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Der Kruzifix-Streit in Bayern

(Stoffsammlung für ein Referat im Ethikunterricht der 10. Klasse)

D. Michalke, 26.12.2002

 

1. Rechtliche Ausgangsposition

 

Als 1918 in Deutschland erstmals die Demokratie eingeführt wurde, gingen zahlreiche Rechte vom Obrigkeitsstaat an die Bürger der Republik über. Von nun an gab nicht mehr die Regierung vor, was diese zu denken und zu glauben hatten, sondern mit Einführung der Grundrechte wie Meinungs- und Glaubensfreiheit sollte die politische Willensbildung  vom Volke ausgehen. Erstmals wurden alle Weltanschauungen den beiden großen christlichen Religionen, der evangelischen und katholischen, ausdrücklich in der Verfassung der Weimarer Republik gleichgestellt. Ferner wurde auch das alte Bündnis von „Thron und Altar“, also das Machtbündnis zwischen Kaiser und Kirche, aufgehoben. Die Trennung von Staat und Kirche bekam erstmals Verfassungsrang. Die Politik hatte sich danach aus innerkirchlichen Angelegenheiten (z.B. der Besetzung von kirchlichen Ämtern) heraus zu halten. Umgekehrt durften die Kirchen von nun an nicht mehr staatliche Aufgaben wahrnehmen, denn die Weimarer Verfassung legte fest:

Es besteht keine Staatskirche. Art. 137 (1) WV

Das bedeutete insbesondere, dass das Bildungswesen von nun an der Kirche entzogen war und vom Staat geregelt wurde. 

Als nach der Überwindung des Nationalsozialismus 1945 wieder die Demokratie eingeführt wurde, wurden diese Grundrechte aus der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Die für die Trennung von Staat und Kirche wichtigsten Bestimmungen lauteten nun:

 

  • Art. 3(3) GG Gleichheit vor dem Gesetz
    Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

  • Art. 4(1) GG Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit
    Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

  • Art. 7(2) GG Schulwesen
    Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

  • Art. 140 GG Rechte der Religionsgemeinschaften
    besagt, dass die Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind. Davon sind besonders wichtig:

 

  • Art. 136(4) WV: 
    Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.

 

  • Art. 137(1) WV:
    Es besteht keine Staatskirche.

 

  • Art. 137(7) WV:
    Den Religionsgemeinschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.

 

  • Art. 138(1) WV:
    Die auf Gesetz, Vertrag, oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. (...)

Da die Landesverfassungen der Bundesländer manche Grundrechte anders lautend formulieren, stellt das Grundgesetz fest, dass es im Zweifelsfall über dem Landesrecht steht:

  • Art. 31 GG Vorrang des Bundesrechtes
    Bundesrecht bricht Landesrecht.

Nach diesen Gesetzen sollte man meinen, dass der Staat die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen in Deutschland gleich behandelt und keine von ihnen bevorzugt oder benachteiligt. Insbesondere hätten historisch gewachsene Privilegien der beiden Großkirchen, die in so genannten Konkordaten (= Vertrag zwischen Staat und Kirche) festgelegt sind, gemäß Art. 138(1) WV abgelöst werden müssen.

Aber wie sieht die Wirklichkeit in unserem Lande aus?

  • Gehaltszahlungen von Bischöfen
    Großzügig übernimmt der Staat die Gehaltszahlungen von Bischöfen (Besoldungsgruppe B VI, so viel wie ein Ministerialdirigent). Aber auch Domkapitulare und Dignitäre werden vom Staat bezahlt, obwohl sie rein innerkirchliche Aufgaben erfüllen. Hinzu kommt ein Heer von Geistlichen, die Seelsorge in Straf-, Erziehungs- und Krankenanstalten betreiben und ebenfalls ihr Gehalt vom Staat bekommen.

  • Zahlungen für Kirchengebäude
    Für den Neubau und die Erhaltung von Kirchengebäuden stellt allein der Bayerische Staat jedes Jahr zig-Millionen Euro zur Verfügung. Allein für den Bau des Priesterseminares in Augsburg gab er einen Baukostenzuschuss von 20 Mio. DM.

