Die
Grundlagen der Aufklärung
(Rede von Gerhard Rampp, 27.05.2001)
Sie kennen sicher den Ausspruch „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ oder
auch dessen Abwandlung „Es ist alles schon einmal dagewesen“. In vielen Fällen
stimmt dies, aber nicht in allen, denn sonst hätte es keinen menschlichen
Fortschritt im Laufe der Jahrtausende gegeben.
Wenn wir nun gefragt werden, was denn die abendländische Zivilisation an Neuem
hervorgebracht habe, dann tun wir uns nicht leicht. Denn wir müssen zugeben, dass
die Chinesen oder Ägypter schon entwickelte Hochkulturen hatten, als unsere
Vorfahren noch auf Bäume kletterten, um rohe Eicheln zu essen. Vieles von dem
Wissen dieser Kulturen ist verlorengegangen oder musste später ein zweites Mal entdeckt werden. Gerade heute sind
viele Europäer von fernöstlichen Weisheiten beeindruckt. Oft sind wir uns auch
nicht bewusst, wie stark unsere
Kultur und Philosophie von den Griechen beeinflusst ist, die heute noch als die eigentlichen Begründer
der Demokratie gelten.
Dennoch brauchen auch wir uns nicht unserer kultureller und geistiger Tradition
zu schämen. Denn es gibt zumindest eine wichtige Epoche, die das menschliche
Denken zutiefst verändert und etwas hervorgebracht hat, was bis dahin weltweit
einmalig war und die gesamte heutige Welt prägt: Es ist die Epoche der Aufklärung,
die etwa von 1680 bis 1800 dauerte und deren Grundsätze auch die Basis bilden für
die heutige demokratische Gesellschaft. Dies möchte ich näher begründen.
Sie kennen bestimmt die Definition des Begriffs „Aufklärung“, die von dem
Philosophen Immanuel Kant stammt: „Aufklärung ist der Ausgang – heute würden
wir sagen: die Befreiung – des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Im weiteren erklärt Kant, was mit „Unmündigkeit“ gemeint ist, nämlich die
Unfähigkeit sich seines Verstandes zu bedienen, und warum diese Unfähigkeit
selbstverschuldet ist.
So treffend diese Definition ist – sie ist
übrigens erst 1783 erschienen, also zu einem Zeitpunkt, als die historische
Epoche der Aufklärung fast abgeschlossen war – so bleibt doch anzumerken,
dass Kant selbst nicht zu den Aufklärern zu rechnen ist. Er wurde streng
calvinistisch erzogen, nahm dann freigeistige Ideen an und wandelte sich in den
letzten 15 Jahren seines Lebens schließlich zu einem religiösen Pantheisten,
d.h. zu einem Menschen, der glaubte, dass Gott in allen Dingen des Universums
ist oder wirkt. Den Glauben an einen persönlichen Gott im biblischen Sinne
lehnte Kant jedoch ab.
Die meisten Philosophen der Aufklärung waren Franzosen, einige Engländer oder
Schotten. Der Anteil der deutschen Aufklärer wird meist unterschätzt.
Schon am Anfang der Aufklärung formulierte der Leipziger Gelehrte Thomasius,
der seine Vorlesungen an der Universität als erster auf deutsch statt auf
lateinisch hielt, das Grundproblem: Bevor wir die Menschen aufklären können, müssen
wir die wichtigsten Grundfragen vorab klären, nämlich: „Was ist wahr?“ und
„Wie gelangen wir zu wahren Erkenntnissen?“
Gerade in den Methoden der Erkenntnisfindung unterscheiden sich die Aufklärer
grundsätzlich von ihren Vorgängern. Bis dahin galt als wahr, was die alten
Autoritäten als wahr definiert hatten. Zu diesen unantastbaren Vorbildern zählten
griechische Philosophen (vor allem Plato und Aristoteles) sowie die christlichen
Kirchenväter und vor allem die Bibel, die „Heilige Schrift“. Gerade diese
bis dahin nicht in Zweifel gezogenen Glaubensaussagen sollten nunmehr überprüft
werden. Dafür entwickelten sich im Laufe der Aufklärung drei grundsätzliche
Methoden:
1. das wissenschaftliche Experiment; es
fand vor allem in den Naturwissenschaften Anwendung;
2.
die Logik, d.h. die konsequente Anwendung der vom Verstand
nachvollziehbaren Regeln und Folgerungen; dies betraf vor allem abstrakte
Bereiche wie die Mathematik oder die Philosophie;
Die dritte Erkenntnismethode umfasst die
Empirie, d.h. die praktische Erfahrung aufgrund genauer Beobachtung der
verschiedenen Lebenssituationen.
