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ISSN 0040-5655.

THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE

Vierteljahresschrift

6O. Jahrgang Heft 3 1985

 

ThPh 60 (1985) 400-409

 

Unlösbarkeit des Theodizee-Problems .

von Norbert Hoerster.

 

Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag. Sein Ziel ist es nicht, in historischer Absicht über klassische Positionen zu informieren, sondern in einführender systematischer Absicht die wichtigsten Sachargumente kritisch zu erörtern. - Einige zentrale philosophische und theologische Texte zu der Problematik enthält N. Hoerster (Hrsg.), Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie, München 1979, Neuausgabe Stuttgart 1985, Kap. 3. Eine ausführliche moderne Pro-Stellungnahme (im Sinne einer christlichen Sichtweise) bietet J. Splett, Gotteserfahrung im Denken, Freiburg/München 1985, Kap. 9; eine ausführliche moderne Contra-Stellungnahme J. L. Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1985, Kap. 9. Historisch umfassende Information findet man in F. Billicsich, Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes 1, Wien 1955, II, Wien 1952, III, Wien 1959..

Das Wort ,,Theodizee" kommt aus dem Griechischen und bedeutet ,,Rechtfertigung Gottes". Gemeint ist mit dem sogenannten ,,Theodizee-Problem" in der philosophischen und theologischen Diskussion somit das Problem der Rechtfertigung Gottes, genauer gesagt: das Problem der Lehre von der Güte Gottes angesichts der Übel in einer von Gott abhängigen Welt. Schon aus dieser knappen Begriffserläuterung geht hervor, dass das Theodizee-Problem nicht unter allen Umständen und für jedermann, sondern nur auf dem Hintergrund eines ganz bestimmten Weltbildes tatsächlich ein Problem darstellt. Dieses Weltbild ist durch die folgenden Überzeugungen - Überzeugungen, die insbesondere für das Christentum charakteristisch sind - gekennzeichnet:

 

1. Es gibt einen Gott, d.h. ein intelligentes, personales Wesen, das die Welt erschaffen hat und erhält.

2. Dieser Gott ist allmächtig und allwissend, d.h. er besitzt ein Maximum an Macht und Wissen.

3. Dieser Gott ist allgütig, d.h. er besitzt ein Maximum an Güte.

4. Es gibt in der Welt, so wie wir sie aus der Erfahrung kennen, Übel.

Damit diese vier Überzeugungen oder Thesen, zusammengenommen, tatsächlich zu einem Problem führen, muss, wenn man genau sein will, sogar noch eine fünfte Thesehinzukommen, nämlich die These, dass ,.gut" und ,,schlecht" oder ,,gut" und übel" in der Weise einander entgegengesetzt sind, dass etwas, das selbst gut ist (hier also Gott!), etwas anderes, das schlecht oder übel ist, nach Möglichkeit beseitigen oder eliminieren wird. Diese These erscheint jedoch in ihrer logischen Stringenz als so selbstverständlich, dass ich im folgenden nicht mehr auf sie zurückkomme. Soweit ich sehe, wird sie in der Auseinandersetzung um das Theodizee-Problem von niemandem geleugnet. Worin besteht nun, näher erläutert, das Theodizee-Problem? Es besteht darin, dass es überaus fraglich erscheint, ob die vier Thesen oder Überzeugungen logisch miteinander vereinbar sind, ob also nicht derjenige, der sie alle akzeptiert, sich damit einem Widerspruch aussetzt. Ich bezeichne im folgenden der Einfachheit halber denjenigen, der einen solchen Widerspruch leugnet, der also von der Vereinbarkeit der vier Thesenüberzeugt ist, als ,,Gläubigen" und denjenigen, der einen solchen Widerspruch behauptet, als ,,Skeptiker". Die Position des Skeptikers kommt in folgenden Sätzen, die Epikur zugeschrieben werden, treffend zum Ausdruck:

,,Ist Gott willens, aber nicht fähig, Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allmächtig. Ist er fähig, aber nicht willens, Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allgütig. Ist er jedoch sowohl fähig als auch willens, Übel zu verhindern? Dann dürfte es in der Welt kein Übel geben!" .

Der Skeptiker behauptet also, dass der Gläubige, will er sich nicht einem Widerspruch aussetzen, jedenfalls eine der vier Thesen preisgeben muss. Und zwar kommt für eine Preisgabe offenbar nur eine der Thesen 1-3, kaum, aber These 4 in Betracht. Denn dass die Welt tatsächlich so etwas wie Übel enthält, wird niemand, ob Skeptiker oder Gläubiger, realistischerweise leugnen wollen. Das schließt zwar nicht aus, dass Skeptiker und Gläubige etwa in einzelnen Fällen unterschiedlicher Meinung sein können, ob etwas als Übel zu betrachten ist. Trotzdem gibt es in der Welt, so wie sie ist, genügend Phänomene, die von jedem bekannten Wertungsstandpunkt aus als etwas Negatives, also als Übel klassifiziert werden müssen.

Natürliches und moralisches Übel.

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Es hat sich im Laufe der Behandlung, die das Theodizee-Problem in der Geschichte der abendländischen Philosophie und Theologie erfahren hat, als zweckmäßig erwiesen, die Gesamtheit des Übels, das in der Welt vorhanden ist, in zwei große Klassen einzuteilen: die Klasse des ,,natürlichen" Übels und die Klasse des ,,moralischen" Übels. Diese Unterscheidung hat sich deshalb als zweckmäßig erwiesen, weil die beiden Arten von Übel im Rahmen des Theodizee-Problems, wie wir noch sehen werden, zu unterschiedlichen Fragestellungen führen. Der Unterschied zwischen den beiden Arten besteht in folgendem: Das moralische Übel ist definiert als Übel, das in unmoralisch-schuldhaftem Handeln menschlicher (oder menschenähnlicher) Wesen oder in den Folgen eines solchen Handelns besteht. Das moralische Übel umfasst also Phänomene wie Hass, Grausamkeit, Neid, Habgier sowie deren unheilvolle Auswirkungen. Das natürliche Übel ist demgegenüber definiert als Übel, das in keinem Zusammenhang mit unmoralischem menschlichen Handeln besteht. Es umfasst solche Phänomene wie unabwendbare Krankheiten, Seuchen, Naturkatastrophen.