Aber besonders gravierend sind die kirchlichen Privilegien im Bildungswesen. Hier haben sich die Kirchen ein Missionierungsmonopol gesichert, das zudem noch vom Staat bezahlt wird:

  • Universitäten
    Ganz selbstverständlich werden christliche Theologie-Professoren (aber eben nur diese!) samt aller Kosten ihrer Lehrstühle vom Staat bezahlt, obwohl sie nur den kirchlichen Priester-Nachwuchs ausbilden.  Zusätzlich hat die katholische Kirche das Recht, so genannte Konkordats-Lehrstühle mit Professoren ihrer Wahl zu besetzen – wohlgemerkt in weltlichen Fächern! Nach einem Konkordat hat sie nämlich das Recht, an JEDER bayerischen Universität je einen Lehrstuhl für Philosophie, Gesellschaftswissenschaft und Pädagogik mit Personen eigener Wahl zu besetzen. Der Staat darf zahlen.

  • Schulen
    Kirchliche Volksschulen werden zu 100% vom Freistaat Bayern bezahlt. Andere Privatschulen wie die Waldorfschulen können davon nur träumen. Die Kirchen dürfen solche Schulen, wann immer  sie wollen, errichten. In Augsburg-Haunstetten ist es z.B. die Franz-von-Assisi-Schule.  Aber auch in staatlichen Schulen ist der kirchliche Einfluss enorm! Die Volksschulordnung macht es in ihrem § 13 der Schule zur Aufgabe, an der religiösen Erziehung der Kinder durch Schulgottesdienst, Schulandachten und Schulgebet mitzuwirken. Damit ist ausschließlich die CHRISTLICHE Erziehung gemeint. Für andere Religionen oder gar nichtreligiöse Weltanschauungen gilt dieser Erziehungsauftrag selbstverständlich nicht! Zusätzlich räumt der Bayerische Staat den beiden Großkirchen das Recht ein, weltliche Fächer bis hin zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht und Ethikunterricht christlich zu gestalten. Dieses beruht auf der Verwaltungsvorschrift vom 6.12. 1988, KWMBI 1989, 15. Dadurch haben die Kirchen bei der Aufstellung von Lehrplänen und der Auswahl von Lehrbüchern ein entscheidendes Wort mit zu reden.

Auffälligstes Zeichen dieser christlichen Ausrichtung unseres Schulwesens ist aber das Kruzifix,  das in jedem Klassenzimmer hängen soll.
 

2. Der Fall Seler

 Im Jahre 1991, nach jahrelangen vergeblichen Verhandlungen mit Schule und Behörden, klagte die Familie Seler aus dem Raum Regensburg erstmals gegen das Kruzifix in den Klassenzimmern ihrer Kinder. Die Eltern waren Anthroposophen, also Anhänger der Weltanschauung, die den Waldorfschulen zugrunde liegt. Sie bemängelten den verrohenden und die Psyche des Kindes belastenden Einfluss, den die Darstellung des gefolterten Jesus am Kreuze ausübt.  Ferner ging es ihnen dabei auch um den Grundsatz der Religionsfreiheit, zu der nicht nur die Trennung von Staat und Kirche, sondern auch die Trennung von Staat und Erziehung gehört.

 Für die Familie begann damit nicht nur ein 4 Jahre andauernder Rechtsstreit durch alle Gerichtsinstanzen – Verwaltungsgerichte wie auch Verfassungsgerichte. Sie bekam auch die volle Härte staatlicher Behörden zu spüren, die nicht gewillt waren, die Einschränkung kirchlicher Sonderrechte zuzulassen. So wurde mehrfach versucht, den Eltern das Sorgerecht für ihre drei Kinder zu entziehen. Die Behörden setzten gar eine Zwangseinweisung des Vaters in die Psychiatrie durch, die ihn zu einem 12-tägigen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt zwang. Auch handelte sich das Ehepaar im Laufe der Zeit über 20 Morddrohungen ein. Nachdem die bayerischen Landesgerichte alle Klagen abgewiesen hatten, wandten sich der Anwalt der Familie  Selers an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Es sollte entscheiden, ob Kreuze in Klassenzimmern staatlicher Schulen gegen das Grundgesetz verstießen. 

Am 16.5.1995 war es endlich so weit. Die Familie aus Bayern siegte vor Gericht. Das Bundesverfassungsgericht traf folgende Entscheidungen (Aktenzeichen 1 BvR 1087/91):

  1. Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.