Ein wichtiges Beispiel für empirische Methodik ist die Schrift „Umgang mit
Menschen“ von Adolph Freiherr von Knigge, die keineswegs ein Benimm-Buch mit
Etikette-Regeln war, sondern eine Anleitung für psychologisch geschicktes
Verhalten in den verschiedensten Lebenslagen.
Die Anwendung dieser Methoden betraf vor allem drei Bereiche, die bis dahin aus
machtpolitischen Gründen tabu waren: die Politik, die Moral und die Religion.
In der Politik wurde der Absolutismus einhellig abgelehnt. Die meisten Früh-Aufklärer
sprachen sich für eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild aus,
in der Spätaufklärung gewannen
dann die Befürworter einer Demokratie nach heutigem Muster Auftrieb,
insbesondere nach der Postulierung der allgemeinen Menschenrechte.
Im Bereich der Moral wurde eine auf Dogmen beruhende Sittenlehre abgelehnt und
eine sogenannte „natürliche Moral“ befürwortet. Voltaire definierte z.B.
als Ziel das „größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ von
Menschen, was den Vorstellungen vieler zeitgenössischen Philosophen, den
sogenannten Utilitaristen, sehr nahe kommt. Auf jeden Fall musste eine solche
Moral vernunftgeleitet und rational nachvollziehbar sein.
Im weltanschaulichen Bereich forderten die Aufklärer keineswegs die Abschaffung
der Religion, wohl aber die Ersetzung der sogenannten „Offenbarungsreligion“
durch eine „religion naturelle“, also eine natürliche, vom Verstand
akzeptierbare Alternative zu den traditionellen Dogmen. Was mit
„Offenbarungsreligion“ gemeint war, führten die Aufklärer angesichts der
strengen Zensur nicht näher aus, die Beschreibung ihrer Erscheinungsformen lässt
aber keinen Zweifel, dass damit vor allem das traditionelle, streng
bibelorientierte Christentum gemeint war. Die aufklärerische „natürliche
Religion“ kommt den späteren freireligiösen Vorstellungen sehr nahe, wie sie
um 1848 entwickelt wurden. Vor allem spielt darin der Gedanke der Toleranz eine
wichtige Rolle. Das bekannteste Beispiel lieferte der größte deutsche Aufklärer
Gotthold Ephraim Lessing in seinem Drama „Nathan der Weise“. Sie kennen
vermutlich dessen Kernstück, die Ringparabel, die Nathan erzählt, nachdem er
vom Sultan gefragt wird, welche Religion die wahre sei, das Christentum, das
Judentum oder der Islam. Nathan vergleicht diese Buchreligionen mit drei Ringen
und lässt die Frage offen, legt dem Richter aber bemerkenswerte Aussagen in den
Mund: Nur das richtige Verhalten gegenüber anderen Menschen offenbare den
Vertreter der wahren Religion, und er schließt auch nicht aus, dass keine
der drei Religionen die wahre sei, indem er sagt: „Jeder liebt sich selber nur
am meisten? Oh, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle
drei nicht echt! Der echte Ring vermutlich ging verloren.“ (Vers 2022-2026)
Diese Textstelle beweist nicht, dass Lessing die drei Religionen ablehnt, aber
dass er die Möglichkeit, alle drei könnten falsch sein, nicht ausschließt. Er
lässt dem Leser oder Zuschauer also in Wirklichkeit nicht die Alternative
zwischen drei, sondern zwischen vier Möglichkeiten.
Sie können sich denken, dass den herrschenden Absolutisten sowie dem Klerus
derartige Aussagen zu Politik, Moral und Religion zutiefst zuwider waren. Die
Aufklärer wurden zensiert, verfolgt, verbannt, ihrer Stellen enthoben und sogar
ins Gefängnis geworfen. Ihre Gedanken haben sich dennoch durchgesetzt.
Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu
grotesk an, wenn heute Kirchenvertreter die Aufklärung für das Christentum
reklamieren, wie z.B. Prof. Hans Maier, über 10 Jahre Präsident des
Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und 16 Jahre bayerischer
Kultusminister. Zwar räumt auch er ein, dass sich die Kirche gegen die Aufklärung
gestellt habe, aber dem Geist des Christentums entspringe sie dennoch, weil dort
die Würde des Individuums anerkannt werde. Um die Stichhaltigkeit dieser
Behauptung zu prüfen, halten wir uns einmal vor Augen, welche Grundsätze die
Aufklärung vertreten hat. Sie lassen sich mit den Grundbegriffen „persönliche
Selbstbestimmung“, „Vernunftdenken“, „Toleranz“ und „Humanität“
erfassen, wozu in der Spätphase auch die Gleichheit im Sinne einer Gleichwertigkeit
aller Menschen hinzukam.