Ich möchte den Unterschied zwischen moralischem und natürlichem Übel noch verdeutlichen anhand eines Beispiels aus der Belletristik und mit diesem Beispiel gleichzeitig in die Erörterung der Problematik selbst überleiten. Das Beispiel stammt aus dem 1933 erschienenen Roman ,,Miss Lonelyhearts" des Amerikaners Nathaniel West. Im Mittelpunkt des Romans steht ein junger Journalist, der als Briefkastenonkel – unter dem Pseudonym ,,Miss Lonelyhearts" - Leserbriefe für eine New Yorker Tageszeitung zu beantworten hat und der an der Fülle von Leid zerbricht, das in diesen, oft hilflos formulierten, Briefen zum Ausdruck kommt. Einer dieser Briefe lautet: ,,Liebe Miss Lonelyhearts, ich bin jetzt sechzehn Jahre alt und weiß nicht, was ich machen soll. Ich wäre froh, wenn Sie mir sagen könnten, was ich machen soll. Als ich noch klein war, da ging es noch, weil ich mich daran gewöhnte, dass die Nachbarskinder sich über mich lustig machten, aber jetzt möchte ich Freunde haben wie die anderen Mädchen auch und am Samstagabend ausgehen. Doch niemand will mit mir ausgehen, da ich von Geburt aus keine Nase habe - dabei tanze ich gut, bin gut gewachsen, und mein Vater kauft mir hübsche Kleider. Ich sitze den ganzen Tag da, schaue mich an und weine. Mitten im Gesicht habe ich ein großes Loch, das die Leute abschreckt, sogar mich selber; man kann es den Jungen nicht verdenken, wenn sie nicht mit mir ausgehen wollen. Meine Mutter hat mich gern, aber sie weint furchtbar, wenn sie mich anschaut. Womit habe ich nur dieses furchtbare Schicksal verdient? Selbst wenn ich manchmal schlecht war, dann jedenfalls nicht, bevor ich ein Jahr alt war; und ich bin so geboren. Ich habe meinen Vater gefragt, und er sagt, er weiß es auch nicht. Er meint, vielleicht habe ich in der anderen Welt etwas getan, ehe ich geboren wurde, oder vielleicht werde ich für seine Sünden bestraft. Das glaube ich aber nicht, er ist nämlich sehr nett. Soll ich Selbstmord begehen? Mit besten Grüßen, N. N."

Der hier geschilderte Fall einer angeborenen Missbildung ist offenbar ein typisches Beispiel eines natürlichen Übels. Interessant ist jedoch - und das zeigt dieses Beispiel gut -, dass nicht wenige Menschen offenbar instinktiv dazu neigen, ein natürliches Übel nicht als nackte Tatsache hinzunehmen, sondern nach irgendeinem menschlichen Verschulden für dieses Übel zu forschen, es also als ein nur scheinbar natürliches, in Wirklichkeit jedoch moralisches Übel zu erweisen. Doch ein solches Forschen - auch das zeigt das Beispiel - ist offenbar häufig fruchtlos: Es gibt in einem Fall wie dem vorliegenden keinerlei Anhaltspunkte für irgendein menschliches Verschulden im Zusammenhang mit dem Übel.

Zwar lässt sich die logische Möglichkeit nie ausschließen, dass ein solcher Zusammenhang in irgendeiner Weise besteht. Doch die Behauptung, dass dieser Zusammenhang tatsächlich besteht, hat in vielen konkreten Fällen (so auch im vorliegenden Fall) nicht mehr als den Charakter einer Adhoc-Annahme. Unter einer Ad hoc-Annahme verstehe ich eine Annahme, die allein zu dem Zweck gemacht wird, dass die durch sie gestützte These gerettet werden soll, eine Annahme also, die unabhängig von dieser Funktion als völlig willkürlich erscheinen muss. In unserem Beispiel: Für die Annahme, dass das junge Mädchen in einer vorgeburtlichen Form der Existenz ihre Missbildung verschuldet hat, gibt es - unabhängig davon, dass diese Annahme vielleicht die gewünschte Erklärung für die Missbildung liefern könnte - keinen guten Grund.

Die Unbrauchbarkeit von Ad hoc-Erklärungen.

