausschließen. Wer sagt: "Ich glaube an alle", ist ein Schwachkopf, weil die Religionen einander geradeheraus widersprechen. Sie können nicht an Wiedergeburt und Himmel gleichzeitig glauben.

Sam, mal ebenfalls unverblümt: Hat Rick, Ihrer Ansicht nach, einen Großteil seines Lebens im Namen eines Evangeliums vergeudet, das Sie für einen Aberglauben aus dem 1. Jahrhundert halten?

HARRIS: Ich würde es nicht so krass ausdrücken, weil ich nicht so eine starre Ansicht habe, wie jemand sein Leben verbringen sollte, um es nicht zu vergeuden.

WARREN: Was ist Ihre politisch inkorrekte Antwort?

HARRIS: Ich glaube, Sie könnten Ihre Zeit und Aufmerksamkeit besser verwenden, als Ihr Leben um den Glauben herum zu organisieren, dass die Bibel das getreue Wort Gottes ist und es das beste Buch sei, das wir jemals über jedes wichtige Thema haben werden.

In der Sicht von Sam Harris, wie würde die ideale Welt aussehen?

HARRIS: Gerade jetzt müssen wir die Regeln ändern, nach denen wir über Gott, spirituelle Erfahrungen und ethische Werte sprechen. Und ich weise zurück, dass dem so ist. Sie können Ihre Spiritualität haben. Sie können sich in eine Höhle zurückziehen, meditieren und sich selbst verändern. Wir können dann darüber sprechen, weshalb das geschah und wie es sich wiederholen ließe. Wir könnten uns sogar wünschen, dass es, aus vollkommen rationalen Gründen, einen Sabbath, einen echten Sabbath, in diesem Lande gäbe. Wir sollten uns klar machen, dass eine Kraft darin liegt, die Geheimnisses des Universums zu erkunden, indem wir uns selbst ins Bewusstsein rufen, wie sehr wir die Menschen lieben, die uns am Nächsten sind und um wie vieles mehr wir die Menschen lieben könnten, die wir noch nicht getroffen haben. Es gibt nichts, an das wir wegen unzureichender Beweise glauben müssten, um über diese Möglichkeit zu reden.

WARREN: Sam, glauben Sie, dass menschliche Wesen eine Seele haben?

HARRIS: Es gibt viele Gründe, nicht an eine naive Auffassung einer Seele zu glauben, die irgendwie aus dem Gehirn beim Tod davon schwebt und irgendwo hintreibt. Aber ich weiß es nicht.

WARREN: Kann man Spiritualität ohne eine Seele haben?

HARRIS: Man kann sich eins mit dem Universum fühlen.

WARREN: Ok, Warum gehen Sie dann nicht einfach den nächsten Schritt? Gerade jetzt sprechen Sie nämlich in sehr irrationalen Worten.

HARRIS: Da ist nichts Irrationales dabei. In der Meditation kann man seine Augen schließen und das Gespür für seinen Körper verlieren, völlig. Viele Menschen ziehen daraus den metaphysischen Schluss: "Ich bin nur noch Geist und kann den Körper überwinden." Das ist nicht der einzige Schluss, den man aus dieser Erfahrung ziehen kann, und, meiner Meinung nach, nicht der beste.

WARREN: Sie sind spiritueller als Sie glauben. Sie wollen nur keinen Boss. Sie mögen keinen Gott, der Ihnen sagt, wo es lang geht.

HARRIS: Ich möchte keine Sicherheit vortäuschen, wo ich unsicher bin.

Rick, letzte Gedanken?

WARREN: Ich glaube sowohl an den Glauben wie an die Vernunft. Je mehr wir über Gott lernen, desto mehr verstehen wir, wir großartig dieses Universum ist. Ich erkenne darin keinen Gegensatz. Wenn ich auf die Geschichte blicke, stimme ich mit Sam nicht überein: Das Christentum hat bei weitem mehr Gutes als Schlechtes bewirkt. Altruismus rührt vom Wissen, dass es mehr als dieses Leben gibt, dass es einen höchsten Gott gibt, dass ich nicht Gott bin. Wir wetten beide. Er verwettet sein Leben, dass er Recht hat. Ich verwette mein Leben, dass Jesus kein Lügner war. Wenn wir sterben und er hat Recht, habe ich nichts verloren. Wenn ich Recht habe, hat er alles verloren. Ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.

siehe dazu auch "Die Pascalsche Wette"

Übersetzer: Volker Radek
Lektor: Andreas Müller
Quelle: Humanistischer Pressedienst www.hpd-online.de

Original: Newsweek http://www.msnbc.msn.com/id/17889148/site/newsweek, 9. April 2007

 

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