Entscheiden Sie selbst, ob solche rein
diesseitig begründeten Werte einer Offenbarungsreligion entsprechen oder gar
entspringen können. Zumindest bedürfen sie ihrer nicht. Toleranz kann nur üben,
wer nicht davon überzeugt ist, die für alle gültige Wahrheit zu
vertreten. Kann eine monotheistische Religion auf diesen Anspruch verzichten,
wenn doch ihr einziges Ziel ist, die Botschaft ihres personalen Gottes in die
Welt zu tragen und seine Befehle umzusetzen? Sie müsste dann schon ihre eigenen
Prinzipien verraten.
Wahr ist, dass sich die großen christlichen
Konfessionen in Europa mit der Aufklärung arrangiert haben, die
evangelische schon im 19. Jahrhundert, die katholische erst mit dem II.
Vatikanischen Konzil. Aber dies war eine Reaktion, eine Anpassung an nicht mehr
verhinderbare Entwicklungen. Dass die Aufklärung durch die christliche Lehre
erst erfunden worden sei, ist jedoch eine Behauptung, die den
historischen Ablauf genau umdreht. Wäre dem wirklich so, müsste man auch
fragen, warum das Christentum die Aufklärung nicht schon viel früher
hervorgebracht hat, wo es doch 1400 Jahre lang, nämlich zwischen 320 und 1720,
eine unumschränkte Monopolstellung im Abendland hatte. Ausgerechnet in
der Phase seines Niedergangs will es dann geschafft haben, wozu es zuvor
anderthalb Jahrtausende nicht imstande war?
Und schließlich sei daran erinnert, dass sich kein einziger unter den bekannten
Aufklärern als Christ bezeichnet hat. Pierre Bayle, Graf Montesquieu, Voltaire
und Hobbes waren Deisten, d.h. sie glaubten an einen persönlichen Gott, der die
Welt zwar erschaffen, sich dann aber zurückgezogen und sie dem Lauf der
Naturgesetze und dem menschlichen Willen überlassen habe. Als christlich kann
ein solcher Glaube nicht bezeichnet werden, denn weder Jesus noch die Bibel
spielen darin eine Rolle. Lessing und David Hume können als die einzigen
Agnostiker unter den Aufklärern gelten, Diderot, d’Alembert, Baron Holbach
und de la Mettrie waren mehr oder weniger eindeutig Atheisten. Erst recht galt
das für Naturwissenschaftler wie die Physiker Laplace und Lalande. Ersterer
soll Napoleon auf die Frage, ob er bei seinen Forschungen Gott begegnet sei,
geantwortet haben: „Sire, dieser Hypothese bedurfte ich nicht.“ Von Lalande
stammt der Satz „Man kann Gott nicht beweisen, aber die Welt ohne ihn erklären.“
Belassen wir es bei der Feststellung, dass die
Philosophen der Aufklärung allesamt rein innerweltlich argumentierten, sich als
Nichtchristen verstanden und Erkenntnismethoden anwandten, die von christlichen
Zeitgenossen eindeutig als Kampfansage gegen die Offenbarungsreligion verstanden
wurden. Daher kann die These vom Christentum als dem Urheber der Aufklärung bestenfalls
als Ergebnis einseitiger Betrachtungsweise gewertet werden: Weil das Christentum
in Mitteleuropa nach langen Mühen so umgedeutet wurde, dass es mit der
Gedankenführung der Aufklärung in Einklang gebracht werden konnte, schließen
nun Christen umgekehrt, die Aufklärung müsse eine Frucht des Christentums
sein, weil doch beide gut miteinander vereinbar seien.
Das Motiv für eine solche Umdeutung liegt auf
der Hand: Geben die Kirchen zu, dass sich die für die Moderne wichtigste Epoche
aus anderen als christlichen Quellen speist, gestehen sie auch ein, dass sie
nicht nötig sind für die Entwicklung einer aufgeklärten Gesellschaft. Gerade
darauf sind sie aber angewiesen, da sie als Glaubensgemeinschaft heute nur noch
von einer Minderheit ihrer eigenen Mitglieder ernst genommen werden.