Die Neigung, im Zusammenhang mit dem Theodizee-Problem mit Ad hoc-Erklärungen für das jeweilige Übel zu operieren, ist keine Spezialität philosophischer und theologischer Laien (wie des Vaters unseres jungen Mädchens). So gibt es in der christlichen Tradition beispielsweise eine Lehre, die das natürliche Übel in der Welt im wesentlichen auf das destruktive Wirken des Teufels zurückführt. Was ist von dieser Erklärung des natürlichen Übels zu halten? Zunächst einmal: Diese Erklärung- auch wenn sie zutrifft - löst natürlich das Theodizee-Problem noch nicht. Denn jetzt stellt sich sofort die weitere Frage: Wie kann ein allmächtiger und allwissender ebenso wie allgütiger Gott es zulassen, dass es 1. überhaupt einen Teufel gibt und dass 2. dieser Teufel sich derart unheilvoll in der Welt aufführen darf? Diesen Punkt übersehen natürlich auch die Vertreter dieser Lehre nicht. Sie nehmen jedoch mit Recht an, dass ihre These, sofern zutreffend, doch einen möglicherweise bedeutsamen Fortschritt in Richtung einer Lösung des Theodizee-Problems bedeuten würde: Der Teufel und seine Genossen, mit denen er die Welt durchstreift - also lauter (theologisch gesprochen) ,,gefallene Engel" - sind personale Wesen. Wenn nun das gesamte natürliche Übel auf das boshafte Wirken dieser personalen Wesen zurückginge, dann würde damit das Problem des natürlichen Übels letztlich zum Verschwinden kommen und nur das Problem des moralischen Übels übrigbleiben. Denn das moralische Übel ist ja, wie wir sahen, dadurch definiert, dass es im schuldhaften Handeln menschlicher oder menschenähnlicher, also personaler Wesen begründet liegt. Wenn das moralische Übel dann in einem weiteren Schritt als vereinbar mit den Thesen 1-3 erwiesen werden könnte, so wäre damit das gesamte Theodizee-Problem gelöst. Insofern ist also die These, die das natürliche Übel in der Welt auf das Wirken gefallener Engel zurückführt, für die Lösung des Theodizee-Problems durchaus von Bedeutung. Aber was ist von der Richtigkeit dieser These zu halten? Ich meine, diese These läuft (ganz ähnlich wie die Erklärungshypothese des Vaters des jungen Mädchens in unserem Beispiel) auf eine bloße Ad hoc-Annahme hinaus: Unsere Informationen über Lebensweise und Aktivitäten von gefallenen Engeln - ja man wird sagen dürfen: von Engeln überhaupt, ob gefallen oder nicht - sind so beschränkt, dass die These einfach nicht hinreichend begründet ist. Die Tatsache, dass sie geeignet ist, das Theodizee-Problem einer Lösung näher zu bringen, ist allein nicht ausreichend dafür, sie für wahr zuhalten.

Vielleicht wird der eine oder andere, der als Christ die Ausgangsthesen 1-3 akzeptiert, das soeben von mir erörterte Lösungsangebot für das Problem des natürlichen Übels von vornherein nicht sehr attraktiv finden. Der Teufel wird in der heutigen christlichen Theologie ja oft stark an den Rand gedrängt, ja bisweilen sogar in seiner personalen Existenz geleugnet. Doch auch wer im Einklang mit einer solchen Sichtweise dem Teufel nicht mehr all zuviel zutraut, kann aus der von mir geübten Kritik eine grundsätzliche, für jeden Lösungsversuch des Theodizee-Problems wichtige Lehreziehen.

Diese Lehre besteht in folgendem: Das Theodizee-Problem ist, wie ich eingangs sagte, ein Problem logischer Vereinbarkeit. Nun kann man aber den Thesen 1-4 nicht ohne weiteres ansehen, ob sie logisch miteinander vereinbar sind oder nicht - wenngleich der erste Anschein eher für die negative Position des Skeptikers sprechen dürfte. Wenn die logische Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit aus den Thesen 1-4 selbst ohne weiteres definitiv ersichtlich wäre, hätte das Theodizee-Problem nicht seit Jahrhunderten die Philosophen und Theologen immer wieder bewegt. Um zu einer Lösung oder auch nur zu einem ernsthaften Lösungsversuch des Problems zu gelangen, muss man offensichtlich (über die Sätze 1-4 hinaus) weitere Sätze in die Erörterung einführen, und zwar solche weiteren Sätze, die im Hinblick auf die zur Diskussion stehende Vereinbarkeit der Sätze 1-4 so etwas wie eine Brückenfunktion haben können, d.h. Sätze, mit deren Hilfe sich möglicherweise doch eine Vereinbarkeit der Sätze l-4, entgegen dem ersten Anschein, erweisen lässt. Nun ist es aber kein allzu großes Problem, sich irgendwelche Sätze auszudenken, welche die gesuchte Brückenfunktion erfüllen können. Ein Beispiel ist etwa die oben erörterte These, durch die zumindest das Problem des natürlichen Übels zum Verschwinden kommt. Und ein weiteres Beispiel wäre die insbesondere von Leibniz vertretene These, dass die Welt trotz aller partiellen Übel, die sie ohne Zweifel enthält, insgesamt gesehen eine gute, ja die bestmögliche Welt ist, weil sämtlich ein ihr vorfindlichen Übel zum Zwecke des Kontrastes geradezu notwendig sind, um das Gesamte der Welt als optimal erscheinen zu lassen - ähnlich wie ein riesiges Gemälde (man denke etwa an Picassos berühmtes Kriegsgemälde ,,Guernica") trotz seiner ästhetischen Gesamtqualität Details enthalten mag, die isoliert betrachtet als abstoßend und hässlich gelten müssen (ich werde auf diese These zum Zweck ihrer kritischen Erörterung noch zurückkommen).

Es steht außer Frage, so lautet mein grundsätzlicher Punkt, dass derartige Annahmen wie die genannten Thesen zwar prinzipiell geeignet sind, die Sätze 1-4 als miteinandervereinbar zu erweisen und damit das Theodizee-Problem im Sinne des Gläubigen zulösen. Tatsächlich können derartige Annahmen das Theodizee-Problem jedoch nur lösen, wenn sie nicht nur, logisch betrachtet, zur Lösung geeignet sind, sondern wenn sie darüber hinaus auch wahr bzw. hinreichend begründet sind. So kann die erste der beiden Thesen, wie ich ausführte, das Problem des natürlichen Übels nur dann lösen, wenn tatsächlich das natürliche Übel in der Welt auf das Wirken von Teufeln zurückgeht. Das heißt mit anderen Worten: Die jeweiligen, zur Überbrückung der Sätze 1-4 gemachten Annahmen müssen mehr sein als bloß Ad hoc-Annahmen in dem von mir erläuterten Sinne; sie müssen um ihrer Selbst willen - also unabhängig von ihrer Funktion im Rahmen einer Lösung des Theodizee-Problems - Akzeptanz verdienen!

Das Problem des natürlichen Übels.