  2. §13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschule in Bayern ist mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig.
    (Anmerkung: §13 Abs. 1 Satz lautet „In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen.“)

3. Die Zeit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes

Wer nun geglaubt hat, mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sei der Streit beendet, der sah sich getäuscht. Kirchen-Anhänger starteten eine Kampagne und versuchten, das Bundesverfassungsgericht unter Druck zu setzen. Manche Politiker in Bayern behaupteten gar, das Kreuz im Klassenzimmer sei gar kein religiöses Symbol, sondern nur Ausdruck der bayerischen Tradition. Daher könnte es auch nicht die Religionsfreiheit einschränken.  Dagegen verwahrten sich jedoch die Kirchenvertreter, die das Kreuz nicht zum „bloßen Wandschmuck“ degradiert sehen wollten. Einen wahrhaft „genialen“ Ausweg fand der Ministerpräsident Stoiber, der behauptete, während der normalen Unterrichtsstunden sei das Kreuz lediglich ein Ausdruck der bayerischen Tradition. Wenn dann aber der Religionsunterricht stattfindet (wenn also Konfessionslose in der Regel nicht anwesend sind) verwandle sich das Kreuz wieder in ein christliches Symbol. Die Kruzifix-Anhänger organisierten auch eine Demonstration in München gegen das Gerichtsurteil, zu der aus ganz Bayern Teilnehmer mit Bussen heran geschafft wurden. Dabei warteten sie klugerweise auf die Zeit des Oktoberfestes, was die Bereitschaft zur Teilnahme an dieser Veranstaltung erheblich steigerte.


Mittlerweile gingen die Sommerferien zu Ende. In Pfaffenhofen, Marktoberdorf, Bruckmühl und Nördlingen wurden Fälle bekannt, wo Eltern die Abnahme der Kreuze verlangten. Auch in Augsburg freute sich die atheistische Familie M. über  die neu gewonnene Rechtsstaatlichkeit und forderte den Rektor der Volksschule ihrer Tochter auf, die Kreuze wenigstens in ihren Klassenräumen abzuhängen. Jedoch passierte zunächst nichts dergleichen. Stattdessen verwiesen Schulleitung und Schulamt auf  eine Weisung des Kultusministeriums (vom  4.9.1995), nach der Kreuze vorerst nicht abzunehmen seien, weil ein neues Gesetz in Vorbereitung sei.

In dieser Volksschule fanden nun etliche Gespräche mit der Schulleitung, dem Schulamt und dem Elternbeirat statt. Unter den Eltern gab es teilweise Zustimmung, teilweise Ablehnung. Widerstand kam ausgerechnet von Eltern, die überhaupt nicht betroffen waren. Denn die Klassen waren nach Konfessionen getrennt und die Klasse der Tochter war zusammengesetzt aus lauter „sonstigen“ Schülern. Das waren solche, die nicht katholisch waren. Die Konfessionslosen waren darin, was eher selten ist, in der Mehrheit. Danach kamen die evangelischen Schüler, neuapostolische, die moslemischen, einige Zeugen Jehovas, eine russisch-orthodoxe sowie ein Anhänger des jüdischen Glaubens. Deren Eltern legten auf das Kreuz im Klassenzimmer keinen Werte und reagierten zustimmend bis gleichgültig.

  Mit dem Elternbeirat wurde ein Kompromiss ausgehandelt, nach dem  statt der Entfernung des Kreuzes alle in der Klasse vertretenen Weltanschauungen ihr Symbol aufhängen dürften. Aber hier zeigte sich, dass diese Symbole von den jeweils anderen Religionsanhängern zum Teil heftig abgelehnt wurden. Das Symbol der  atheistische Familie M. (ein Zitat des französischen Astronomen Lalande: Man kann Gott nicht beweisen, doch alles ohne ihn erklären.), fand wiederum bei einigen Anhängern von Religionen keinen Anklang.

Da die Kreuze nach Einreichen des Begehrens immer noch hängen blieben, reichte das Ehepaar M. einen Antrag beim Augsburger Verwaltungsgericht ein. Schon bevor es durch einstweilige Verfügung anordnete, die Kreuze abzuhängen, kam die Schulleitung den Eltern dann doch entgegen. 


An dem Tage, als dann die Kreuze abgenommen wurden, strömte eine Schar Reporter auf das Schulgelände und brachte durch Interviews und Filmaufnahmen den Betrieb ziemlich durcheinander. Der Hausmeister der Schule musste extra für die Presse das Kreuz aufhängen und noch einmal abnehmen, bis auch der letzte der Reporter die Bilder „im Kasten“ hatte.