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Nach diesem grundsätzlichen, für sämtliche Lösungsversuche des Theodizee-Problems wichtigen Punkt zurück zum natürlichen Übel. Ich werde die wichtigsten der mir bekannten, im Zusammenhang mit dem natürlichen Übel vorgebrachten Brückenannahmen oder Brückenthesen nunmehr der Reihe nach erörtern. Die erste Brückenthese lautet: Ein Übel ist nichts positiv Existentes, sondern lediglich das Fehlen, die Abwesenheit eines Gutes. Es besitzt deshalb zwar vordergründig betrachtet eine gewisse Realität, ist aber in einem eigentlichen, metaphysischen Sinn gar nicht vorhanden. Die Antwort auf dieses, u. a. von Augustinus und Thomas von Aquin vertretene Argument ist einfach: Selbst wenn man einmal davon absieht, dass man ebenso gut (wie etwa Epikur oder Schopenhauer es tun) gerade umgekehrt das Übel als das eigentlich Reale und das Gute lediglich als Abwesenheit von Übel ansehen könnte, so stellt sich doch unabweisbar die Frage: Warum hat Gott, wenn er selbst das maximal Gute verkörpert, es zugelassen, dass in der Welt soviel Gutes durch Abwesenheit auffällt und vom Menschen entbehrt werden muss?

Die zweite Brückenthese ist ernster zu nehmen. Sie lautet: Eine Welt, die in ihrem Verlauf bestimmten Regelmäßigkeiten, also Naturgesetzen folgt, ist besser als eine Welt, in der jedes konkrete Ereignis auf einen göttlichen Willensakt zurückginge. Wenn es aber Naturgesetze in der Welt gibt, dann ist es unvermeidlich, dass diese Naturgesetze sich in diesem oder jenem konkreten Fall auch einmal negativ für den Menschen auswirken. Ein Beispiel wäre etwa das Gravitationsgesetz: Es wirkt sich ohne Zweifel positiv auf die Möglichkeit des Menschen aus, sich rational planend in der Welt zu orientieren, kann jedoch hin und wieder - man denke etwa an Flutkatastrophen - auch einmal unliebsame Konsequenzen haben. Dieses Argument ist den folgenden beiden Einwänden ausgesetzt:

Erstens: Selbst wenn man zugesteht, dass eine Welt mit Naturgesetzen unter sonst gleichen Umständen besser ist als eine Welt ohne Naturgesetze (was zwar nicht selbstverständlich erscheint, hier aber nicht erörtert werden soll), so ist damit keineswegs schon gesagt, dass jene spezifischen Naturgesetze, die unsere tatsächlich existente Weltregieren, nicht besser sein könnten als sie es sind. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn der Gläubige zeigen könnte, dass selbst etwa jene Naturgesetze, die zu so manifesten Übeln wie Schwachsinn oder Krebs führen, so wie sie sind, notwendig sind, um andere, diese Übel überwiegende Güter herbeizuführen. Ein solcher Nachweis dürfte sich jedoch in diesen genannten ebenso wie in manchen anderen Fällen kaum erbringen lassen. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass ein allmächtiger Schöpfergott keinerlei Beschränkungen unterliegen kann, beliebige - also auch in ihren Auswirkungen optimale - Naturgesetze in Kraft zu setzen. Es ist nicht einzusehen, warum Gott nicht etwa jenes Naturgesetz, das zum Entstehen von Krebs führt, so hätte modifizieren können, dass die (möglicherweise vorhandenen) positiven Auswirkungen dieses Gesetzes von seinen krebserzeugenden Auswirkungen isoliert geblieben wären.

Zweitens: Selbst wenn man trotzdem einmal annimmt, dass die in unserer tatsächlichen Welt herrschenden Naturgesetze alles in allem optimal sind, so gäbe es doch für einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott durchaus einen Weg, die jedenfalls auch vorhandenen Nachteile dieser Naturgesetze erheblich zu mildern. Gott könnte nämlich problemlos zumindest immer dann durch ein korrigierendes Wunder in den Verlauf der Natur eingreifen, wenn das betreffende Ereignis uns Menschen als Zufall erscheinen muss, da wir seine natürlichen Ursachen nicht durchschauen können. Denn in allen diesen Fällen könnte unser so wichtiges Vertrauen in einen gesetzmäßigen Weltverlauf durch einen solchen Eingriff keinerlei Schaden nehmen. Die positiven Auswirkungen eines prinzipiell Gesetzen unterworfenen Naturverlaufs blieben also unberührt. David Hume schreibt in diesem Zusammenhang: ,,Eine einzige Welle, ein wenig höher als die anderen, hätte Cäsar und sein Geschick auf dem Grund des Meeresbegraben und damit einem beträchtlichen Teil der Menschheit die Freiheit zurückgeben können". Das ganze Gewicht dieses Einwands wird deutlich, wenn man in diesem Zitat an die Stelle von ,,Cäsar" etwa ,,Hitler" oder ,,Stalin" setzt. Es gibt kein Argument, das gegen einen derartigen gelegentlichen Eingriff Gottes in den Naturverlaufsprechen würde. Soweit zum Brückenprinzip der Unvermeidbarkeit von Übel aufgrund der Geltung allgemeiner Naturgesetze.

Die nächste Brückenthese, die ich anführe, spielt im religiösen Denken theologischer Laien eine wichtige Rolle. Sie ist ebenfalls relativ leicht zu entkräften. Die Übel dieser Welt, so heißt es, finden für die davon Betroffenen im Jenseits eine angemessene Kompensation.

Dazu ist folgendes zu sagen: Erstens darf man von einem idealen Gastgeber erwarten, dass er sich nicht erst bei der eigentlichen Mahlzeit, sondern schon bei der Vorspeise von der besten Seite zeigt. Und zweitens ist diese These wieder einmal ein typisches Beispiel einer Ad hoc-Annahme: Selbst wenn wir von der an sich schon rechtfraglichen These eines jenseitigen Lebens nach dem Tode ausgehen, so erscheint doch die zusätzliche These, dieses Jenseits werde wesentlich erfreulicher als das Diesseits beschaffen sein, als vollkommen willkürlich. Wir kennen nämlich aus der Erfahrung nichts als das Diesseits und können legitimer weise allein aus diesem Diesseits, wenn überhaupt, auf das Jenseits schließen. ,,Nehmen Sie an" so argumentiert Bertrand Russell in diesem Zusammenhang, ,,Sie bekommen eine Kiste Orangen und beim Öffnender Kiste stellen Sie fest, dass die ganze oberste Lage Orangen verdorben ist. Sie würden daraus sicher nicht den Schluss ziehen ,Die unteren Orangen müssen dafür gut sein, damit es sich ausgleicht'. Sie würden vielmehr sagen: ,Wahrscheinlich ist die ganze Kiste verdorben'. Genauso würde auch ein wissenschaftlich denkender Mensch das Universum beurteilen."' Wenn Russell hier schreibt ,,das Universum", so meint er die Gesamtheit der Realität - unter Einschluss einer möglicherweise jenseitigen Welt. Ich komme zur nächsten Brückenthese, die ich oben schon kurz erwähnt habe. Es ist die These, dass Gott zwar durchaus eine völlig übelfreie Welt hätte erschaffen können, dass eine solche Welt jedoch, insgesamt gesehen, schlechter wäre als die tatsächlich von ihm erschaffene Welt. Und zwar ist die tatsächlich erschaffene Welt deshalb besser, so lautet die These, weil die partiellen Übel, die diese Welt ohne Zweifel enthält, im Wege des Kontrastes und der Ergänzung zu ihrem optimalen Gesamtbild einen notwendigen Beitrag leisten. So behauptet Leibniz in diesem Zusammenhang etwa, selbst die christliche Glaubensannahme, dass der Großteil der Menschen dieser Erde sich am Ende der Tage im ewigen Höllenfeuer wiederfinden wird, sei kein Argument gegen diese Version einer Theodizee, da man davon ausgehen dürfe, dass in anderen Teilen des Universums (etwa auf anderen Planeten) die Zahl der Seligen die Zahl der Verdammten deutlich übersteigt. Die Verdammten dieser Erde haben also, so darf man sein Argument paraphrasieren, die Funktion eines einzigen dissonanten Akkords im Rahmen der gerade wegen dieses Akkords um so eindrucksvoller klingenden göttlichen Weltsymphonie. Dieses Argument ist folgenden Einwänden ausgesetzt.

Erstens ist die Leibnizsche Annahme über Selige und Verdammte außerhalb des Erdenbereichs sowie über ihr zahlenmäßiges Verhältnis ebenfalls eine typische Ad hoc-Annahme.

Zweitens bezieht die aus dieser Annahme abgeleitete Brückenthese ihre gesamte Plausibilität aus einer Analogie zum ästhetischen Bereich: Ein Gemälde oder eine Symphonie können in der Tat insgesamt optimal sein - trotz oder gerade auch wegen einiger (in Isolation betrachtet) hässlich aussehender bzw. klingender Partien. Ist diese Analogie aber nicht fehl am Platze, wenn es um die Allgüte Gottes geht - eine Allgüte, die doch zumindest auch als moralische Allgüte und nicht nur als ästhetischer Inbegriff überragender Künstlerqualitäten verstanden werden muss? Man betrachte zum Vergleich folgenden hypothetischen Fall: Der Direktor einer Schauspieltruppe lässt seine zahlreichen Kinder bei den Aufführungen mitwirken. Einige haben die Rollen von Personen zu übernehmen, die vom Leben nur verwöhnt werden, andere dagegen die Rollen von Personen, die andauernd gequält und misshandelt werden. Um das Stück besonders realistisch und glaubwürdig erscheinen zu lassen, ordnet der Direktor an, dass die diversen Wohltaten ebenso wie die diversen Torturen nicht nur gespielt, sondern tatsächlich vollzogen werden: Die ästhetische Wirkung derartiger Aufführungen mag optimal sein. Aber würde dieser Umstand einem unbefangenen Betrachter (oder gar den malträtierten Kindern selbst!) ausreichen können, den Direktor als einen guten Menschen zu bezeichnen? Verletzt er nicht in eklatanter Weise

1. das allgemeine Gebot der Menschlichkeit,

2. seine spezielle Fürsorgepflicht als Vater und

3. die Forderung, die angenehmen und die unangenehmen Aufgaben in seinem Unternehmen gerecht zu
verteilen?

Drittens schließlich: Wäre Leibniz konsequenterweise nicht zu der Auffassung genötigt, jede menschliche Anstrengung zur Beseitigung irgendwelcher Übel habe zu unterbleiben, da eine solche Beseitigung ja - ähnlich wie etwa die späteren ,,Glättungen" einer Bruckner-Symphonie - die grandiose Wucht und Schönheit des Ganzen verderben würde?

Die letzte Brückenthese zur Rechtfertigung des natürlichen Übels, die ich erörtern möchte, ist so geartet, dass sie zum Problem der Rechtfertigung des moralischen Übels, das ich im restlichen Teil dieses Aufsatzes behandeln werde, überleitet. Diese These besteht in der Behauptung, das natürliche Übel in der Welt sei ein notwendiges Mittel zu einem ganz bestimmten, nämlich moralischen Zweck und dieser Zweck sei derartig hochwertig, dass der negative Wert des Mittels, also des natürlichen Übels, dadurch mehr als aufgewogen wird. Und zwar liege dieser Zweck in der Ermöglichung und Ausbildung gewisser moralischer Tugenden - wie etwa Solidarität, Mitgefühl, Tapferkeit und Ausdauer. Wie ist diese These zu beurteilen?