Zum Jahresende erließ nun der Bayerische Landtag das bereits angekündigte Gesetz. Die CSU machte sich einen Nebensatz des Karlsruher Verfassungsurteils zunutze, nachdem besonders der „unausweichliche Anblick“ des Kreuzes getadelt wurde. Dieser wurde zu einem Hintertürchen ausgebaut, durch das das Verfassungsurteil ausgehebelt wurde. Das neue Gesetz (Art. 7 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen) legte nämlich als Ausweichmöglichkeit eine Widerspruchsklausel fest: 

Art. 7 Abs. 3 BayEUG:
Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns ist in jedem Klassenraum ein Kreuz  anzubringen. (...) Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und nachvollziehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Schüler widersprochen, versucht der Schulleiter eine gütliche Einigung.  Gelingt eine Einigung nicht, hat er für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Schülers achtet und die religiösen und weltanschaulichen  Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen  zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit soweit möglich zu berücksichtigen.

 Danach mussten sich nun die Kruzifix-Gegner nicht nur gegenüber dem Schulleiter offenbaren, sondern auch von ihm die Ernsthaftigkeit und Nachvollziehbarkeit der Gründe prüfen lassen. Obwohl das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit (Art. 4(1) GG, siehe oben) gerade als Minderheitenschutz gedacht war, sollte der Schulleiter sogar den Willen der Mehrheit berücksichtigen. Letztlich blieb es in seinem Ermessen, ob ein Kreuz abgehängt wird oder nicht.

Da in der Klasse der Familie M. das Kreuz nun aber abgehängt war, sah das Verwaltungsgericht keinen weiteren Schutzbedarf und lehnte die Klage letztlich ab. Natürlich war die Situation aus Sicht der Kläger unbefriedigend, wäre doch von nun an bei jedem Schulwechsel eine Gewissensprüfung und erneute Streitigkeiten vorprogrammiert.

Inzwischen sammelte sich jedoch Widerstand gegen das neue Gesetz  Art. 7 Abs. 3 BayEUG. Die SPD im Landtag hatte schon versucht, eine gemäßigte Fassung durchzubringen, wurde jedoch von der CSU-Mehrheit überstimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollte sich damit jedoch nicht abfinden. Das neue Gesetz fordere die Schulleiter eindeutig zum Verfassungsbruch auf, sagte die Sprecherin der Grünen Petra Münzel (taz vom 27.20.1995 S. 2). 10 ihrer 11 Landtagsabgeordneten entschlossen sich, beim Bayerischen Verfassungsgericht eine Normenkontrollklage durchzuführen. Mit dieser Klage musste das Gericht prüfen, ob das neue Gesetz Art. 7 Abs. 3 BayEUG mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist.  Dieser Klage schloss sich der BFG Bayern, die größte Vereinigung konfessionsfreier Bürger in Bayern, an. Auch das Ehepaar M. aus Augsburg  entschloss sich zu dieser Klage. Sie wurde dabei durch ein kostenloses Gutachten unterstützt von dem Augsburger Professor für Verwaltungsrecht Dr. Ludwig Renk. Dieser ist selbst bekennender Katholik, sah aber im Verhalten der Bayerischen Regierung im Kruzifix-Streit einen Verfall demokratischer Sitten. Weitere Unterstützung kam vom Verwaltungsrichter Dr. C., der die Rolle des Anwaltes der M. übernahm.  Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieses Falles unterstützen auch Konfessionslosenverbände mit Rat und  finanzieller Beteiligung diesen Rechtsstreit.

Die Erfolgsaussichten waren jedoch denkbar gering. Denn die Richter des Bayerischen Verfassungsgerichtes werden durch einfache Mehrheit des Landtages gewählt. Da die CSU aber die Mehrheit hatte, waren alle Verfassungsrichter von ihr allein bestimmt worden. (In anderen Bundesländern müssen die Verfassungsrichter von der absoluten Mehrheit des Landtages gewählt werden. Über die verfügt aber keine Partei allein; deshalb müssen sie sich auf gemeinsame Richter einigen.).


Die Voreingenommenheit des Gerichtes sahen die Kläger besonders durch die Person des Verfassungsrichters Briesmann bestätigt. Briesmann war der Vorsitzende des Zentralrates der Katholiken in Bayern und hatte damit das höchste Amt in der katholischen Kirche, dass ein Nicht-Theologe haben kann. In Gerichtsprozessen um Abtreibungsfragen erwies er sich wiederholt als klerikal-konservativer Hardliner. Folglich sah das Ehepaar M. bei Briesmann die „Befangenheit“ (also die Gefahr des parteiischen Verhaltens) gegeben und beantragte dessen Ablösung. Normalerweise droht einem Richter bereits die Ablehnung wegen Befangenheit, wenn er einen Prozessbeteiligten privat auch nur trifft. In diesem besonders krassen Fall konnte das höchste bayerische Gericht jedoch keine Befangenheit erkennen. Immerhin stieß diese Entscheidung sogar auf christlicher Seite auf Unverständnis.