Es ist zuzugeben, dass eine Welt gänzlich ohne natürliche Übel - also ohne solche Phänomene wie Krankheiten, Seuchen, Missbildungen, Naturkatastrophen - für die genannten moralischen Tugenden kein rechtes Betätigungsfeld hätte und dass diese Tugenden insofern ohne die betreffenden Übel gar nicht entstehen könnten. Man wird dem Gläubigen auch zugestehen dürfen, dass es sich bei diesen Tugenden tatsächlich um hochwertige Güter handelt, deren Vorhandensein in der Welt zur Qualität dieser Welt erheblich beiträgt. Auf diese Weise entgeht man dem von Theologen in diesem Zusammenhang nicht selten erhobenen Vorwurf, der Skeptiker halte offenbar eine Welt für ideal, in der lediglich so ,,niedere" Güter wie Lust, Vergnügen und Befriedigung einen Platz hätten. In Wahrheit braucht man als Skeptiker durchaus nicht ethischer Hedonist zu sein, um auch die vorliegende Brückenthese aus guten Gründen abzulehnen.

Der erste Grund: Es gibt offenbar ein beträchtliches Maß natürlichen Übels, das in gar keinem erkennbaren Zusammenhang zur möglichen Entstehung und Kultivierung irgendwelcher moralischer Tugenden steht. Auf eine Vielzahl von Krankheiten, Seuchen oder Naturkatastrophen trifft doch gleichzeitig zweierlei zu: erstens, dass sie die Betroffenen selbst entweder töten oder zu apathischem, ihre Person und somit ihr moralisches Vermögen auslöschenden Leiden verdammen und zweitens, dass sie den Mitmenschen der Betroffenen keinerlei Möglichkeit geben zu einem helfenden, Solidarität bekundenden Eingreifen.

Der zweite Grund: Die Welt bzw. die Menschen in ihr sind de facto so beschaffen, dass selbst jene natürlichen Übel, die ihrer Natur nach vom Menschen bewältigt werden können, keineswegs immer im positiven Sinne bewältigt werden und damit zur Ausbildung moralischer Tugenden führen. Wohl ebenso häufig werden diese Übel gerade nicht positiv bewältigt. Sie werden vielmehr zum Nährboden moralischer Untugenden oder Laster (wie Egoismus, Kleinmut, Hartherzigkeit, Grausamkeit) - also zum Nährboden von Eigenschaften, die der Gläubige, will er konsequent sein, entsprechend negativ bewerten muss, wie er die korrespondierenden Tugenden positiv bewertet. Will der Gläubige nun angesichts dieser Lage der Dinge an der zur Diskussion stehenden Brückenthese festhalten, so muss er diese These offensichtlich in einer wesentlichen Hinsicht modifizieren. Der Gläubige muss nunmehr nicht nur behaupten, dass die betreffenden natürlichen Übel und die aus ihnen gelegentlich resultierenden moralischen Tugenden zusammengenommen besser sind als ein Zustand, in dem beide Phänomene fehlen. (Das ist seine ursprüngliche Behauptung.) Er muss vielmehr darüber hinaus behaupten, dass die betreffenden natürlichen Übel und die aus ihnen gelegentlich resultierenden moralischen Tugenden und die aus ihnen gelegentlich resultierenden moralischen Laster zusammengenommen besser sind als ein Zustand, in dem alle drei Phänomene fehlen.

Man braucht nicht unbedingt einem Schopenhauerschen Pessimismus anzuhängen, um eine solche Behauptung als außerordentlich kühn oder zumindest - auch hier wiederum - als willkürlich im Sinne einer Ad hoc-Annahme bezeichnen zu dürfen. Wenn man davon ausgeht was nicht ganz unrealistisch sein dürfte-, dass die aus dem natürlichen Übel resultierenden Tugenden und die aus dem natürlichen Übel resultierenden Laster einander etwa die Waage halten, so folgt für eine Beurteilung der Gesamtsituation, dass das natürliche Übel selbst unter dem Strich als ausschlaggebendes Negativum übrigbleibt. Mit anderen Worten: Eine Welt ohne natürliches Übel wäre insoweit besser als die tatsächlich bestehende Welt.

Da mir weitere Brückenthesen, welche dazu dienen könnten, die Tatsache des natürlichen Übels mit der Vorstellung von der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte Gottes in Einklang zu bringen, nicht ersichtlich sind, komme ich zu dem Ergebnis, dass bereits unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Übels von den zu Beginn genannten theistischen Überzeugungen 1-3 mindestens eine rationalerweise aufgegeben werden sollte.

Das Problem des moralischen Übels.

Wie ist nun die Lage im Falle des moralischen Übels? Zunächst ein paar Worte zum Umfang dieses Übels. Offenbar gibt es Formen moralischen Übels nicht nur dort, wo der Mensch auf die Tatsache des natürlichen Übels inadäquat - also etwa mitleidlos oder gar schadenfroh - reagiert. Selbst wenn es keinerlei auf natürlichen Ursachen beruhendes Übel gäbe, würde es immer noch jenes moralische Übel geben, das in dem Verstoß des Menschen gegen die Forderungen der Sittlichkeit und seinen oft katastrophalen Folgen liegt. Man denke etwa an die Massenmorde der Nazis.

Derartige Fälle, in denen durch menschliches Handeln ähnlich schlimme Folgen wie durch natürliche Ereignisse (etwa Erdbeben) ausgelöst werden, werden gewöhnlich von Gläubigen wie Skeptikern gleicherweise als Verstöße gegen die Forderungen der Sittlichkeit und damit als moralische Übel qualifiziert. Doch für den Gläubigen ist die Liste der moralischen Übel in der Regel noch erheblich länger. Sie umfasst nämlich prinzipiell auch solche Verstöße gegen die Gebote Gottes, die keinerlei weitere Übel im Gefolge haben und dem Skeptiker daher eher als harmlos erscheinen. Man denke etwa an Adams Biss in die verbotene Frucht oder an gewisse Formen sexueller Betätigung. Auf welche Weise kann nun der Gläubige versuchen, die Tatsache des moralischen Übels mit den von ihm vertretenen Überzeugungen 1-3 in Einklang zu bringen? Der einzig mögliche Weg, der sich von den zur Rechtfertigung des natürlichen Übels eingeschlagenen, oben bereits abgelehnten Wegen nennenswert unterscheidet, verläuft über die menschliche Willensfreiheit.

Das einschlägige Argument lautet wie folgt: Moralische Übel - welcher Art im einzelnen auch immer - beruhen auf schuldhaften Verstößen des Menschen (oder anderer, menschenähnlicher Personen) gegen die Forderungen der Moral. Solche schuldhaften Verstöße gegen die Forderungen der Moral aber sind eine unvermeidliche Folge der Tatsache, dass der Mensch einen freien Willen besitzt. Nur Wesen ohne einen freien Willen könnten so beschaffen sein, dass sie stets und immer nur das Gute tun. Wesen dieser Art jedoch wären keine Menschen mehr, so wie wir sie kennen, sondern seelenlose Automaten. Eine Welt aber, die anstelle von sich frei entscheidenden Menschen von stets richtig handelnden Automaten bevölkert wäre, wäre alles in allem schlechter als die tatsächliche Welt. Dass Gott die Welt so geschaffen hat, wie sie ist, also einschließlich sich frei (mal für das Gute, mal für das Böse) entscheidender, personaler Wesen, ist also mit seiner überragenden Macht und Güte durchaus vereinbar. Dieses Argument ist den folgenden kritischen Einwänden ausgesetzt. Zunächst einmal: Selbst wenn man zugesteht, dass die Existenz freier, zum Bösen fähiger Menschen trotz der damit verbundenen moralischen Fehltritte dieser Menschen den Wert der Welt erhöht, hätte ein allmächtiger Gott die Welt dann nicht trotzdem so einrichten können, dass die Versuchungen des Menschen zum Bösen - in Intensität und Häufigkeit - geringer wären, als sie es tatsächlich sind? Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass ein solches Vorgehen Gottes der menschlichen Willensfreiheit Abbruch getan hätte. Wer dieses annimmt, also wer annimmt, dass Willensfreiheit nur dort vorliegt, wo gleichzeitig ein hohes Maß an Versuchung vorliegt, der muss etwa auch annehmen, dass ein Bürgermeister, der unter dem Gesichtspunkt der Reduzierung von Kriminalität einen Wohnslum saniert, dadurch die Willensfreiheit der Slumbewohner beeinträchtigt.

Dieser Einwand aber lässt sich noch radikalisieren: hätte Gott eigentlich die Welt nicht von vornherein so einrichten können, dass die Menschen zwar einen freien Willen haben, sich also für das Böse entscheiden können, dass sie sich de facto aber stets für das Gute entscheiden? Mit dieser Frage sind wir auf der fundamentalen Ebene des Problems des moralischen Übels angelangt.

Wenn Gott die Dinge doch offenbar so gestalten kann, dass etwa ,Herr Meier' - ohne seine Willensfreiheit einzubüßen - in einer konkreten Situation der Versuchung zum Diebstahl widersteht, warum kann ein allmächtiger Gott die Dinge dann nicht ebenso gut so gestalten - wiederum unter voller Wahrung der menschlichen Willensfreiheit -, dass nicht nur ,Herr Meier' in dieser Situation der Versuchung zum Diebstahl, sondern dass alle Menschen immer allen Versuchungen zum Bösen Widerstand leisten? Die meisten, christlichen Theologen setzen in der Tat in selbstverständlicher Weise diese Möglichkeit voraus, wenn sie den Engeln wie auch den Seligen im Himmel keineswegs deswegen die Willensfreiheit absprechen, weil sie annehmen, dass diese Personen de facto der Sünde nie mehr anheimfallen.

Man könnte versucht sein zu argumentieren, wenn der Mensch de facto nie sündige, dann könne das nur darauf beruhen, dass er von Gott so geschaffen sei, dass er eben nicht sündigen könne. Mit anderen Worten: Er sei durch den göttlichen Schöpfungsakt ein für allemal am Sündigen gehindert worden. Folglich sei er unter dieser Voraussetzung kein freies Wesen. Dieses Argument ist jedoch deshalb nicht schlüssig, weil es in Wahrheit keinerlei Widerspruch bedeutet zu sagen: Gott hat den Menschen zwar mit einem freien Willen, der sich für das Böse entscheiden kann, geschaffen; er hat jedoch gleichzeitig - aufgrund seiner Allmacht und seiner Allwissenheit - die Randbedingungen des menschlichen Lebens so arrangiert, dass de facto nie ein Mensch von seiner Möglichkeit zum Bösen Gebrauch macht. Man könnte sich doch beispielsweise auch sehr leicht eine Welt vorstellen, in der nie jemand Selbstmord begeht - ohne dass damit die freie Möglichkeit zum Selbstmord, wie wir sie ja alle täglich haben, aufgehoben würde.

Etwas anderes würde allenfalls unter jener Voraussetzung gelten, dass man den Begriff der Willensfreiheit so versteht, dass Willensfreiheit nicht nur mit strikter kausaler Determiniertheit unvereinbar wäre, sondern dass bereits jeder kausale Faktor, der sich in Anlage oder Umwelt des handelnden Menschen findet und der seine Entscheidung zum Guten oder zum Bösen beeinflusst, die Willensfreiheit ausschlösse. Denn unter dieser Voraussetzung bestünde für Gott in der Tat nicht die Möglichkeit, die Randbedingungen des menschlichen Lebens so festzulegen, dass die Menschen de facto nie sündigen, aber trotzdem ,,Willensfreiheit" besitzen. In diesem Sinn ,,frei" wären dann nur solche Handlungen, die sich unter kausaler Betrachtung vollkommen zufällig, d.h. ohne irgendwie mit dem Charakter oder den Lebensumständen des Handelnden verknüpft zu sein, ereignen.

Ein solcher Freiheitsbegriff jedoch hätte nicht nur mit dem, was wir gewöhnlich unter ,,Freiheit" verstehen, nur noch wenig zu tun. Es wäre auch für das apologetische Unterfangen des Gläubigen bei näherem Hinsehen denkbar ungeeignet. Denn welcher Wert ließe sich einer dem reinen Zufall überlassenen Freiheit - einer Freiheit, die mit dem individuellen Charakter des Handelnden nichts zu tun hat - plausiblerweise noch zuschreiben? Will man tatsächlich behaupten, dass eine derartige Freiheit jene Fülle von moralischem Übel, die sie im Gefolge hat, wertmäßig aufwiegen kann? .