Wie erwartet wies das Bayerische Verfassungsgericht diese Normenkontrollklage ab. In der Begründung hieß es sinngemäß, es könne der Gleichheitsgrundsatz nur auf Gleiches angewandt werden. Wegen der langen christlichen Tradition seien andere Weltanschauungen mit dem Christentum jedoch nicht vergleichbar. Deshalb sei seine Bevorzugung im beanstandeten Gesetz gerechtfertigt. Mit diesem Winkelzug könnte man natürlich den Gleichheitsgrundsatz vollständig abschaffen. Denn was ist schon gleich? Männer und Frauen, Arme und Reiche, Junge und Alte, Ausländer und Deutsche, Schwarze und Weiße? Zu recht kommentierte Dr. C., der Anwalt der M.s, das Urteil:


Ohne Gleichheit kann es keine Gerechtigkeit geben und umgekehrt.

Die Klage wurde darauf hin noch einmal dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorgelegt. Dieses nahm jedoch die Klage nicht an mit der überraschenden Begründung, es hätte ja bereits in dieser Angelegenheit entschieden. Hat das höchste Gericht der Bundesrepublik Deutschland hier „gekniffen“? Dieser Vorfall spricht Bände über die Machtverhältnisse in unserem Staat!

 3. Aufstand in Bruckmühl

Parallel dazu klagte die atheistische Familie O. ebenfalls gegen das Kruzifix im Klassenzimmer ihrer Tochter. Dass ein solcher Schritt in einer oberbayerischen Kleinstadt ein Spießrutenlauf werden würde, sollte bald klar werden. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Kruzifix-Befürworter des Ortes errichteten in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Haustür der O.s ein übergroßes Holzkreuz. Als dann auf gerichtliche Anordnung das Kruzifix im Klassenzimmer entfernt wurde, drangen Unbekannte nachts in das Schulgebäude ein und dübelten ein Kreuz mit Schwerlastdübeln wieder an. Es versteht sich von selbst, dass Herr O. sein Computergeschäft, das er dort betrieb, bald schließen musste und fortan im fernen aber sichereren München als Angestellter arbeitete. Und doch sollte die Familie O. den größten Erfolg im Kruzifix-Streit erkämpfen. Sie wandten sich nämlich nicht an die Verfassungsgerichte, sondern klagten durch alle Instanzen der Verwaltungsgerichte gegen das Gesetz  Art. 7 Abs. 3 BayEUG. Das oberste dieser Gerichte, das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, entschied dann am 21. April 1999 (Aktenzeichen 6 C18.98) immerhin teilweise im Sinne des Klägers. Zwar wurde das Gesetz  Art. 7 Abs. 3 BayEUG nicht grundsätzlich für ungültig erklärt. Aber das Gericht legte folgende Ausführungsbestimmungen fest:

  1. Keine Gewissensprüfung
    Der Schulleiter darf keine Prüfung der Gründe durchführen. Die Äußerung des Wunsches, das Kreuz abzuhängen, genügt. Eine weltanschauliche Offenbarung ist nicht nötig.

  2. Wahrung der Anonymität
    Der Schulleiter muss die Anonymität des Antragstellers wahren, darf seinen Namen also nicht weitergeben.

Mit dieser Entscheidung ist zwar nicht die weltanschauliche Neutralität des Staates wieder hergestellt. Jedoch können Eltern und Schüler nun gefahrlos die Beeinflussung durch das Kreuz unterbinden.

5. Die Stellung von Lehrern im Kruzifix-Streit

 Eine besondere Stellung im Kruzifix-Streit nehmen die Lehrer ein. Schon 1996 klagte ein Nördlinger Berufsschullehrer dagegen, unter dem Kreuz unterrichten zu müssen. Er verlor jedoch den Prozess. Als Beamter müsse er die Anordnung hinnehmen, Klassenräume mit Kreuzen zu versehen, urteilte das Gericht. Es berief sich dabei auf die Bayerische Verfassung, die „Ehrfurcht vor Gott“ als Erziehungsziel ausweist. Lehrer seien verpflichtet, diesen Auftrag auszuführen. Dabei müssten ihre persönlichen Glaubensbelange zurückstehen hinter den vorrangigen Interessen des Staates als Dienstherr.