Wenn aber doch - entgegen diesem Argument - ein gewisses Maß an faktischer Unmoral zur Realisierung der menschlichen Freiheit unerlässlich sein sollte: Warum hat Gott den Menschen und seine Umwelt dann nicht so geschaffen, dass die faktische Unmoral sich ausschließlich auf solche oben bezeichneten Handlungen beschränkt, die zwar gegen ein Gottesgebot verstoßen, die aber keine darüber hinausgehenden Übelbewirken? Wäre eine Welt, in welcher der ,,freie Wille" sich anstatt in Massenvernichtungslagern und Kriegen ausschließlich etwa in verbotenem Sexualverhalten gegen Gott auflehnt, nicht um einiges besser als die tatsächliche Welt? Es mag sein, dass sich in einer solchen fiktiven Welt weniger Menschen die ewige Höllenstrafe verdienen würden als in unserer tatsächlichen Welt. Doch wäre nicht auch diese Konsequenz eher zu begrüßen? .

Resümee.

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Nach alledem muss man bei nüchterner Betrachtung zu dem Ergebnis kommen, dass weder das natürliche noch das moralische Übel - jedenfalls in ihrem tatsächlichen Ausmaß - mit der gleichzeitigen Allmacht, Allwissenheit und Allgüte Gottes zu vereinbaren ist. Daraus folgt: Der Gläubige sollte rationalerweise wenigstens eine der Überzeugungen 1-3 preisgeben. Er wäre damit der Notwendigkeit einer Theodizee enthoben. Welche der drei Überzeugungen er preisgeben soll, kann im Kontext dieses Beitrages offen bleiben.

Abschließend sei auf zwei grundsätzliche Arten von Einwänden kurz eingegangen, die nicht selten gegen skeptische Angriffe auf eine Theodizee vorgebracht werden. Das Besondere, nämlich Grundsätzliche an diesen Einwänden ist, dass ihnen zufolge sämtliche ins einzelne gehenden Pro- und Contra-Argumente (wie die oben von mir erörterten) bereits im Ansatz verfehlt sind, da sie für das Unternehmen einer Theodizee gänzlich irrelevant sind. Leider steht die intellektuelle Bedeutung dieser Einwände im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Verbreitung. Deshalb dürfte die folgende, knappe Erörterung ausreichend sein.

Der erste grundsätzliche Einwand besagt, dass man die Allgüte Gottes nicht nachmenschlichen Kategorien beurteilen dürfe, da sie menschliches Erkennen übersteige. Die Antwort auf diesen Einwand ist einfach: Wenn jene Güte, die der Gläubige in maximalem Ausmaß Gott zuschreibt, nicht einmal jene bescheidene Form der Güte, die man sinnvollerweise einem Menschen zuschreiben kann, zu umfassen braucht, dann hat der Gläubige seine Überzeugung 3 offenbar falsch formuliert. Eine ,,Güte", die mit dem, was wir gewöhnlich, im menschlichen Bereich unter diesem Begriff verstehen, nicht in Zusammenhang steht, ist ein leeres Wort. Jener Gläubige aber, der seine Überzeugung 3 tatsächlich neu formuliert, hat im Grunde, der Sache nach seine (ursprüngliche) Überzeugung 3 preisgegeben - und damit dem Skeptiker Genüge getan. Das darf man allerdings nicht so verstehen, als handele es sich hier uni einen bloßen Streit um Worte. Wer nicht mehr im Normalsinn des Wortes an die ,,Allgüte" eines Schöpfergottes glaubt, besitzt gegenüber dem Gläubigen ein radikal abweichendes Weltbild, das, konsequent verfolgt, auch zu abweichenden Zukunftserwartungen und abweichendenpraktischen Lebenseinstellungen führt.

Der zweite grundsätzliche Einwand besagt, es gelte angesichts des Theodizee-Problems - wie auch im Falle der übrigen fundamentalen religiösen Wahrheiten - nicht, dem aufklärerischen Hochmut einer beschränkten menschlichen Vernunft nachzugeben, sondern schlicht zu glauben. Dabei kann diese Glaubensforderung sich sowohl unmittelbar auf die drei genannten theistischen Überzeugungen beziehen als auch auf eine der denkbaren, zu ihrer Stützung vorgebrachten Brückenthesen. In beiden Fällen nehmen die betreffenden Annahmen - als Annahmen eines rational unausgewiesenen Glaubens - den Charakter der von mir oben so genannten ,,Ad hoc-Annahmen" an. Kritisch lässt sich zu dieser Verteidigungsstrategie folgendes sagen. Ohne Zweifel kann man auch ohne rationale Gründe (im religiösen wie im außerreligiösen Bereich) vieles glauben - sofern man psychologisch entsprechend motiviert ist. Ob man allerdings so verfahren sollte, ist eine andere Frage. Und dass man so verfahren muss, ist einfach falsch.

Wer nicht bereit ist, sein Weltbild aus der Tradition seiner Gesellschaft unbesehen zu übernehmen, wird auf die Forderung nach rationaler Begründbarkeit seiner Überzeugungen gerade im weltanschaulichen Bereich nicht verzichten wollen. Ein Hiob, der, von der Macht Gottes überwältigt, diesem Gott schon deshalb auch Güte zuzusprechen und Verehrung entgegenzubringen bereit ist, kann einem Menschen, der intellektuelle Redlichkeit und Konsequenz schätzt, kein Vorbild sein. Dieser Mensch wird einem Gott, der sich auf solche Weise wie der biblische Gott gegenüber Hiob der Zustimmung seiner Geschöpfe versichert, vielmehr mit besonderer Skepsis und besonderer moralischer Reserve gegenüberstehen.

 

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