Ein anderer Lehrer, der Volksschullehrer Dr. R. aus Pfaffenhofen im schwäbischen Landkreis Neu-Ulm,  mochte nicht glauben, dass Lehrer in Schulen auf Grundrechte verzichten müssen. Der Lehrer, der im Kruzifix ein Symbol der Gewalt sieht, will, dass niemand ein „offensichtlich parteiliches Symbol den Andersdenkenden überstülpen darf“ und ging seinerseits vor Gericht. Dieser Schritt rief nun besonders heftige Reaktionen von regierenden bayerischen Politikern hervor, die eigentlich zur unparteilichen Fürsorge gegenüber ihren Beschäftigten verpflichtet sind. Innenminister Günther Beckstein sah R. an der „Grenze zur Psychopathologie“. Kultusministerin Monika Hohlmeier legte R. ein Ausscheiden aus dem Schuldienst nahe. Thomas Goppel, als Generalsekretär der CSU zuständig fürs Grobe, machte gar eine Verschwörung aus. Er sprach von einer „unsäglichen Kampagne gegen das Kreuz“ und vom „Gesinnungsterror dieser selbsternannten Weltverbesserer“.  Erstaunlicherweise war es dieses Mal ein bayerisches Gericht, das den Kruzifix-Gegnern Recht gab. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof  entschied im Jahre 2001 zu Gunsten von Dr. R. Er durfte die Kreuze in seinen Klassen abhängen. Lehrer haben somit wieder volle Grundrechte während ihrer Berufsausübung. 

6. Heutige Situation

 Heute sorgt der Streit um das Schulkreuz kaum noch für Schlagzeilen. Begehren von Eltern oder Schülern auf Entfernung des Kreuzes wird meistens ohne viel Aufhebens nachgekommen – wohl auch, um keine Nachahmer zu ermutigen. Ein Vorfall sorgte in den letzten Wochen aber dennoch für Aufsehen. Er ereignete sich in Viechtach, einem 9.000-Einwohner-Ort in Niederbayern.

 Erst wollte nur ein Vater Jesus aus der Klasse verbannen.  Dann stimmte aber die ganze Klasse ab - und machte Niederbayern ratlos.  Für diese  „Revolution“ waren 24 Schüler der 11b des Dominicus-von-Linprun-Gymnasiums verantwortlich. Elf  Schüler stimmten zum Schrecken aufgeregter Katholiken gegen das Kreuz im Klassenzimmer. Nur zehn votierten dafür, drei Pennäler enthielten sich. Das Kreuz musste abgehängt werden, auch in den Fachräumen musste es verschwinden, sobald die 11b in Sicht ist. Zuvor hatten es die Christen des Ortes nur mit Oberstudienrat L. zu tun, der für seine beiden Söhne verlangte: Das Kreuz muss weg. Die Viechtacher geißelten daraufhin, L. gehe mit Penetranz gegen das Symbol christlichen Glaubens vor. Er zwinge der Mehrheit seinen Willen auf. Besonders empörte, dass L. selbst Lehrer ist. Eltern wurde geraten, beim Kultusministerium im fernen München darauf zu dringen, L.s Stundenzahl zu reduzieren. Aber kann man nicht, so der letzte Rettungsversuch im Ort, übers Kreuz abstimmen? Der Rektor des Gymnasiums sagte Nein - aber L. sagte Ja. Da begann das Viechtacher Unglück erst richtig. Denn die Schüler, 14 katholisch, je fünf evangelisch oder konfessionslos, sagten trotzdem Nein zum Kreuz.

  Wenn die Konfessionslosen auch im Kruzifix-Streit einige Erfolge erringen konnten, so darf nicht übersehen werden, dass es sich beim Kreuz nur um die Spitze des Eisberges handelt. Es ist noch nicht einmal der wichtigste Schritt auf dem Wege zu einem weltanschaulich neutralen Staat. Im deutschen Bildungssystem ist in allen Bundesländern der Einfluss der Kirchen sehr stark. Aber ein neutrales Bildungssystem, das keiner Weltanschauung ein Missionierungsrecht oder gar -monopol einräumt, ist eine unverzichtbare Säule unserer Demokratie. Erst dann können die verschiedenen Weltanschauungen nach fairen Regeln pluralistisch miteinander konkurrieren, so dass die Qualitäten der Argumente und nicht geschichtlich gewachsene Privilegien den Ausschlag geben. Nur dann kann der Staat angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft zur „Heimstatt aller Bürger“ werden.


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